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Nahrungsmittelsicherheit im Nahen Osten und Nordafrika

von Michael Bauer, Philipp Burkhardt, Veronika Ertl, Elisabeth Haufler, Steffen Krüger, Dr. Thomas Volk

Zwischen Notstand und Pragmatismus

Unmittelbar nach dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine rückte der Nahe Osten und Nordafrika erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Nahrungsmittelsicherheit, ein bis dato randständiges Konzept der Fachliteratur, rückte ins Zentrum des Interesses regionaler und globaler Akteure. Die Befürchtung kam auf, Europa müsse neben den Herausforderungen des konventionellen Staatenkrieges an seiner östlichen Flanke auch die Folgen einer erneuten Stabilitätskrise in seiner südlichen Peripherie adressieren. Die Realität ist indes eine andere. Die Staaten der Region konnten nicht zuletzt wegen einer diplomatischen Flexibilität und Neutralität auf die Krise reagieren. Wie hat sich der Krieg auf die Region ausgewirkt? Haben die Länder der Region Strategien einer langfristigen Diversifizierung ihrer Nahrungsmittelquellen verfolgt? Woher beziehen die Länder nun ihre Getreidelieferungen? Welche Auswirkungen sind vom kürzlichen Ende des Getreideabkommens zwischen Russland und der Ukraine zu erwarten? Mit diesen Fragen richten sich die Blicke dieser Zusammenstellung auf Ägypten, Libanon, Libyen, Marokko und Tunesien. Diese Länder galten als besonders gefährdet von Nahrungsmittelkrisen. Abschließend fasst eine regionale Perspektive die Trends regional zusammen und zeigt mögliche Lösungsansätze auf.

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Ägypten

 

Ägypten bleibt der weltweit größte Weizenimporteur und ist daher von den Auswirkungen des Ukraine-Kriegs nach wie vor besonders stark betroffen. Allein 2023 und 2024 wird Ägypten vermutlich bis zu 12 Millionen Tonnen Weizen importieren müssen, um den Brotbedarf einer wachsenden Bevölkerung decken zu können. Dennoch blieben die zu Kriegsbeginn erwartete Lebensmittelknappheit und damit verbundenen Unruhen aus, jedoch ist ein erheblicher Preisanstieg für Lebensmittel zu verzeichnen. Im Juli 2023 erreichte die Inflation mit 38,2% ein neues Allzeithoch.

Ägypten versuchte sich unmittelbar nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs von der starken Abhängigkeit von russischen und ukrainischen Weizenimporten zu lösen. Indien wurde dabei ein besonders wichtiger neuer Partner. Staatspräsident Sisi reiste 2022 nach Indien, um neue Lieferverträge abzuschließen. Von Januar bis Juli 2023 erhöhten sich die Weizenimporte aus Indien entsprechend um 34% von 4,22 Millionen Tonnen im gleichen Zeitraum 2022 auf nunmehr 5,66 Millionen Tonnen. Neben Weizen importiert Ägypten zunehmend auch Reis aus Indien. Die am 20. Juli 2023 in Indien verhängten Exportbeschränkungen auf nicht-Basmati-Reis dürften für einen erheblichen Preisanstieg für dieses wichtige Grundnahrungsmittel sorgen. 2022 kamen 86,96% der ägyptischen Reisimporte aus Indien.

Im August 2023 wurde zudem ein Abkommen zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Ägypten bekannt, wonach die VAE in den kommenden fünf Jahren Weizenimporte in Höhe von 500 Millionen US-Dollar nach Ägypten unterstützen werden. In diesem Zusammenhang sollen insbesondere die Silo-Netzwerke zur Lagerung von Getreide ausgebaut werden. Der saudische Entwicklungsfonds stellte ein Budget in Höhe von 115 Millionen US-Dollar zur Verfügung, um Lagersilos zu erbauen.

