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Widerstand
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Das in Artikel 20 (4) des deutschen Grundgesetzes festgehaltene Widerstandsrecht besagt: Wenn die politisch Mächtigen die Demokratie, die Sozial-, Bundes- und Rechtsstaatlichkeit sowie die Gewaltenkontrolle in Deutschland abschaffen wollen, dann dürfen sich die Bürgerinnen und Bürger dagegen zur Wehr setzen: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Entscheidend sind dabei zwei Dinge: Erstens greift das Widerstandsrecht nicht schon bei Verletzungen einzelner Merkmale der genannten „Ordnung“ – vielmehr muss diese in ihrer Gesamtheit in Gefahr schweben. Zweitens müssen, bevor zum Widerstand als Ultima Ratio gegriffen wird, zunächst alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft sein. Aus diesem Grund „ist der Widerstandsfall noch nicht eingetreten, solange das Bundesverfassungsgericht funktionsfähig ist“1 – denn so lange ist rechtliche Abhilfe ja möglich. Bricht aber die grundgesetzliche Ordnung zusammen, kann man sich auf das Widerstandsrecht wohl kaum mehr berufen, denn dann verliert dieses ja seine Geltung.2 Aus diesem Grund spricht die Staatsrechtslehre dem Widerstandsrecht häufig einen „nur sittlichen, nicht aber positivrechtlichen Wert“3 zu.
Das Widerstandsnarrativ ist im Rechts- und im Linksextremismus allgegenwärtig, denn es erfüllt zwei äußerst nützliche kommunikative Funktionen. Da wäre zunächst die Rechtfertigungsfunktion: Widerstand setzt ein absichtsvolles Unrecht voraus, gegen das er sich richten kann. Wer im „Widerstand“ ist, glaubt sich mithin auf der Seite des „Guten“ und „Richtigen“, während das Unrecht dämonisiert wird. Kein widerständiges Handeln, das sich damit nicht rechtfertigen ließe. Außerdem dient das Widerstandsnarrativ dazu, die Deutungshoheit zu behalten. Wer das eigene Tun öffentlich als „Widerstand“ markiert, will die eigenen diskursiven Durchsetzungschancen steigern, weil er moralische Höherwertigkeit beansprucht. Diese Moralisierung von Konflikten entspricht dem für Extremisten typischen dualistischen Rigorismus (Kampf von Gut gegen Böse).4
Rechtsextremismus
Der Begriff steht im Neonationalsozialismus seit jeher für die Wahrnehmung der eigenen Haltung gegenüber dem bestehenden politischen System – ob als Strategie („führerloser Widerstand“5), Eigenname (z.B. „Aktion Widerstand“) oder Beschreibung (Blood and Honour begriff sich als „pan-Aryan movement of White resistance”6). Den größten Widerhall im deutschen Neonationalsozialismus erfuhr das Widerstandsnarrativ im „nationalen Widerstand“ ab Ende der 1990er Jahre: Ziel des 1996 zum neuen NPD-Vorsitzenden gewählten Udo Voigt war es, die seinerzeit dahinsiechende Kleinstpartei im Rahmen seiner Drei-Säulen-Strategie zu einem Zugpferd der „Bewegung des ‚nationalen Widerstandes‘“7 zu machen. Den Auftakt bot der „1. Tag des Nationalen Widerstandes“ in Passau am 7. Februar 1998, bei der das Kommen mehrerer Tausend eingefleischter Neonazis, Straf- und Gewalttäter nicht nur eine Öffnung der Partei markierte, sondern auch deren Aktionsorientierung, Führungsanspruch und Integrationskraft unterstrich. Innerhalb der nächsten Jahre etablierte sich der „Nationale Widerstand“ als Sammel- und Eigenbezeichnung für ein rechtsextremistisches Netzwerk, das von gemeinsamen Feindbildern, Zielen und einem Wir-Gefühl zusammengehalten wurde. Für seine Parlamentsorientierung stand die NPD, für seine Aktionsorientierung eine Vielzahl Freier Kameradschaften, die den Widerstandsbegriff nicht selten im Namen trugen (etwa der „Nationale Widerstand Dortmund“). Zwar hat der „Nationale Widerstand“ in den 2010er Jahren infolge des Bedeutungsverlusts der NPD sowie der zahlreichen Vereinsverbote an Sogkraft eingebüßt, Parteien des Spektrums – etwa „Die Heimat“ und die „Freien Sachsen“ – sehen sich aber nach wie vor im „Widerstand“ gegen das System.
