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Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates

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Bis April 2021 unterteilten die deutschen Verfassungsschutzbehörden Extremismus in die Phänomenbereiche: Rechtsextremismus, „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“, Islamismus, Linksextremismus sowie Ausländerextremismus (neuerdings auslandsbezogener Extremismus). Als Reaktion auf eine beobachtete Einflussnahme und Instrumentalisierung der Proteste und Demonstrationen gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen richtete das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) Ende April 2021 den neuen Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ ein. Innerhalb dieses neuen Phänomenbereichs wurde ein bundesweites Sammelbeobachtungsobjekt „Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“ eingerichtet.[i] Dieser Beitrag erklärt diesen neuen Phänomenbereich und skizziert Ähnlichkeiten sowie Unterschiede zu bereits etablierten Formen des Extremismus.

Radikalismus, Extremismus bzw. Politisch Motivierte Kriminalität

Die Verfassungsschutzbehörden der Länder und des Bundes unterscheiden zwischen „Extremismus“ und „Radikalismus“. Beide Begriffe werden medial und von Teilen der Politik häufig synonym gebraucht. Die Verfassungsschutzbehörden stellen aber fest, dass es sich bei „Radikalismus“ zwar „um eine überspitzte, zum Extremen neigende Denk- und Handlungsweise [handele], die gesellschaftliche Probleme und Konflikte bereits ‚von der Wurzel (lat. radix) her‘ anpacken will“, im „Unterschied zum Extremismus jedoch weder der demokratische Verfassungsstaat noch die damit verbundenen Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung beseitigt werden“ sollen.[ii] Verfassungsschutzbehörden betonen, dass „radikale politische Auffassungen in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung ihren legitimen Platz haben“.[iii] Als extremistisch werden dagegen jene Aktivitäten bezeichnet, die darauf abzielen, die Grundwerte der freiheitlichen Demokratie zu beseitigen.

Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates

Das BfV erklärt im Verfassungsschutzbericht vom Juni 2022 in Bezug auf diesen neuen Phänomenbereich:

„Die Akteure dieses Phänomenbereichs zielen dabei darauf ab, wesentliche Verfassungsgrundsätze außer Geltung zu setzen oder die Funktionsfähigkeit des Staates oder seiner Einrichtungen erheblich zu beeinträchtigen. Sie machen demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen von Legislative, Exekutive und Judikative verächtlich, sprechen ihnen öffentlich die Legitimität ab und rufen zum Ignorieren behördlicher oder gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen auf. Diese Form der Delegitimierung erfolgt meist nicht durch eine unmittelbare Infragestellung der Demokratie als solche, sondern über eine ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates und ihrer Entscheidungen. Hierdurch kann das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert und dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden. Eine derartige Agitation steht im Widerspruch zu elementaren Verfassungsgrundsätzen wie dem Demokratieprinzip oder dem Rechtsstaatsprinzip“.[iv]

Das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Baden-Württemberg stellte als erste deutsche Verfassungsschutzbehörde im Zuge einer Beobachtung der Organisationsstrukturen von „Querdenken 711“ in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 Anhaltspunkte für eine extremistische Bestrebung fest und erhob „Querdenken 711“ und seine regionalen Ableger in Baden-Württemberg daher zum Beobachtungsobjekt Extremismus.

Die deutschen Verfassungsschutzbehörden betonen, dass die Szene der Corona-Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie „ideologisch und organisatorisch heterogen“ das „verbindende Element der unterschiedlichen Gruppen und Personen die kategorische Ablehnung der von Bund und Ländern getroffenen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung“ sei.[v] Ebenso könne auch die sogenannte Querdenken-Bewegung mit ihren deutschlandweit organisierten lokalen Initiativen „trotz verbindender Symbolik und Namensgebungen nicht als homogene Gruppierung verstanden werden“, es sei den zentralen Führungspersonen und organisatorisch Verantwortlichen von Querdenken jedoch gelungen, sich von Beginn der Pandemie bis Mitte 2021 als „Schlüsselfiguren des Demonstrationsgeschehens zu profilieren, bevor sich das Protestgeschehen dezentralisierte“.[vi]