Der Ausstieg Russlands aus dem Getreideabkommen hat in Ägypten für große Beunruhigung gesorgt. Ein Drittel der Getreideexporte über das Schwarze Meer gingen nach Ägypten, Libyen und Tunesien. Staatspräsident Sisi bat den russischen Präsidenten öffentlich, zum Getreideabkommen zurückzukehren. Der Ausstieg könnte aufgrund der Verknappung zu einem weiteren Preisanstieg führen, der Ägypten mit seiner hohen Inflation besonders stark treffen würde. Der Ausstieg Russlands aus dem Getreideabkommen gepaart mit den indischen Beschränkungen auf Reisexporte stellt Ägypten daher vor enorme Herausforderungen im Hinblick auf die langfristige Lebensmittelsicherung für die schon jetzt mit über 110 Millionen Einwohnern größte Bevölkerung der arabischen Welt.

Der ägyptische Premierminister Madbouly verkündete zuletzt im Rahmen des BRICS-Gipfels in Johannesburg, dass Ägypten ein globales Zentrum zur Lieferung und Lagerung von Getreide werden wolle, um die Lebensmittelsicherheit von Entwicklungsländern zu garantieren. Nach dem Ukraine-Krieg unterzeichnete Ägypten bereits ein Abkommen mit der Weltbank in Höhe von 500 Millionen US-Dollar, um den Agrarsektor weiter zu entwickeln. Die Afrikanische Entwicklungsbank sicherte Ägypten hierfür 271 Millionen US-Dollar und die EU 100 Millionen US-Dollar zu.

Um sich langfristig gegen externe Schocks bei der Lebensmittelsicherheit schützen zu können, benötigt Ägypten nach Ansicht von Experten eine stärkere einheimische Produktion von Getreide und weiteren Grundnahrungsmitteln, eine Diversifizierung seiner Importe, den Ausbau strategischer Reserven und mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung.

 

Libanon

Im Juni 2023 verzeichnete der Libanon die zweithöchste Nahrungsmittelpreisinflation der Welt mit einer nominalen Inflationsrate von 280%. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen schätzt, dass in etwa 3,1 Millionen Menschen auf Lebensmittelhilfe angewiesen sind. Die anhaltende Abwertung der Währung, die Einstellung der meisten Lebensmittelsubventionen zusammen mit der Hyperinflation haben zu einem drastischen Rückgang der Kaufkraft der Verbraucher geführt und den Zugang zu Lebensmitteln erheblich eingeschränkt.

Der Libanon, ein Land, das zu rund 80% von Importen für seine Nahrungsmittelversorgung abhängig ist, hat insbesondere unter dem globalen Anstieg der Rohstoffpreise gelitten, der als direkte Folge des Kriegs in der Ukraine auftrat. Eine im August 2022 veröffentlichte Studie zur Lage im Libanon hat einen Zusammenhang zwischen den gestiegenen Nahrungsmittelpreisen im letzten Sommer und der Zunahme von Ernährungsunsicherheit, dem Mangel an Ernährungsvielfalt und ungesunden Ernährungsgewohnheiten aufgezeigt. Allerdings belasten höhere (Lebensmittel-)Preise und Beschaffungsherausforderungen den Libanon bereits seit 2019. Laut dem Libanesischen Statistikzentrum stiegen die Nahrungsmittelpreise zwischen Dezember 2018 und Oktober 2021 um das Zwanzigfache.

Im Jahr vor dem Krieg stammten laut libanesischen Zollstatistiken 80% der gesamten Weizenimporte aus der Ukraine und 15% aus Russland. Im Jahr 2022 bleibt der Libanon, der nach wie vor 77% seines Weizens aus der Ukraine bezieht, weltweit das Land mit der stärksten Abhängigkeit von Weizenimporten aus der Ukraine. Obwohl die Importe aus Russland auf 9% gesunken sind, bleibt Russland nach der Ukraine der zweitgrößte Weizenimporteur für den Libanon. Mit weiteren 5% des Weizens aus Rumänien und Moldawien sowie 3% aus Bulgarien ist der Libanon außergewöhnlich stark von Ländern am Schwarzen Meer abhängig. Seit der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut im Jahr 2020, bei der die Hauptgetreidesilos des Landes zerstört wurden, ist die Abhängigkeit von regelmäßigen Weizenimporten im Libanon noch stärker gestiegen. Dies führte zu einer Reduzierung der Lagerkapazität des Landes für Getreide.

