Asset-Herausgeber
Mehrheit und „Wahrheit“: Gibt es einen vorbestimmten Gemeinwillen?
Asset-Herausgeber
Angesichts zäher politischer Entscheidungsfindungsprozesse, angeblich „fauler“ Kompromisse und langwieriger Plenardebatten, bei denen ohnehin nur eine Minderheit der Parlamentarier anwesend ist, gewinnt die Vorstellung einer alles übergreifenden Idee, die den politischen Entscheidungen zugrunde liegen sollte, an Attraktivität. Der Glaube, der Gemeinwille müsse alle politischen Entscheidungen leiten, ist aber keineswegs ein Kind des 20. oder 21. Jahrhunderts. Doch was ist der Gemeinwille? Und wenn er so klar vor uns liegt: Warum entscheidet nicht eine Gruppe von intelligenten Leuten, die den Gemeinwillen kennt?
Auch die Idee des vorbestimmten Gemeinwillens geht auf Rousseau zurück. In seinem Hauptwerk „Vom Gesellschaftsvertrag“ (1776) erklärt der geborene Genfer, der Gemeinwille trete hervor, wenn erstens tugendhafte Bürger unbelastet über Belange der Gesellschaft nachdenken, wenn sie zweitens alle nötigen Informationen zur Verfügung hätten und wenn sie drittens nur für sich abstimmen dürften – das Ende des Berufspolitikers und der Informationsgesellschaft also. Der Gemeinwille sei mithin etwas, das mit dem gesunden Menschenverstand erkannt und als vorherbestimmbares Gemeinwohl angesehen werden könne. Der Einfachheit halber können wir das vorherbestimmte Gemeinwohl als das vermeintlich objektiv und absolut Richtige begreifen, das frei vom Interesse des Einzelnen ist. Rousseau hätte die Entscheidungen der heutigen parlamentarischen Politik wohl als Rechtssetzung eines bloßen Gesamtwillens angesehen. Dieser unterscheidet sich vom Gemeinwillen dadurch, dass er nur die Interessen vieler widerspiegelt, nicht aber das „Wahre“ und „Richtige“ – laue Formelkompromisse sind die Folge.
Warum entscheidet die Politik aber nicht im Sinne des vermeintlich „Richtigen“ und „Wahren“? Nun: Die Idee des vorherbestimmbaren Gemeinwohls krankt an gravierenden Schwächen:
In den meisten Fragen gibt es keinen vorherbestimmten Gemeinwillen: Dass Krieg und Gewalt nicht gut sind, leuchtet dem gesunden Menschenverstand ein und lässt sich begründen. Es gibt in der überwältigenden Mehrheit der Aspekte menschlichen Zusammenlebens aber kein so eindeutig nachvollziehbares Gemeinwohl a priori. Unterschiedliche Vorstellungen von Gemeinwohl entspringen dabei häufig nicht einem Mehr oder Weniger an Verstand zwischen den Menschen, sondern unterschiedlichen Wertesystemen (z.B. Ökologismus, Sozialdemokratie und Christentum, aber auch Kommunismus und Faschismus). Daher hat niemand das Recht, seine auf seinen eigenen Werten beruhende Gemeinwohlvorstellung anderen aufzuzwingen. Er hat jedoch das Recht, gehört zu werden und für die Umsetzung seiner Idee zu werben. Setzt sich seine Gemeinwohlvorstellung im Diskurs durch und bewährt sie sich in der Wirklichkeit, kann sie im Nachhinein als Gemeinwohlvorstellung anerkannt werden.
Der Gemeinwille erforderte eine ständige Versammlungsdemokratie: Er wird ausschließlich über direktdemokratische Entscheidungen gefunden (siehe auch Kann direkte Demokratie funktionieren?). Parlamente wären damit unzulässig, weil Abgeordnete das Gemeinwohl dort durch Eigeninteressen verfälschen würden. Zu jeder einzelnen politischen Frage (von der Müllgebührenverordnung bis zur Rechtssetzung beim internationalen Finanzmarkt) müssten also in Deutschland regelmäßig rund 82 Millionen Menschen zusammentreten – ohne sich vorher abzusprechen, weil das natürlich zur Bündelung von Einzelinteressen in Parteiungen führen würde.
Der Gemeinwille müsste auf Konsens beruhen: Je unterschiedlicher die Menschen in einer Gesellschaft sind, desto weniger Problemlösungen gibt es, die allen objektiv und absolut richtig erscheinen. In kulturell und ethnisch vielfältigen Gesellschaften gibt es das objektiv Richtige nicht, deshalb kann politisches Handeln immer nur auf Mehrheitsentscheidungen beruhen, die durch Ergebnisse der folgenden Wahlen korrigiert werden können.
Der Gemeinwille setzt selbstlose Bürger voraus: Jeder müsste danach entscheiden, was der Gemeinschaft objektiv am meisten dient (siehe auch Welches Menschenbild haben Linksextremisten?). Dies kann im Konflikt mit seinem eigenen Interesse stehen. Selbstloses Verhalten in der Politik ist zwar wünschenswert. Der Mensch neigt aber dazu, den eigenen konkreten Vorteil über das abstrakte „Wohl der Gemeinschaft“ zu stellen. Lohnstreiks im öffentlichen Dienst und im Kohlebergbau sowie die in Teilen undurchsichtige Einflussnahme durch Lobbyisten auf die Politik beweisen diesen natürlichen Egoismus.
Die Vorstellung eines vorherbestimmbaren Gemeinwohls ist praxisfern und ignoriert natürliche Eigenschaften des Menschen ebenso wie die Entwicklungen der Moderne. Sie diente oft als Grundlage für die Legitimation staatlicher Unterdrückung im Namen des „Guten“. Will man die Freiheit einer Gesellschaft nicht aufgeben, kommt man nicht umhin, das Gemeinwohl über Versuch und Irrtum auch in langen Parlamentsdebatten zu ermitteln – was plebiszitäre Elemente keinesfalls ausschließt.
Tom Mannewitz