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Radikalisierungsprozesse

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Radikalisierungsprozesse – verstanden als Veränderung auf der Einstellungs- und Verhaltensebene, die zur Rechtfertigung und Ausübung politisch motivierter Gewalt führen –, sind nach wie vor wenig erforscht. In vielen Fällen sind die Bestrebungen einiger Experten unübersehbar, schlechte Ereignisse mit schlechten Ursachen zu erklären – ein Trend, der bereits zu RAF-Zeiten von Soziologen wie Susanne Karstedt-Henke scharf kritisiert wurde. Jene personellen Risikofaktoren, welche als „schlechte Ursachen“ zu Radikalisierungsindikatoren erklärt werden, sind so unspezifisch, dass sie gleichzeitig für Kriminalität, dissoziales Verhalten, Drogenabhängigkeit und psychische Störungen ursächlich sein können. Um soziale Dynamiken erfassen zu können, bietet sich ein multikausales Modell des „eingebetteten Individuums“ an: Im Mittelpunkt steht dabei eine Person mit einem für sie zugänglichen sozialen Erfahrungshorizont und Kapital (Mikroebene), das vor dem Hintergrund seiner Zugehörigkeit zu kollektiven Sinnlieferanten (Metaebene) die sich ihm nicht unmittelbar erschließenden makrostrukturellen, politischen, sozialen und weltanschaulichen Problemlagen interpretiert und in Handlungsmaximen übersetzt.

 

Wider die Pathologisierung – Die Mikroebene der Radikalisierung

Die in der Terrorismusforschung oft zu Radikalisierungsindikatoren erklärten soziobiographischen und persönlichkeitspsychologischen Gegebenheiten als Ressource für politisches Handeln sind lediglich beeinflussbare Ermöglichungsfaktoren. Sie sind wie Sprengstoff, welcher nicht scharf ist, solange es keinen Zünder gibt. Da jedoch soziobiographische Belastungen Bindungen an die Instanzen der informellen Sozialkontrolle schwächen können, besteht ein Risiko der Annäherung an delinquente gleichaltrige Gruppen als Sozialisationsinstanzen. Vor allem im Jugendalter, in dem nach Erik Erikson die Überidentifikation mit Cliquen und Intoleranz die notwendige Abwehr gegen ein Gefühl der Identitätsdiffusion darstellen, ist die Eingliederung in eine delinquente Umgebung und die Übernahme ihrer Werte am wahrscheinlichsten. Die Sozialökologie (Kontakte in der Schule, am Ausbildungsplatz, im Wohnviertel, in Haft usw.) und mediales Verhalten beeinflussen dabei die Annäherung an delinquente Peers. Im späten Jugendalter gilt eher das Prinzip „gleich und gleich gesellt sich gern“.

Um bei der „explosiven“ Metapher zu bleiben: Eine Zündschnur ist potentiell bei jedem Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen vorhanden. Nur ist sie bei Personen mit problematischen strukturellen Rahmenbedingungen kürzer als bei Jugendlichen mit starker Bindung an die Familie und/oder Schule sowie Beruf und starker Orientierung an konventionellen Werten. Spezifisch ist dabei die Situation junger Menschen aus Familien mit Migrationshintergrund, die sich während ihrer jugendlichen Rebellion nicht nur gegen den „Mainstream“, sondern auch gegen den vermehrt autoritären Erziehungsstil der Eltern auflehnen.

 

Lern- und Verstärkungsprozesse – Die Mesoebene der Radikalisierung

Selbst wenn es bspw. um Diskriminierungserfahrungen muslimischer Jugendlicher geht, werden solche normalerweise unspezifisch als Ungerechtigkeit empfunden. Unter anderem sind Empörung, Selbstwertprobleme und Wut die Folgen, die durchaus in abweichendem Verhalten münden können. Es bezieht sich jedoch (unmittelbar) auf das verursachende Objekt. Etwas anders gestaltet sich die Motivlage, wenn das diffuse „das-ist-doch-nicht-in-Ordnung-Gefühl“ weltanschaulich und ideologisch gerahmt wird. An dieser Schnittstelle spielt eine ideologisierte Gruppe die entscheidende Rolle. Individuelle und sozial-politische Erfahrungen bekommen durch ideologisierte Denkfiguren eine neue Konturierung. Deutungsrahmen (Frames) solcher Milieus kanalisieren das (diffuse) Problembewusstsein der betroffenen Personen in eine spezifische Richtung, indem sie durch Haftbarmachung die Schuldigen ausmachen. Die „Zündung“ der möglichen soziobiographischen Belastungen oder Problemlagen erfolgt durch Ideologisierung und durch feindselige Beschreibung wie Delegitimierung des Systems bzw. der Gesellschaft. Das Gefühl der Benachteiligung oder „Verfolgung“ wird durch den Deutungsrahmen potenziert oder erst erzeugt. Situative Interaktionen verwandeln sich im ideologisierten Frame in ein strukturelles Dilemma: „Die Gesellschaft bzw. das System behandelt dich so, weil du so bist“ – bspw. ein Verfechter des „wahren“ Islam oder einfach „Moslem“ – „und deine Lage stellt eine direkte Folge des Umgangs des Systems bzw. der Gesellschaft mit dir dar, weil du so bist.“ Ähnlich gestalten sich Narrative über Angriffe „des“ Westens auf die islamische Umma. Somit inszenieren sich ideologisierte Gruppen als „objektive Feinde“ des Systems, der Gesellschaft oder – international – des Westens.