Die Weltbank bewilligte am 6. Mai 2022 einen Notkredit in Höhe von 150 Millionen US-Dollar, um den Libanon bei der Bewältigung globaler Lieferkettenprobleme zu unterstützen und Weizenimporte zu finanzieren. Der Kredit, dessen Annahme im Oktober 2022 vom Parlament genehmigt wurde, deckte einen Zeitraum von neun Monaten ab. Die erste Lieferung von 33.000 Tonnen Weizen traf im Februar 2023 im Hafen von Beirut ein. Obwohl die unter dem Kredit abgedeckten Lieferungen kurzfristig eine ausreichende Versorgung sicherstellen, besteht das Risiko von Engpässen und erheblichen Preisanstiegen weiter.

Das Ende der Kreditvereinbarung mit der Weltbank in Verbindung mit höheren Weizenpreisen erhöhen die Risiken für die Lebensmittelsicherheit im Libanon, wenngleich die libanesische Vereinigung der Lebensmittelimporteure (IFBC) betont, dass das Risiko einer Unterbrechung der Weizenversorgung gering sei, da die importierten Getreidemengen aus der Ukraine in den Libanon vergleichsweise gering seien.

Andere wichtige Importgüter aus der Ukraine waren im Vorkriegsjahr 2021 Eisen und Stahl, Sonnenblumenöl und Mais für Tierfutter - Rohstoffe, die besonders für die Agrar- und Nahrungsmittelindustrie von Bedeutung sind. Die Menge des aus der Ukraine importierten Mais stieg 2022 um etwa die Hälfte an. Gleichzeitig sanken die Importe von Eisen und Stahl aus der Ukraine um fast 70%, während der Import von Sonnenblumenöl um 31% zurückging. Während Importeure viele Güter weiterhin aus der Ukraine erhalten konnten, wurden auch Anpassungen im Einklang mit den Störungen in der Lieferkette vorgenommen. So stieg der Import von Sonnenblumenöl aus der Türkei stark an: Von 18 Millionen Tonnen im Jahr 2021 auf 30 Millionen Tonnen im Jahr 2022.

Im vergangenen Jahr ist darüber hinaus eine Stärkung des traditionell unterfinanzierten und vernachlässigten Agrarsektors zu beobachten. So unterzeichneten im November 2022 die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und das Ministerium für Landwirtschaft eine Vereinbarung zur Steigerung der Weizenproduktion im Land. Während solche Initiativen einen ersten Schritt in die richtige Richtung darstellen, ist der Libanon jedoch noch weit von einem stabilen Selbstversorgungsgrad für Nahrungsmittel entfernt. Laut FAO wird weniger als 25 % der Gesamtfläche des Landes landwirtschaftlich genutzt. Zudem belasten den Sektor Inflation und hohe Weltmarktpreise besonders stark, da ein großer Teil der landwirtschaftlichen Inputs (insbesondere Saatgut, Düngemittel und Pestizide) importiert werden. Dazu kommt, dass die traditionell exportorientierte Agrar- und Nahrungsmittelindustrie, Nahrungsmittel produziert, die nicht den lokalen Bedürfnissen entsprechen.

Obwohl der Libanon anderthalb Jahre nach Beginn des Krieges keine akuten Engpässe bei Lebensmittelimporten hat, hat der Krieg den problematischen Zugang zu Lebensmitteln gerade für die ärmeren Bevölkerungsschichten verschärft. Diese aktuellen Versorgungsprobleme sollten jedoch nicht allein auf die Auswirkungen des Krieges reduziert werden, sondern sind größtenteils das Ergebnis weitreichender struktureller Probleme des wirtschaftlichen und politischen Systems des Landes. Es ist zu befürchten, dass der Austritt Russlands aus der Schwarzmeer-Getreide-Initiative die bereits existierende Krise des Landes durch weltweite Preiserhöhungen weiter verschärfen wird.