In ähnlicher Weise pflegt die Neue Rechte ein Selbstbild als „Widerstandsmilieu“8. So ist bei der „Identitären Bewegung“, „Ein Prozent“ und dem Compact-Magazin, aber auch führenden Köpfen wie Götz Kubitschek, das Widerstandsmotiv nahezu allgegenwärtig.9 Auch hier dient eine solche Erzählung dazu, den Kampf gegen die bestehende politische Ordnung zu rechtfertigen. Zugleich fußt die Selbstermächtigung zum Widerstand einerseits seit einigen Jahren auf einem ganz konkreten politischen Ereignis – nämlich der Migrationsentwicklung ab 2015. Andererseits wird das Recht zum Widerstand unlängst abgeleitet aus dem Grundgesetz. Unter dem Eindruck der „Flüchtlingskrise“ sagte etwa Kubitschek: „Klar ist, dass es durchaus legitim ist, die kleine Ordnung zu verletzten in so einer Lage, um die große Ordnung zu retten. Es ist erlaubt, etwas zu blockieren, es ist erlaubt, einen Grenzübergang zu blockieren, es ist erlaubt, ein Asylheim zu blockieren oder zu besetzen.“10 Eine Verletzung der „kleinen Ordnung“ (mithin illegales Handeln) begründet er mit einem angeblichen Bevölkerungsaustausch, der die „große Ordnung“ verletze. Diese Erzählung baute Thor von Waldstein, früherer Bundesvorsitzender des NPD-nahen Nationaldemokratischen Hochschulbundes, Jurist und Autor der Neuen Rechten, ausführlich in einem Gutachten11 sowie in zehn Thesen aus. Die letztgenannten erschienen 2016 im Themenheft „Widerstand“ der Zeitschrift „Sezession“. Darin beansprucht der Autor unter Bezug auf die Migrationsentwicklung ab 2015 – stellvertretend für alle Deutschen – das Widerstandsrecht: „In diesem Moment der äußersten Bedrohung der verfassungsmäßigen Ordnung und des Fortbestandes der Nation treten die Deutschen wieder in ihre demokratischen Urrechte ein, entziehen ihren auf Zeit bevollmächtigten, das Gesetz mit Füßen tretenden Mandataren das Wahlmandat und üben ihr verfassungsrechtlich verbrieftes Widerstandsrecht aus. […] Als Deutsche erklären wir nunmehr das demokratiezersetzende Bevölkerungsaustauschprojekt für beendet.“12 Dass das Widerstandsrecht hier nicht greift, weil andere Abhilfe ja sehr wohl möglich wäre, unterschlägt er. Was er anschließend „mit allen nach der Verfassung gebotenen Widerstandsmitteln“ meint, mit denen man sich zu verteidigen gedenkt, kann nur spekuliert werden. Auf dem Coverbild der Ausgabe jedenfalls richtet eine junge Frau eine Maschinenpistole direkt auf den Leser.
Linksextremismus
Auch im Linksextremismus bildet „Widerstand“ einen wesentlichen Bestandteil der eigenen Identität. Historisch betrachtet überrascht das nicht, sieht sich doch vor allem das kommunistische Spektrum in der Tradition des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Eine unterschiedslose Übertragung des Narrativs auf andere Kontexte – etwa „Widerstand“ gegen Kapitalismus, Faschismus und staatliche Repression13 – soll vor allem die liberale konstitutionelle Demokratie treffen. Das hängt mit sehr eigenen Begriffsverwendungen im Linksextremismus zusammen: „Kapitalismus“ bezieht sich hier nicht nur auf das Wirtschafts-, sondern auch auf das gesamte gesellschaftspolitische System; „Faschismus“ nicht nur auf den Rechtsextremismus, sondern auch auf den Staat als angeblich latent faschistische Ordnung; und „Repression“ nicht bloß auf objektiv unangemessenes, sondern jedwedes Handeln von Sicherheitsbehörden.14 Im Ergebnis richtet sich linksextremistischer „Widerstand“ damit stets gegen die Demokratie, obwohl von Kapitalismus, Faschismus und Repression die Rede ist.
