Der Ausgang der Parlamentswahlen
Gewählt wurde in insgesamt 650 Wahlkreisen, verteilt auf das gesamte Vereinigte Königreich. Hier galt es dem britischen Direktwahlsystem entsprechend, den jeweiligen Kandidaten mit relativer Mehrheit zu ermitteln (first-past-the-post), der sich dann seinen Sitz im House of Commons sichern würde. Im Gegensatz zum deutschen Wahlsystem gibt es im Königreich keine regionalen oder nationalen Listen, über die Kandidaten ins Parlament einziehen können. Einzig eine Mehrheit im eigenen Wahlkreis schafft hier Tatsachen. Selbst prominente politischen Führungspersönlichkeiten aus dem Kabinett Sunak wie Verteidigungsminister Grant Shapps oder Penny Mordaunt als Leader of the House verloren entsprechend ihren Wahlkreis und sind nicht mehr im Parlament vertreten. Sogar die ehemalige Premierministerin Liz Truss konnte einen 26.000-Stimmenvorsprung in ihrem Wahlkreis nicht mehr halten und verlor knapp.
Auch wenn sich dieses Wahlergebnis tendenziell seit langem abzeichnete, sprachen die konkreten Ergebnisse noch einmal für sich und sorgten zum Teil auch für Überraschungen. Bei einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung von 60% (vgl. 2019 67%) konnte Labour sich 412 Sitze im Unterhaus sichern (vgl. 2019: 203). Das ist nahezu das gleiche Sitzergebnis, dass Tony Blair beim letzten fulminanten Labour-Sieg in 1997 einfahren konnte (418 Sitze). Im neuen Parlament stellt Labour mit einer überwältigenden 174-Sitze-Mehrheit die neue Regierung. Diese Mehrheit besagt, dass Labour 174 Sitze mehr auf sich vereinen konnte als alle anderen Parteien zusammengerechnet. Gleichwohl musste Labour schmerzliche Einbußen und auch Sitzverluste hinnehmen in Wahlkreisen mit einem hohen muslimischen Bevölkerungsanteil. Hier gewannen vor allem unabhängige Kandidaten, die kritisch zu den Solidaritätsbekundungen Keir Starmers gegenüber Israel standen. Auch der ehemalige Labour-Führer Jeremy Corbyn konnte sich in seinem Wahlkreis im Norden Londons als Unabhängiger gegenüber dem Labour-Kandidaten durchsetzen und zog in das Unterhaus ein.
Die Conservative Party wurde auf 121 Sitze (vgl. 2019: 365) regelrecht dezimiert. Sie verlor damit mehr als zwei Drittel ihrer Sitze im Unterhaus – das schlechteste Ergebnis der Traditionspartei in ihrer langen, erfolgreichen Geschichte. In absoluten Zahlen verlor sie im Vergleich zur vorhergehenden Wahl mehr als die Hälfte ihrer Wählerinnen und Wähler, von 13,9 Millionen auf nunmehr 6,8 Millionen. Die Verluste erfolgten flächendeckend in allen Landesteilen des Vereinigten Königreiches. Vor allem konnte Labour ein Großteil der Wahlkreise in der sogenannten red wall im Norden Englands und den Midlands zurückgewinnen. Bei den Wahlen in 2019 konnte die Conservative Party mit ihrem Zugpferd Boris Johnson in Folge des Brexit-Votums zahlreiche dieser traditionellen Labour-Hochburgen erstmals für sich behaupten.
Reform UK, die erst vor vier Jahren gegründete Start up-Partei des Brexit-Politikers Nigel Farage, legte vor allem im Juni einen regelrechten Endspurt hin. Auch wenn die rechtspopulistische Formation aufgrund des britischen Direktwahlsystems schlussendlich nur fünf Sitze im Parlament erhielt, wirkte sie mit hohem Destruktionspotential auf das Ergebnis der britischen Konservativen ein. In zahlreichen Wahlkreisen, in denen die Conservative Party im Wettbewerb um Platz 1 mit Labour oder den Liberal Democrats stand, verloren sie entscheidende Stimmen an Reform UK. Insgesamt sammelte die Partei vier Millionen Stimmen und nahmen den Tories fünf Wahlkreise direkt weg.
Die Liberal Democrats gewannen insgesamt 63 Sitze hinzu und sind nun mit 72 Sitzen im Parlament vertreten. Es ist das beste Ergebnis der Partei seit 1923. Sie konnten vor allem zahlreiche Wahlkreise im Süden Englands gewinnen, die bisher traditionell fest in der Hand der Tories waren. Auf der Seite der Wahlverlierer befindet sich auch die Scottish National Party (SNP), die traditionell Mehrheiten in Schottland einfährt. Gegenüber Labour büßte die Regionalpartei diesmal massiv an Stimmen ein. Sie verlor 38 Sitze und wird im neuen House of Commons nur noch mit 9 Sitzen vertreten sein. Das Ergebnis wird auch Auswirkungen auf das politische Machtgefüge innerhalb des schottischen Landesteils haben sowie die Realisierbarkeit der Unabhängigkeitsbestrebungen Schottlands, denen die SNP - bisher erfolglos - nachgeht.