 

Libyen

Libyen ist mit seinen knapp sieben Millionen Einwohnern kein dicht besiedeltes Land. Der Mittelmeeranrainerstaat ist durch seinen Ressourcenreichtum und die Öleinnahmen zudem kein armes Land. Mehr als 80% der Libyer erhalten ihr monatliches Einkommen direkt vom Staat. Entsprechend ist Lebensmittelsicherheit kein allzu großes Thema in Libyen, das in einer politischen Legitimationskrise steckt und zunehmend von rivalisierenden Milizen kontrolliert wird. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen geht davon aus, dass 324.000 Menschen auf Unterstützung bei Nahrungsmitteln angewiesen sind, viele davon Flüchtlinge und Migranten. Allerdings sind die Preise für Lebensmittel landesweit nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs um durchschnittlich bis zu 18% gestiegen. Der Preis für Mehl stieg um 19%, der Brotpreis um bis zu 34% und der Preis für das Grundnahrungsmittel Couscous um bis zu 76%. Die libysche Bevölkerung zählt allerdings durch die staatliche Verteilung der Öleinnahmen nicht zu den ärmsten in Nordafrika.

Libyen, obschon derzeit institutionell in West- und Ostlibyen zweigeteilt, ist wesentlich von russischen und ukrainischen Getreideimporten abhängig. Ein Drittel der über das Schwarzmeer exportierten Getreidevorkommen ging vor Aufkündigung des Getreideabkommens durch Russland nach Libyen, Ägypten und Tunesien. Libyen war nach Libanon und Pakistan gar mit am meisten von Getreideimporten aus der Ukraine abhängig. Die libyschen Behörden der international anerkannten westlibyschen Regierung formulierten bereits im Frühjahr 2022 direkt nach Kriegsausbruch, dass eine stärkere Eigenproduktion von Getreide erfolgen müsse. Auch der Ausbau von Lagerstätten in Silos wurde begonnen. Die Lebensmittelsicherheit des Großteils der Bevölkerung ist jedoch nicht gefährdet. 2023 schickte Libyen gar Lastwägen mit Lebensmitteln in die Grenzregion zum Nachbarland Tunesien, als dort Lebensmittelknappheiten bemängelt wurden.

Nach wie vor bezieht Libyen Getreide aus Russland. Der Getreideimport in Libyen erhöhte sich von Juli 2022 bis Januar 2023 auf 937.000 Tonnen, wovon 808.000 Tonnen aus Russland kamen. Dies entspricht nach Angaben des libyschen Zolls 86% der Weizenimporte. Damit sei Libyen weltweit auf Rang 10 der Getreideimporteure aus Russland.

Es ist zu befürchten, dass der russische Ausstieg aus dem Getreideabkommen auch negative Auswirkungen auf Libyen haben dürfte. Es wird insbesondere ein weiterer Preisanstieg von Brot erwartet. Russland könnte jedoch darauf spekulieren, dass nun zunehmend russisches Getreide von Libyen angefragt wird und somit der russische Getreideexport nach Libyen sogar weiter zunimmt. Libyen ist als ölförderndes Land mit kleiner Bevölkerung weniger stark von Lebensmittelunsicherheiten betroffen als andere nordafrikanische Staaten, obschon es weiterhin stark von Getreideimporten abhängig bleibt.

 

Marokko

Der Preisanstieg für Lebensmittel in Marokko ist seit Monaten deutlich spürbar und verschlimmert die Lage vor allem für die ärmere Bevölkerung, da diese einen deutlich höheren Anteil ihres Budgets für Lebensmittel ausgeben. Vor allem während des Fastenmonats Ramadan im April 2023 war die Unzufriedenheit in der Bevölkerung groß. Preise für Grundnahrungsmittel wie Eier und Tomaten haben sich verdoppelt, bei Öl und Kartoffeln sind die Preise zum Teil um das Dreifache gestiegen. War Fleisch früher auch bei ärmeren Familien erschwinglich, ist dies für viele nicht mehr bezahlbar. Die Inflationsrate im Februar 2023 lag laut Angaben der Regierung bei etwas über 10%. Die Gründe für die gestiegenen Kosten sind vielschichtig und lassen sich auch auf den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine zurückführen.

Marokko leidet seit einigen Jahren unter einer anhaltenden Dürre, welches sich nicht nur auf die Trinkwasserversorgung, sondern auch auf die Landwirtschaft auswirkt. Erschwerend kommt hinzu, dass sich ein Teil der Unternehmer in der Landwirtschaft auf mehr profitbringende Exportprodukte wie Datteln, Wassermelonen, Avocados und rote Früchte umgestellt haben. Im Vergleich zu den Produkten für den lokalen Markt benötigen diese mehr Wasser. Aber auch der zunehmende Export von lokalen Produkten, wie Tomaten und Zwiebeln in andere afrikanische Länder treibt den Preis auf den marokkanischen Märkten in die Höhe. Verlorenes Kapital und geringeres Einkommen aufgrund der Covid-19 Pandemie haben die Situation im Land seit 2020 verschärft.