Die Widerstandserzählung wurde unter anderem vom deutschen Linksterrorismus prominent aufgegriffen: RAF, Revolutionäre Zellen und Bewegung 2. Juni begriffen sich durchweg als „bewaffneter Widerstand“15 gegen Kapitalismus und Imperialismus. Palästinensische Terrorgruppen, mit denen man sich solidarisierte, galten als selbstverständlicher Teil davon – das gilt bis heute für Teile des Linksextremismus. Der orthodox-kommunistische, gewaltbereite Berliner „Jugendwiderstand“ (2015-2019) trug den Widerstand gar im Namen. Heute sieht sich die DKP als „Partei des Widerstandes gegen die sozialreaktionäre, antidemokratische und friedensgefährdende Politik der Herrschenden“16. „Widerstand“ taucht in ihrem Programm 23-mal auf, bei der MLPD 17- und bei der Partei Die Linke 12-mal – fast ausschließlich in Bezug auf die oben genannten Kontexte. Im undogmatischen Spektrum richtet sich der Widerstand dagegen hauptsächlich gegen „Repression“ – etwa bei der „Roten Hilfe“. Hier wie da gilt: Wer „Widerstand“ sagt, will die Rollen im politischen Kampf verteilen.
Tom Mannewitz
1 Josef Isensee, Widerstandsrecht im Grundgesetz, in: Birgit Enzmann (Hrsg.), Handbuch politische Gewalt. Formen, Ursachen, Legitimation, Begrenzung, Wiesbaden 2013, S. 143-162, hier: 157.
2 Vgl. ebd.
3 Ebd.; vgl. auch Josf Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, Bad Homburg v. d. Höhe 1969, S. 86-95; Theodor Blank, Die strafrechtliche Bedeutung des Art. 20 Abs. 4 GG (Widerstandsrecht), Baden-Baden 1982, S. 35-48, 139-161.
4 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Gemeinsamkeiten im Denken der Feinde einer offenen Gesellschaft. Strukturmerkmale extremistischer Doktrine, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2009/2010, Brühl 2010, S. 9-32, hier: 24-26.
5 Siehe Louis Beam, Leaderless Resistance, in: The Seditionist, Nr. 1 vom Februar 1992.
6 Max Hammer, The Way Forward, o.D./O., S. 7.
7 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Rechtsextremismus in Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2019, S. 88.
8 Recht früh: Götz Kubitschek, Nach dem Triumph der AfD (1) – historische Stunde, historische Verantwortung, 14. März 2016, unter: https://sezession.de/53533/nach-dem-triumph-der-afd-1-historische-stunde-historische-verantwortung?hilite=widerstandsmilieu (abgerufen am 13. August 2024).
9 Siehe exemplarisch Ein Prozent, Über uns, unter: https://www.einprozent.de/ueber-uns (abgerufen am 15. August 2024); Götz Kubitschek, Provokation!, in: Sezession 4 (2006), Heft 12, S. 22-24. Das Bundesamt für Verfassungsschutz spricht bei Compact von „Widerstands- und Revolutionsrhetorik“; vgl. Bundesministerium des Innern und für Heimat, Verfassungsschutzbericht 2021, Berlin 2022, S. 76.
10 3sat KULTURZEIT vom 09.03.2016 über Götz Kubitschek und Ellen Kositza, 9. März 2016, ab Min. 4:04, unter: https://www.youtube.com/watch?v=3HtecOf2Yks (abgerufen am 13. August 2024).
11 Siehe Thor von Waldstein, „Wir Deutsche sind das Volk“. Zum politischen Widerstandsrecht der Deutschen nach Art. 20 IV Grundgesetz in der „Flüchtlingskrise“, Schnellroda 2016.
12 Thor von Waldstein, Zehn Thesen zum politischen Widerstandsrecht, in: Sezession 14 (2016), Heft 70, S. 30-32, hier: 32.
13 Vgl. für eine übersichtliche Darstellung drei zentralen Handlungsfelder Armin Pfahl-Traughber, Linksextremismus in Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme, 2. Aufl., Wiesbaden 2020, S. 182-183, 187-188, 190-191.
14 Vgl. ebd.
15 Exemplarisch: Rote Armee Fraktion, Die Rote Armee aufbauen, in: Agit 883 vom 22. Mai 1970.
16 DKP, Programm der Deutschen Kommunistischen Partei, 7. Aufl., 2020, S. 43.