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Jihadistische Hymnen und Gedichte

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Durch das Erstarken der Miliz „Islamischer Staat“ (IS) und der Ausrufung ihres „Kalifats“ im Juni 2014 ist das Interesse am IS und generell an der Bewegung des Jihadismus stark gestiegen, wie sich an zahlreichen Publikationen (wissenschaftlicher und journalistischer Art) zur Thematik ablesen lässt. Diese jüngste Welle der Aufmerksamkeit hat auch Felder erfasst, die bislang eher als exotische Randgebiete der Forschung galten, wie etwa jihadistische Hymnen und Gedichte. Insbesondere seit der IS auch an dieser Front in die Offensive gegangen ist und zahlreiche eigene Lieder produziert – teilweise als „Soundtrack“ zu Videoveröffentlichungen verwendet – sind die „Naschid“ genannten Hymnen in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gerückt und es stellen sich daher drängender denn je Fragen nach ihrer historischen Herkunft, Funktion und Wirkung.

 

Eine lange Historie

Es war nicht der IS, der jihadistische Hymnen „erfand“ oder erstmals bewusst einsetzte. Vielmehr knüpft der IS an eine weit zurückreichende Tradition der jihadistischen Bewegung an.

Ursprünglich stammen „Naschids“ (pl. anaschid und unshuda1), also melodisch rezitierte religiöse arabische Poesie, aus dem Sufismus (islamische Mystik), der von Salafisten – dessen militante Form der Jihadismus ist – theologisch massiv abgelehnt wird. Diese Art der gesungenen Dichtung erlebte im Zuge des arabischen „Wiedererwachsens“ im 19. Jahrhundert (nahda) eine Renaissance. Insbesondere in Syrien und Ägypten setzte dann jedoch spätestens ab den 1930er (Ägypten) und 1940er Jahren (Syrien) die islamistische Welle ein, die ideologisch und strukturell zunächst von der Muslimbruderschaft (MB) und von ihr inspirierter Organisationen dominiert war. Die MB war in ihrer Islam-Auslegung eher pragmatisch orientiert und stellte daher auch Theater, Dichtung und Musik in den Dienst ihres „Rufens zum Islam“ (da´wa). Ebenso griffen weitaus radikalere, militante Islamisten zur Form des Liedes und des Gedichts, welches in der arabischen Welt ein hohes Ansehen genießt, um ihre Botschaft unters Volk zu bringen. In dieser Entwicklung, die in den späten 1970er Jahren voll ausgeprägt war, liegt der Ursprung der jihadistischen Naschids.

Der Krieg der „Mujahidin“ in Afghanistan gegen die kommunistische Regierung und die sowjetischen Truppen von 1979-1989 stellte, nach den Auseinandersetzungen zwischen Islamisten und Staat in diversen arabischen Staaten, dann einen weiteren Brunnen der Inspiration für Dichter mit islamistischer Gesinnung dar. Im Zuge des Krieges entstanden daher neue Gedichte und Lieder, so etwa auch das erste Album mit jihadistischen Trauerhymnen, welches den Titel „Die Karawanen der Märtyrer“ trug. In Palästina entdeckte die 1987 gegründete Hamas die Macht des Liedes, welches zuvor schon von säkularen Nationalisten verwendet wurde, für sich und es wurden vermehrt Hamas- und Jihad-verherrlichende Hymnen produziert. Ab den 1990er Jahren wurden Naschids dann vermehrt in jihadistischen Videoproduktionen eingesetzt. Den globalen „Durchbruch“ erreichten die bis dato hauptsächlich auf Kassette verbreiteten Lieder dann insbesondere durch das Aufkommen des Internets ab den späten 1990er Jahren und den Irak-Krieg ab 2003, in dessen Folge viele neue jihadistische Videos, Gedichte und Hymnen entstanden. Gegen Ende der 2000er Jahre wurden dann auch erstmals Naschids in europäischen Sprachen verfasst, auch auf Deutsch.

 

Funktion und Wirkung

Besonders von Personen, die über ihre Erlebnisse in einer jihadistischen Organisation berichten, liegen einige Hinweise darauf vor, dass Musik Radikalisierungsverläufe unterstützen oder begünstigen kann – was im Übrigen auch für andere Formen von Extremismus gilt (siehe auch Rechtsextremistische Musik und Linksextremistische Musik). Die tatsächliche Wirkung von Liedern mit militant-politischer Botschaft auf ein Individuum lässt sich nur schwer nachweisen. Doch können wir Aussagen über die intendierte Wirkung, also die Funktion der Lieder treffen. Noch recht harmlos klingt die Formulierung aus einer frühen Naschid-Sammlung aus den 1980er Jahren, in der die Lieder als „Mittel zur Mission“ beschrieben werden.