Ideologisierte Interpretationsregime stellen „Werkzeuge“ zur mentalen Kartierung der (Um-)Welt zur Verfügung. Es lassen sich im Allgemeinen vier Ebenen ideologisierter Deutungsrahmen unterscheiden:

  1. die ontologische Dimension stellt ein Bild des „So-Seins“ einschließlich der Problemdiagnose und angestrebten -lösung her (diagnostischer, prognostischer und motivationaler Frame) und sorgt dafür, dass die Bedeutungsvielfalt weltanschaulicher Kategorien bzw. Begriffe mit einem der ideologischen Richtung entsprechenden Sinn besetzt werden;
  2. die gnoseologische Ebene steuert und zementiert szenetypische Wahrnehmungs- wie Erklärungsmuster sowie ideologische Denkfiguren;
  3. die ätiologische Komponente vermittelt die jeweils szenetypischen Werte und damit verbundene Emotionen für Objekte der In- und Outgruppen (Loyalität durch positive Emotionalisierung und Abneigung gegenüber „Fremdgruppen“, vgl. al-Walā' wa-l-barā'), während
  4. der praxeologische Bestandteil Handlungsmaximen enthält.

Daher ist die Macht der ideologisierten Narrative von herausragender Bedeutung. Nicht minder relevant sind Interaktionen zwischen den ideologisierten Milieus sowie den ideologisierten Gruppen und dem Staat, die das Zugehörigkeitsgefühl fördern und die Feindbildpalette bestätigen bzw. neu konturieren.

 

„Islamische Nation“ gegen „den“ Westen – Die Makroebene der Radikalisierung

Die multiethnische bzw. -nationale Beschaffenheit der radikalisierten islamistischen Gewaltgruppen legt nahe, dass soziale und symbolische Bindungen an Gleichgesinnte der muslimischen Gemeinschaft (als imaginierte Solidargemeinschaft) an die Stelle der nationalen Identifikation treten. Dschihadisten und transnationale Terroristen wähnen sich als Avantgarde und Speerspitze der „islamischen Nation“, deren Ziele auf der Vorstellung einer (globalen) Konfrontation mit dem Westen basieren. Dabei ist der Bezugspunkt der radikal-islamistischen Milieus nicht ausschließlich eine Glaubensvorstellung, sondern auch das Substrat der Religion. Ihr „Ziel ist die Verteidigung der eigenen Glaubensgemeinschaft gegen einen äußeren Feind und zugleich deren grundlegende religiöse und soziale Erneuerung (unter Rückbezug auf die religiöse Tradition), wobei jeweils der eine oder andere Schwerpunkt stärker betont werden kann.“1 Die muslimische Umma scheint zwischen der sozialen Gemeinschaft der Volksgruppe (ethnisch-nationalistische) und den „ausgebeuteten Massen“ (sozialrevolutionäre Komponente) angesiedelt zu sein.2 Aus diesem Grund nehmen „Kriege des Westens gegen den Islam“ einen prominenten Platz in der dschihadistischen Argumentation ein. Zugleich entwickeln sie eine beachtliche Mobilisierungswirkung.

 

Dr. Michail Logvinov

 


Stefan Malthaner, Terroristische Bewegungen und ihre Bezugsgruppen. Anvisierte Sympathisanten und tatsächliche Unterstützer, in: Peter Waldmann (Hrsg.): Determinanten des Terrorismus, Weilerswist 2005, S. 85-138, hier S. 106.

Ebd., S. 128.

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Felix Neumann

Felix Neumann

Extremismus- und Terrorismusbekämpfung

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