Hinsichtlich der Auswirkungen des Angriffskrieges Russlands in der Ukraine haben sich in erster Linie die gestiegenen Kosten für Kraftstoffe, Pestizide, Medikamente und Maschinen auf das marokkanische Preisniveau ausgewirkt. Bis auf Phosphat verfügt Marokko über wenig Bodenschätze und ist daher vor allem bei Benzin vom Weltmarkt abhängig.

Weizen gehört zu den wichtigsten Grundnahrungsmitteln in Marokko und deckt einen großen Anteil an der Kalorienversorgung der Bevölkerung. Da die lokale Produktion vor allem in den Frühlings- und Sommermonaten nicht ausreicht, importiert das Königreich Weizen aus verschiedenen Ländern. Wichtigster Lieferant ist Frankreich und bisher gefolgt von Russland (25%) und der Ukraine (11%). Aufgrund ausreichender Reserven konnte Marokko eine kurzfristige Lebensmittelkrise aufgrund des eingeschränkten Handels der Ukraine und Russlands vermeiden. Da der Preis für Brot vom Staat subventioniert wird, spürte die Bevölkerung keinen Preisanstieg. Jedoch sind die Auswirkungen auf den Staatshaushalt gravierend.

Mittel- und langfristig hat die marokkanische Regierung folgende Strategien entwickelt. Als am 27. und 28. Juli 2023 der zweite Russland-Afrika Gipfel in Sankt Petersburg stattfand und Putin den Neokolonialismus in Afrika sowie die "ungerechten" Sanktionen gegen Russland verurteilte, war auch der marokkanische Regierungschef Aziz Akhannouch anwesend. Ob es zu Zusagen für mehr russischen Weizen in Marokko kam, ist nicht bekannt, man unterstrich allerdings die strategische Partnerschaft zwischen den beiden Ländern. Hierbei geht es vor allem um eine Neutralität Russlands hinsichtlich des Konflikts um die sogenannte Westsahara, gegenüber der Unabhängigkeitsbewegung Polisario und dem benachbarten Algerien.

Weiterhin hat die Regierung ein Exportverbot für die einheimische Weizenproduktion verhängt, um den lokalen Markt und die Reserven zu schützen. Zudem gibt es positive Wirtschaftsprognosen in den Bereichen Phosphate, Textilien und Automobile für das kommende Jahr. Da China aufgrund des Eigenbedarfs und Russland aufgrund von verhängten Sanktionen als bisher große Exportnationen im Bereich Phosphate galten, hat das Königsreich aufgrund seiner hohen Vorkommen große Chancen für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die marokkanische Regierung gibt sich daher zuversichtlich, dass die vorhandenen Weizenreserven und die wirtschaftlichen Mittel eine Knappheit verhindern können.

 

Tunesien

In Tunesien ist Brot eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel, wobei ca. 95 % des dafür benötigten Weichweizens importiert werden. Im Jahr 2021 importierte Tunesien 984.000 Tonnen ukrainischen Weizen und 111.000 Tonnen russischen Weizen. Nach Russlands Einmarsch in die Ukraine erreichten die Weltmarktpreise für Weizen im Frühjahr 2022 den höchsten Stand seit 20 Jahren. Durch das von der Türkei vermittelte Schwarzmeerabkommen konnte die Ukraine bis Juli 2023 weiterhin Getreide exportieren und die Weltmarktpreise sanken wieder auf das ungefähre Vorkriegsniveau (wenn auch lange nicht auf das Preisniveau vor der Covid-Pandemie). Durch die hohe Inflation des Tunesischen Dinar (Inflationsrate von 9,3 % im August 2023) werden die Importe für das Land kontinuierlich teurer, was sich immer öfter in Lebensmittelengpässen äußert. Die zentral organisierten Einkäufe führen teilweise zu Schiffsladungen im Hafen, die nicht gelöscht werden, da der Staat die Ladung nicht bezahlen kann. So nehmen die Phasen zu, in denen bestimmte Produktgruppen gar nicht oder begrenzt verfügbar sind und Supermärkte Lebensmittel rationieren.