Aus diversen Äußerungen islamistischer Ideologen und Autoren wird jedoch auch deutlich, dass Naschids explizit als Mittel verstanden wurden und werden, um zur „Opferbereitschaft“ und zum Jihad anzustacheln, wobei als Zielgruppe oft die junge Generation benannt wird. Zugleich sollen die Lieder zu einer globalen Kultur und kollektiven Identität des Jihadismus beitragen.

Eine weitere wichtige Funktion ist die Trägerschaft für Traditionen, aus denen ein kollektives Gedächtnis und ein historisches Bewusstsein der Bewegung erwachsen. So berichtete etwa ein Sänger jihadistischer Naschids über seine Zeit in einem syrischen Gefängnis, dass er die Inhaftierung und den daraus resultierenden Kontakt mit anderen islamistischen Gefangenen nutzte, um sich Gedichte und Liedtexte aus verschiedenen Konflikten anzueignen, die er dann verinnerlichte, um die Tradition fortzutragen. Der Charakter von Liedern als Träger von Tradition wird auch daran deutlich, dass diese auch Jahre oder gar Jahrzehnte nach ihrem Entstehen immer wieder neu interpretiert und von der Bewegung verwendet werden, etwa in Videoproduktionen von Organisationen wie al-Qaida. Der IS bildet hier allerdings eine Ausnahme und bricht mit der Tradition, indem er ausschließlich auf eigene Kompositionen und nicht auf die Überlieferungskette der althergebrachten Lieder zurückgreift. Dies macht der IS in bewusster Abgrenzung zu al-Qaida und der „alten Garde“ der Jihadisten, woraus deutlich wird, dass der IS zwar an eine lang bestehende Tradition anknüpft, zugleich jedoch ein Stück weit mit dieser bricht, um sie in einem eigenen Rahmen neu zu interpretieren.

Es wäre jedoch falsch, all dies als ein Spezifikum der Jihadisten anzusehen. Vielmehr sind Musik, Ideologie und Kampf auch in anderen Kontexten eng miteinander verwoben. Beispiele hierfür sind diverse Agitprop-Lieder der kommunistischen Bewegung, faschistische Lieder in Deutschland oder Italien in den 1920er und 1930er Jahren oder auch Soldatenlieder regulärer Armeen. Jihadisten bedienen sich daher lediglich eines weithin verbreiteten Mittels zur Mobilisierung, gestalten dies aber kulturspezifisch aus, um größtmögliche Resonanzen – also Anknüpfungspunkte zwischen der Bewegung und dem kognitiven Rahmen der Gesellschaft, in der die Bewegung agiert – zu erzeugen. Weiterhin werden Naschids verwendet, weil sich eine islamische Legitimität auch dann noch konstruieren lässt, wenn man – wie Salafisten es tun – Musik eigentlich als unislamisch ablehnt (s. nächster Abschnitt).

 

Wahhabitische Ablehnung

Die „revolutionären“, „begeisternden“ oder auch „islamischen“ Naschids, wie die jihadistischen Lieder in den 1980er Jahren noch häufig von den Anhängern der Bewegung selbst genannt wurden, stießen nicht in allen islamischen Kreisen auf Zustimmung. Ausgerechnet Wahhabiten und Salafisten, an denen Jihadisten sich theologisch orientieren, standen den Gesängen kritisch gegenüber und versuchten durch ihre Rechtsgutachten die Jugend vom exzessiven Hören der Lieder abzuhalten. Sie befürchteten zum einen, dass die Naschids vom Studium des Korans und der Prophetenüberlieferungen abhalten könnten und vertraten zum anderen die Auffassung, dass lediglich einige dieser Lieder zu bestimmten Anlässen und nur unter besonderen Bedingungen überhaupt gestattet seien. Einige wahhabitische Gelehrte aus Saudi-Arabien lehnten den Begriff „islamische Naschids“ auch durchweg ab, indem sie darauf verwiesen, dass diese Terminologie zu Zeiten des Propheten nicht bekannt gewesen sei.