Überwältigende Labour-Mehrheit im Parlament, aber nur minimaler Zuwachs an Stimmen im gesamten Land – die Auswirkungen des Direktwahlsystems
Der historische landslide victory von Labour im Hinblick auf die neue super majority im Parlament soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die britischen Wählerinnen und Wähler nicht im gleichen Ausmaß der sozialdemokratischen Labour-Partei ihr Vertrauen geschenkt haben. Das Direktwahlsystem im Vereinigten Königreich hat dazu beigetragen, dass die Abstände in den Ergebnissen größer erscheinen als sie schlussendlich sind. Beim sogenannten popular vote, also dem prozentualen Anteil an den Gesamtstimmen im Land, kommt Labour schlussendlich auf 33,7% und nahm damit nur marginal um 1,6% gegenüber den Wahlen in 2019 zu. In absoluten Zahlen liegt die Partei sogar unter dem Ergebnis der letzten Wahl (2019: 10,3 Mio, 2024: 9,7 Mio). Die Konservativen liegen mit ihrem Stimmenanteil von 23,7% nun 10% unter Labour. Dieser Abstand ist bei weitem nicht so groß wie die 292-Sitzdifferenz im Parlament zunächst erscheinen mag. Mit den 33,7% Zustimmung in der Gesamtbevölkerung konnte Labour 65% aller Sitze im House of Commons einnehmen. Der renommierte Wahlexperte John Curtice sprach daher vom „ungleichmäßigsten Wahlergebnis in der britischen Wahlgeschichte“. Während die Wählerschaft den Tories ein klares „Nein“ ausgesprochen hätte, sei der Enthusiasmus gegenüber Labour doch gedämpft ausgefallen. Er wies darauf hin, dass Labour mit einem geringeren Stimmenanteil gewonnen hat als bei jeder Wahl, zu der Tony Blair als Parteiführer angetreten ist.
Am drakonischsten manifestieren sich die Auswirkungen des britischen Wahlrechts im Verhältnis zwischen zwei weiteren Parteien. So haben die LibDems 12,2% der Stimmen geholt, sie konnten sich damit 72 Sitze sichern. Reform UK, die mit 14,3% eine leicht größere Zustimmung erzielten, konnten damit aber nur 5 Sitze erreichen. Letztendlich ist das die Folge einer Verkettung des Prinzips „the winner takes it all“ in jedem einzelnen Wahlkreis und auch von taktischem Wahlverhalten. Einer Umfrage zufolge hätte rund ein Viertel der Wählerinnen und Wähler taktisch gewählt. Das heißt, sie wählen in ihrem Wahlkreis nicht unbedingt den Kandidaten ihrer eigentlich präferierten Partei, sondern eine Partei, die eher Aussicht auf Erfolg hat bzw. mit der sie den Sieg einer anderen Partei verhindern können. So ist in umkämpften Wahlkreisen vor allem im Süden Englands zu beobachten gewesen, dass die Liberal Democrats unverhältnismäßig viele Stimmen erhielten, da sie hier eine bessere Chance hatten gegen die Tories zu gewinnen. Im Wahlkreis Maidenhead z.B. waren die Tories 2019 stärkste Kraft und die LibDems teilten sich mit Labour den zweiten Platz. Nun konnten die LibDems deutlich zulegen, während Tories und Labour an Zustimmung verloren.
Von politischen Vertretern ist bereits in der Wahlnacht auf die Problematik bei der demokratischen Repräsentation des Wahlrechts hingewiesen worden. Es wird die Debatte im Vereinigten Königreich erneut entfachen, ob first-past-the-post wirklich noch angemessen ist. Gleichwohl ist nicht davon auszugehen, dass mit Labour und den Conservatives die beiden großen politischen Formationen die Absicht haben werden, dass es hier zu Änderungen kommt, da sie beide von dem jetzigen System profitieren. Hinzu kommt sicherlich auch das Argument, dass das britische Wahlsystem in der Regel von Tag eins an nach den Wahlen für klare politische Verhältnisse sorgt. So ist Keir Starmer bereits als neuer Premierminister in Downing Street 10 eingezogen und leitete am Wochenende seine erste Kabinettssitzung.