Neben den Problemen in der Nahrungsmittelversorgung sind auch die Preise für Düngemittel in die Höhe geschnellt und seit Januar 2022 um fast 20 % auf ein Niveau gestiegen, das fast dreimal so hoch ist wie ein Jahr zuvor. Russland und Weißrussland sind zwei große Düngemittelexporteure der Welt. In Tunesien machte sich dieser Preisanstieg in der Gesamtinflation bemerkbar.

Die gestiegenen Getreidepreise haben außerdem massive Auswirkungen auf den Viehzuchtsektor. Tunesien musste nach Kriegsausbruch seine Getreideimporte rationalisieren. Insbesondere die Einfuhr von Gerste ging stark zurück, was zu Mangel an Viehfutter führte und damit zu eingeschränkter Verfügbarkeit von Milchprodukten und anderen tierischen Proteinquellen. In der Bevölkerung machten sich die Engpässe durch Verknappung der Lebensmittel über einige Wochen bemerkbar.

Um künftigen Preiskrisen bei Nahrungsmitteln besser standhalten zu können, plant Tunesien, sein Netz von Getreidesilos im ganzen Land auszubauen und zu sanieren. Dafür hat die Europäische Investmentbank noch im Dezember 2022 ein Darlehen von 150 Millionen Euro unterzeichnet. Mittelfristig will das Land seine Vorräte so von zwei auf vier Monate verdoppeln.

Laut ONAGRI Tunisie (Observatoire National de l’Agriculture) sind die Importe von Grundnahrungsmitteln 2022 im Vergleich zum Vorjahr stark angestiegen. So wurden 33 % mehr Getreide, 122 % mehr Speiseöle und 126 % mehr Zucker importiert. Wenn auch in geringerem Ausmaß bleibt der Trend für steigende Importe auch 2023 bestehen. Tatsächlich stiegen die Getreideimporte Tunesiens bis Ende Juli 2023 um 4,4 % im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Jahres 2022. (ONAGRI). Durch die sinkenden Preise verzeichneten diese Importe im gleichen Zeitraum jedoch einen wertmäßigen Rückgang. Der Durchschnittspreis für importierten Hartweizen sank um 22,9 %, während der Durchschnittspreis für importierten Weichweizen um 18,3 % sank, wodurch der Wert der Getreideeinfuhren von 2,8 Milliarden Dinar im Juli 2023 auf 2,4 Milliarden Dinar im Juli 2023 zurückging.

Ende Juli 2023 wurde bekannt, dass Tunesien aufgrund der Dürre einen immensen Ernteausfall erleidet und die eigene Getreideproduktion im Vergleich zum Vorjahr um 60 % zurückgeht. Der Ernteausfall erhöht die Abhängigkeit von Importen noch einmal immens. 2022 hat Tunesien noch ca. 50 – 60 % seines Bedarfs an Hartweizen (zur Produktion von Nudeln und Couscous) selbst produziert und 5 % des Weichweizens für Brot. Es bleibt abzuwarten, wie viel genau von der diesjährigen Ernte übrigbleibt.

Für das Jahr 2023 gibt es noch keine aktuellen Zahlen für die Zusammensetzung der Getreideimporte. Russland bleibt aber das führende Exportland für Getreide weltweit. Angesichts der eigenen Produktionseinbrüche wird Tunesien auch in diesem Jahr seine Getreideimporte steigern müssen und diese mit großer Wahrscheinlichkeit auch wieder mehrheitlich aus Russland und der Ukraine beziehen. Die Ukraine konnte in der ersten Jahreshälfte noch Getreide über seine Schwarzmeerhäfen exportieren, was nach dem Aussetzen des Getreideabkommens durch Russland nicht mehr ohne weiteres möglich ist. Der Bruch des Kachowka-Staudamms im Süden er Ukraine wird die dortige Getreideproduktion mittel- bis langfristig unmöglich machen, während Russland seine eigene Produktion ausbaut. Daher wäre die Prognose, dass Russland die Ukraine als Hauptquelle für importiertes Getreide nach Tunesien ablöst, sehr wahrscheinlich.