Das BfV erklärte im April 2021, dass Anmelder und Organisatoren von Corona-Demonstrationen – zuvörderst zu nennen vor allem Protagonisten der „Querdenken“-Bewegung – deutlich zeigten, „dass ihre Agenda über die reine Mobilisierung zu Protesten gegen die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen hinausgeht. Es werden Verbindungen zu „Reichsbürger“- und „Selbstverwalter“-Organisationen sowie Rechtsextremisten in Kauf genommen oder gesucht, das Ignorieren behördlicher Anordnungen propagiert und letztlich das staatliche Gewaltmonopol negiert. Ein solches Vorgehen ist insgesamt geeignet und zielt darauf ab, das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und seine Repräsentanten nachhaltig zu erschüttern“.[vii]

Gemäß der oben dargelegten Definition von Extremismus sind folgende Beispiele für Rhetorik, Agitation sowie Handlungen im Phänomenbereich Delegitimierung des Staates extremistisch:

  • Einzelne Protagonisten der Querdenken-Bewegung haben im Kontext von Corona-Protesten sowie über Soziale Medien mittelbar zum Umsturz der bestehenden politischen Ordnung unseres Landes aufgerufen.
  • Analogien zu Diktaturen, unter anderem zum Nationalsozialismus, werden immer wieder bewusst hergestellt, um der Bundesregierung, den Landesregierungen sowie der Exekutive die Legitimität abzusprechen.
  • Nationalsozialistische Verbrechen werden relativiert, indem die staatliche Corona-Impfkampagne mit der Verfolgung der Juden gleichgesetzt wird[viii].
  • Die deutsche Volkssouveränität wird agitatorisch verächtlich gemacht und angezweifelt.
  • Der Bundesrepublik Deutschland wird gezielt die Eigenschaft abgesprochen, ein Rechtsstaat zu sein (Prinzip der Gesetzesbindung).
  • Rhetorisch und körperlich aggressiver Umgang mit Medienvertretern, Polizeibeamten und anderen Mitarbeitern der Verwaltung.
  • Das Verbreiten von antisemitischen Verschwörungserzählungen.
  • Aufrufe zur Ausübung von Gewalt gegen Andersdenkende.
  • Bezüge und persönliche Kontakte zu Organisationen und Akteuren der Bereiche Rechtsextremismus, „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“[ix].

Weil das Zuordnen der maßgeblichen Personenzusammenschlüsse und Einzelpersonen im Bereich Delegitimierung des Staates für die deutschen Verfassungsschutzbehörden in vielen Fällen weder zu einem bestehenden Beobachtungsobjekt von Extremismus noch zu einem der Phänomenbereiche von Extremismus ohne Einschränkungen möglich war, ist die Einrichtung des neuen Phänomenbereiches „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ folgerichtig.

– Prof. Dr. Stefan Goertz
Hochschule des Bundes, Fachbereich Bundespolizei

Dieser Beitrag stellt die persönliche Auffassung des Autors dar.

 


 

[i] Vgl. verfassungsschutz.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2021/2021-04-29-querdenker.html (16.3.2022).

[ii] Vgl. verfassungsschutz.bremen.de/oeffentlichkeitsarbeit/glossar-11578?begriff=E&lang=de (28.9.2022).

[iii] Vgl. ebd.

[iv] Bundesministerium des Innern und für Heimat: Verfassungsschutzbericht 2021, Berlin, Juni 2022, S. 112.

[v] Vgl. Bundesministerium des Innern und für Heimat: Verfassungsschutzbericht 2021, Berlin, Juni 2022, S. 113.

[vi] Vgl. ebd.

[vii] verfassungsschutz.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2021/2021-04-29-querdenker.html (16.3.2022).

[viii] Vgl. Bundesministerium des Innern und Heimat: Verfassungsschutzbericht 2021, Berlin, Juni 2022, S. 114-115.

[ix] Vgl. Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen: Sonderbericht zu Verschwörungsmythen und „Corona-Leugnern“, Düsseldorf, Mai 2021, S. 69.

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