Nasir ad-Din al-Albani, einer der anerkanntesten Vertreter der salafistischen Denkschule, ereiferte sich zudem über die Muslimbruderschaft, der er vorwarf, sich für eine „islamische Musik“ einzusetzen, die es seiner Auffassung nicht geben kann. Hieraus wird auch das Spannungsverhältnis deutlich, in dem Jihadisten sich bewegen: Sie weisen stets sehr stark darauf hin, dem „Weg der frommen Vorfahren“ (as-salaf as-salih) zu folgen und sich in Übereinstimmung mit den salafistischen Gelehrten zu verhalten. Gleichzeitig verdammen sie oft die Muslimbruderschaft für deren reformatorisches Projekt und werfen ihr vor, sich zu sehr den politischen Rahmenbedingen anzupassen, etwa durch die Teilnahme an Wahlen. Doch gerade anhand des Umgangs mit Naschids wird die eklektische Vorgehensweise der Jihadisten ersichtlich, die sich wiederum aus ihrer Entstehungsgeschichte ergibt: Historisch aus dem radikalen Flügel bzw. den militanten Abspaltungen der Muslimbruderschaft hervorgegangen, haben sie sich den Pragmatismus der Muslimbruderschaft hinsichtlich des Umgangs mit Musik bewahrt (Der Zweck heiligt die Mittel).

Andererseits hat ab den 1970er Jahren, insbesondere durch den Einfluss Saudi-Arabiens, eine zunehmende „Salafisierung“ der jihadistischen Bewegung stattgefunden. Dies wird etwa ersichtlich aus der musikalischen Purifizierung der jihadistischen Lieder. Waren die frühen Gesänge noch von Handtrommeln begleitet, und die Hamas-Lieder sogar noch von Synthesizern, so schwand die instrumentelle Begleitung im Laufe der 1980er Jahre im Bereich des Jihadismus. Damit kam man den wahhabitischen und salafistischen Gelehrten ein Stück weit entgegen, die teilweise Kriterien für die Zulässigkeit von Naschids aufstellten. Hierzu gehörte neben dem Unterlassen von instrumenteller Begleitung beispielsweise auch, dass die Melodien nicht der populären Unterhaltungsmusik gleichen dürfen. Ein weiteres Anzeichen für die Salafisierung des Jihadismus ist das Verschwinden von sufisch bzw. rein religiös geprägten Naschids aus dem Korpus der islamistischen Hymnen, die in den frühen Naschid-Sammlungen noch einhellig neben bellizistischen Liedern zu finden waren.

 

Schlussbetrachtung

Schaffen es politische und soziale Bewegungen ihre Weltanschauung in „emotionalen Häppchen“ zu verteilen, so sind wichtige Voraussetzungen für deren Mobilisierungserfolg geschaffen.

In einem Aufsatz über jihadistische Gedichte notierte der deutsche Islamwissenschaftler Thomas Bauer hierzu: „Man wird nicht zum Terroristen, weil es eine Idee gibt, von der man sich in aller Nüchternheit hat überzeugen lassen, sondern man wird zum Terroristen aus Leidenschaft. Und diese Leidenschaft bringt nicht nur Anschläge, sondern auch Gedichte und Essays hervor, die weit mehr Einblick in die Seelenlandschaft der Menschen gewähren als normative religiöse Texte, die ohnehin von jedem anders ausgelegt werden.“2

Bauer hat damit prägnant formuliert, weswegen Ikonographie, Musik und Poesie auch im Jihadismus ein solch enormer Stellenwert zukommt. Doch drückt sich in der globalen jihadistischen Kultur nicht nur Leidenschaft aus, womit Kultur eine rein passive Projektionsfläche wäre, sondern es existiert auch eine aktive Ebene: So ist Kultur Trägerin von Tradition und Ideologie, wie sie auch eine Art Transmissionsriemen zwischen Bewegung und Außenwelt darstellt. Sie trägt weiterhin zum Entstehen einer „Gegenöffentlichkeit“ bei, die in der Auseinandersetzung zwischen Islamisten und Mehrheitsgesellschaft eine wichtige Rolle spielt. Weiterhin ist sie ein wichtiges Instrument, über nationale Grenzen hinweg ein „Wir-Gefühl“ sowie eine raum- und zeitübergreifende kollektive Erinnerung entstehen zu lassen.

Erklärungsmodelle zur Mobilisierungsfähigkeit des Jihadismus sollten daher nicht bei der Ideologie stehen bleiben, sondern stets auch den kulturellen Rahmen berücksichtigen und in die Betrachtungen mit einfließen lassen.

 

Dr. Behnam T. Said

 

Lesetipps:

 


Hier wird aus sprachlich-ästhetischen Erwägungen dem eingedeutschten Plural „Naschids“ der Vorzug gegeben.

„Die Poesie des Terrorismus” in: Siebenjahrbuch Deutsche Oper Berlin MMIV-MMXI. Berlin 2011, S. 123-127, S. 125.

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Felix Neumann

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