Die teuren Getreideimporte führen zwangsläufig zu dem Problem, dass die Subventionen für den festen Brotpreis von 190 Millimes nicht mehr umsetzbar sind. Aktuell ist nicht genug subventioniertes Mehl vorhanden, um die Nachfrage in der Bevölkerung abzudecken, wodurch vor den Bäckereien lange Schlangen entstehen und diese teilweise mittags schließen, weil sie kein Mehl mehr zum Backen haben. Brotpreise sind ein sensibles Thema in Tunesien, nachdem es bei den Brot-Unruhen in den 1980er-Jahren aufgrund einer Preisverdopplung über Nacht 150 Tote gegeben hatte. Brot ist somit nicht nur das zentrale Nahrungsmittel in traditionellen tunesischen Familien, sondern steht auch symbolisch für politische Aufstände. Diese soziale Sprengkraft fürchtet auch Präsident Saied. Seine Maßnahmen wie „das Einheitsbrot für alle Tunesier“ bis hin zu Beschuldigungen und Verhaftungen von Spekulanten konnten die Lage bisher noch nicht entschärfen.

Auch wenn der Staatspräsident die aktuelle Brotkrise öffentlich für „nicht real“, sondern künstlich herbeigeführt erklärt und parallel den für die Verteilung des Getreides auf dem lokalen Markt zuständigen Generaldirektor des Getreidebüros entlassen, sowie den Chef der Nationalen Kammer der Bäcker verhaftet hat, bleibt das Grundproblem der Krise bestehen: Der Staat hat nicht mehr die finanziellen Kapazitäten ausreichend Getreide einzukaufen. Ein Zustand, den der Ukraine Krieg ebenfalls negativ beeinflusst. Die Finanzkrise schraubt die Staatsschulden immer höher, sodass das Damoklesschwert des Staatsbankrotts inzwischen präsent ist. Auch die UGTT der größte Gewerkschaftsverband Tunesiens, warnt inzwischen vor einer „drohenden sozialen Explosion“, sollte der Staat seine Wirtschaftspolitik so fortsetzen.

 

Regionale Kooperation als Lösungsstrategie

Die drastisch gestiegenen Lebensmittel- und Energiepreise in Folge des russischen Kriegs gegen die Ukraine haben substanzielle Schwachpunkte für die Ernährungssicherheit der Bevölkerungen in der Region des Nahen Ostens und Nordafrika offenbart. Entgegen ursprünglichen Befürchtungen zu Beginn des Kriegs haben die stark zurückgegangenen sowie zeitweise unterbrochenen Lebensmittel- und Düngemittellieferungen aus der Ukraine und Russland zwar nicht zu einem Problem der grundsätzlichen Verfügbarkeit von Lebensmitteln in den Ländern der MENA-Region geführt. Hinsichtlich der Ernährungssicherheit vieler Menschen in der Region kann trotzdem keine Entwarnung gegeben werden: denn drastisch gestiegene Lebensmittelpreise gekoppelt mit hoher Inflation, machen verfügbare Lebensmittel für viele Menschen schlechthin unerschwinglich. So lag die durchschnittliche jährliche Lebensmittelinflation in den Ländern der MENA-Region zwischen März und Dezember 2022 bei 29%.

Die ausgeprägte Vulnerabilität der Länder der Region gegenüber Lieferausfällen und Preis-schwankungen auf dem globalen Markt ergibt sich durch die hohe Importabhängigkeit von rund 50% - einer der höchsten weltweit – zur Deckung des Nahrungsmittelbedarfs. Dabei sind in unterschiedlichem Maße alle Länder der Region abhängig von Lebensmittelimporten - besonders hoch ist die Abhängigkeit bei Getreide. Und auch in Ländern, die selbst Lebensmittel exportieren, übersteigen die notwendigen Importe diese bei Weitem.  Besonders hoch ist die Importabhängigkeit in den Staaten des Golfkooperationsrates (GCC) mit bis zu 90% , aber auch in Algerien, dem Irak, dem Libanon und Tunesien.

