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Jihad-Rekrutierung im Zeitalter des Web 2.0
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Wie insbesondere am Beispiel des sogenannten „Islamischen Staats“ (IS) deutlich wird, haben sich die Rekrutierungsmethoden und –strategien jihadistischer Organisationen in den vergangenen Jahren erheblich verändert und fortentwickelt. Die Verbreitung von Propagandamaterial sowie die Rekrutierung von Kämpfern und Unterstützern erfolgt heute verstärkt über internetbasierte soziale Netzwerke und weniger über direkte persönliche Kontakte.
Während des Afghanistan-Kriegs der 1980er Jahre erfolgte die Rekrutierung von Jihadisten insbesondere in Saudi-Arabien und anderen arabischen (Golf-)Staaten vorwiegend in und im Umfeld von Moscheen. Neben Schriftmaterial wurden Audio- und Videokassetten zu Propaganda- und Rekrutierungszwecken eingesetzt. Mit dem Beginn der Strafverfolgung von Al Qaeda-Mitgliedern in den 1990er Jahren verlagerte die um den Afghanistan-Veteranen Osama bin Laden gegründete Terrororganisation ihre Rekrutierungsmaßnahmen sowohl in der islamischen als auch in der westlichen Welt auf den privaten Bereich. Mit Beginn des Internetzeitalters kreierten jihadistische Organisationen erste Webauftritte und führten ihre Binnenkommunikation zunehmend über nicht öffentlich zugängliche Internet-Chatrooms. Rekrutierung über interaktive Internetforen setzte sodann Mitte der 2000er Jahre ein. Al Qaeda setzte in seiner international ausgerichteten Rekrutierungsstrategie jedoch weiterhin stark auf die Etablierung von Vertrauensverhältnissen durch direkte persönliche Kontakte.
Zu einer Verlagerung der internationalen Rekrutierungsbemühungen jihadistischer Organisationen auf das Internet und vor allem in internetbasierte soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter kam es nach Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011. Insbesondere der IS, der aus dem früheren irakischen Al Qaeda-Ableger „Islamischer Staat in Irak“ (ISI) hervorging und die Etablierung eines die gesamte muslimische Welt umspannenden Kalifats beabsichtigt, bedient sich des Webs 2.0 bei der Verbreitung von Propaganda und der Rekrutierung von Kämpfern.
Propagandamaterial muss nicht mehr in einem zeitaufwändigen und gefährlichen Prozess potentiellen Interessenten zugeleitet werden, sondern wird nach dem Gießkannenprinzip online gestreut.
Mit moderner Technologie und erheblicher Medienexpertise erstellte Hochglanzpropagandavideos, welche martialisches Heldentum und militärische Erfolge in einem von Gott befohlenen Kampf gegen die Ungläubigen und das Übel in der Welt darstellen, haben das Potential weit mehr Menschen zu verführen und in die Arme des IS zu treiben, als es die theologischen Ausführungen Osama bin Ladens vermochten. Die Macht der Bilder in Verbindungen mit einem simplifizierten Weltbild und einem vermeintlich göttlichen Auftrag wirken auf manche Menschen inspirierend, die sich in einer Sinn- oder Identitätskrise befinden oder sich aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen Diskriminierung ausgesetzt sehen. Um den propagandistischen Erfolg zu maximieren, wird seitens des IS Propagandamaterial in verschiedenen Sprachen und zum Teil inhaltlich auf bestimmte Zielstaaten abgestimmt und durch eine personell stark aufgestellte und organisatorisch gut strukturierte Medienabteilung soweit wie möglich gestreut und repliziert.
Internetbasierte soziale Netzwerke erlauben jedoch mehr als das permanente Verbreiten von Propagandamaterial in Echtzeit. Unabhängig von ihrem geographischen Standort können sich Individuen, die Gefallen an der Propaganda finden, mit Gleichgesinnten austauschen. Dies begünstigt eine Beschleunigung und Intensivierung von Radikalisierungsprozessen. Des Weiteren bieten Twitter, Facebook oder YouTube Anwerbern die Möglichkeit in Kontakt mit potentiellen Rekruten zu treten. Neben den öffentlich einsehbaren Gruppengesprächen kommunizieren Anwerber auch in privaten, von Dritten zunächst nicht einsehbaren Gesprächen (private messages) über Websites wie Twitter und Facebook oder Smartphone-Anwendungen wie WhatsApp mit potentiellen Rekruten. Auf diesem Weg werden meist auch finanzielle und logistische Unterstützung für eine Ausreise in das vom IS kontrollierte Gebiet koordiniert.
Zahlreiche vereitelte und umgesetzte Terrortaten westlicher radikal-islamistischer Einzeltäter belegen, dass jihadistische Radikalisierung heute nicht mehr notwendigerweise des direkten physischen Kontakts zu radikal-islamistischen Individuen oder Organisationen bedarf. Bei der überwiegenden Mehrheit der durch den IS inspirierten, in westlichen Staaten umgesetzten oder vereitelten Terrorakte handelt es sich um logistisch einfach durchzuführende Amokszenarien. Im Gegensatz zu den Taten Al Qaedas – wie die Anschläge des 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten oder am 11. März 2004 in Madrid – lassen sich solche Taten von Einzeltätern ohne großes Knowhow, technische oder materielle Unterstützung planen und durchführen. Seit Herbst 2014 fordert der IS in seiner Onlinepropaganda gezielt und mit erheblichem Erfolg westliche Einzeltäter auf in ihren Heimatstaaten Terroranschläge durchzuführen.
Seit Herbst 2014 entfernen die Anbieter internetbasierter sozialer Netzwerke regelmäßig jihadistisches Propagandamaterial und sperren Nutzerkonten von entsprechenden Verbreitungsquellen. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass es trotz aller Bemühungen der Websitebetreiber und staatlicher Stellen lediglich gelingen wird die Verbreitung von jihadistischer Onlinepropaganda einzudämmen.
Dr. René Rieger