Welche Faktoren tragen zu dieser hohen Importabhängigkeit bei? Obwohl Landwirtschaft ein wichtiger wirtschaftlicher Sektor in fast allen Ländern der Region ist, bleibt die landwirtschaftliche Produktivität niedrig. Effizientere Anbau- und Bewässerungsmethoden finden erst in wenigen Bereichen und Ländern Anwendung, teils aufgrund fehlender Verfügbarkeit und vor allem hoher Preise der entsprechenden Technologien. In der seit jeher wasserarmen Region sind landwirtschaftliche Erträge darüber hinaus zunehmend durch die Folgen des Klimawandels, insbesondere abnehmende Niederschlagsmengen sowie höhere Temperaturen gefährdet. Während beispielsweise im Irak bereits zahlreiche Flächen nicht mehr für die Landwirtschaft nutzbar sind, sind die Ernteerträge für Weizen aufgrund anhaltender Dürren in Algerien und Marokko um 24% bzw. 17% im Vorgleich zu Fünfjahresdurschnitt eingebrochen. Dieser geringen landwirtschaftlichen Produktivität und abnehmenden Erträgen steht das Bevölkerungswachstum und damit eine Zunahme des Nahrungsmittelbedarfs gegenüber, die durch einen Trend weg von traditionelleren Ernährungsformen weiter verschärft wird.

Die daraus entstehende Importabhängigkeit der Länder der Region ist hierbei spezifisch eine Abhängigkeit von den großen Exporteuren des Weltmarkts: neben Russland und der Ukraine u.a. Brasilien, den USA, Indien und Frankreich. Der Nahrungsmittelhandel zwischen Staaten der Region ist hingegen trotz einiger Ansätze für verstärkten Austausch weiterhin schwach ausgeprägt. Insbesondere die Golfstaaten haben u.a. im Kontext nationaler Strategien für Ernährungssicherheit aktiv versucht, den Handel mit anderen Ländern der Region, bspw. Jordanien, Ägypten und Marokko auszubauen. Der Anteil der Importe aus Ländern innerhalb der Region bleibt jedoch gering.

Während aufgrund der zunehmend schwierigen natürlichen Bedingungen für landwirtschaftliche Produktion in der MENA-Region, insbesondere aufgrund Wassermangels, eine gänzliche Unabhängigkeit von externen Lebensmittelimporten unrealistisch ist, so könnten die Länder das Ausmaß ihrer Abhängigkeit und damit einhergehende Vulnerabilitäten verringern. Entsprechend muss im Sinne der besseren Nutzung von Komplementaritäten regionale Kooperation im Bereich Ernährungssicherheit ausgebaut werden. So verfügen einige Länder der Region, wie Marokko, Algerien, Ägypten und die Türkei über mehr für Landwirtschaft verfügbare Flächen sowie Wasserressourcen und gemäßigtere Temperaturen. Auch die Verfügbarkeit von landwirtschaftlichen Arbeitskräften und Fachpersonal im Bereich Lebensmittelverarbeitung und -vermarktung spielt hierbei eine Rolle. Wiederum andere Staaten, allen voran die Golfstaaten und Israel, verfügen über notwendige Technologien zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität und finanzielle Mittel, um deren Anwendung in der Fläche durch entsprechenden Wissenstransfer und Investitionen zu unterstützen. Auch der regionale Erfahrungsaustausch hinsichtlich der Entwicklung von Strategien für Ernährungssicherheit, in denen Lehren aus den Erfahrungen von Vorreitern, wie den Vereinigten Arabischen Emiraten, gezogen werden könne, sollte vorangetrieben werden.

Verbesserte regionale Kooperation kann dazu beitragen, die Lebensmittelproduktion in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrika mit den vorhandenen Ressourcen effizienter zu gestalten sowie im Sinne der Diversifizierung den Anteil der Nahrungsmittelversorgung aus anderen Ländern der Region zu erhöhen. Dies würde zu einer Reduzierung der Vulnerabilitäten gegenüber Verfügbarkeiten und Preisänderungen auf dem internationalen Markt beitragen.

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Kontakt

Philipp Burkhardt

Philipp Burkhardt

Länderreferent in der Abteilung Naher Osten und Nordafrika

philipppaul.burkhardt@kas.de +49 30 26996-3729

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