Schnellstart in der Außen- und Europapolitik
Die ersten Tage seiner Amtszeit bedeuten für Starmer ein Schnellstart in die Außenpolitik: Bereits kurz nach seinem Amtsantritt wird er zum NATO-Gipfel in die Vereinigten Staaten fliegen. Das Treffen in Washington wird zur ersten Bewährungsprobe des neuen Premiers auf außenpolitischem Parkett. Von der Labour-Regierung ist grundsätzlich Kontinuität in den außenpolitischen Kernfragen zu erwarten. Das betrifft die unverminderte Unterstützung für die Ukraine, die special relationships mit den Vereinigten Staaten sowie die Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf 2,5% des Bruttoinlandsprodukts (die aber im Wahlprogramm im Hinblick auf das Zieldatum unter Finanzierungsvorbehalt gestellt wurden, Rishi Sunak hatte sich auf 2030 festgelegt).
Die Stärkung der europäischen Säule in der NATO sowie verbesserte Beziehungen des Königreichs zu seinen europäischen Partnern stehen gleich im Anschluss im Fokus, wenn Großbritannien als Gastgeber der diesjährigen Auflage der European Political Community (EPC) am 18. Juli in den Blenheim Palace einlädt. Der Ort gibt indirekte Hinweise auf die Themensetzung des Gipfels: Winston Churchill wurde hier geboren. Starmer wird mit seinen europäischen Partnern in Fragen der Verteidigung und Sicherheit über Wege der intensivierten Kooperation sprechen angesichts des andauernden russischen Angriffskrieges in Europa sowie einer möglichen Rückkehr von Donald Trump in das Weiße Haus.
Neue Akzente könnte die Regierung in der Nahostpolitik und der Klimaaußenpolitik setzen. Der neu ernannte Außenminister David Lammy hatte im Vorfeld den Begriff des progressive realism geprägt, um die DNA einer Labour-Außenpolitik zu beschreiben. Für eine britische Regierung bedeute dies eine nüchterne und ehrliche Einschätzung der internationalen Kräfteverhältnisse und der globalen Lage. Anstatt eine reine Machterweiterung anzustreben, setze der progressive realism jene Machtverhältnisse in einem multilateralen Kontext ein, um gerechte Ziele zu verfolgen – den Klimawandel zu bekämpfen, die Demokratie zu verteidigen, Rechtsstaatlichkeit zu fördern, Armut zu bekämpfen und die wirtschaftliche Entwicklung weltweit voranzutreiben.
Unter Labour ist keine Kehrtwende in Bezug auf den Brexit zu erwarten. Keir Starmer hatte bewusst „rote Linien“ definiert: keine Rückkehr in die Zollunion, in den Binnenmarkt oder die Wiedereinführung der Freizügigkeit. Gleichwohl sind von der neuen Regierung in London Maßnahmen zu erwarten, die das Land und die Europäische Union wieder näher zusammenbringen sollen. Das zentrale Element hierbei ist laut Labour-Wahlprogramm ein umfassender UK-EU-Sicherheitspakt, mit dessen Hilfe in den Bereichen Verteidigung, Terrorismusbekämpfung, Cyber-Sicherheit, Migration und Energiesicherheit besser und strukturierter kooperiert werden soll. Gleichwohl ist nicht davon auszugehen, dass ein derart umfangreiches Paket schnell umzusetzen ist, da auch auf Seiten der EU die Neubildung der Kommission und der Ausgang der Wahlen in den USA abzuwarten ist. Schneller realisierbar wäre ein vergleichbares bilaterales Abkommen mit Deutschland. In weiteren Schritten könnten dann Verbesserungen etwa durch ein Veterinärabkommen, die Anerkennung beruflicher Abschlüsse und im Bereich der Jugendmobilität angegangen werden. Wahrscheinlich würde dies im Rahmen das bereits bestehenden Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich erfolgen, das vereinbarungsgemäß ohnehin in 2025 überprüft werden soll.
Der Anspruch, den Wandel im Innern zu gestalten
Labour ist angetreten mit dem Anspruch, einen fundamentalen Politikwandel im Vereinigten Königreich zu gestalten. Dies beträfe vor allem die Innenpolitik, die Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Bildungspolitik sowie grundsätzlich der Regierungsstil. Nach der ersten Sitzung des neuen Kabinetts am Wochenende hat Premierminister Starmer bereits den sogenannten „Ruanda-Plan“ für erledigt erklärt. Dies war eines der Flaggschiffprojekte der abgewählten Regierung, bei der illegale Migranten ohne Verfahren unverzüglich in einen Drittstaat abgeschoben werden sollten.
Nachdem alle neugewählten Abgeordneten in Westminster eingetroffen und vereidigt werden, erfolgt am 17. Juli das State Opening of Parliament mit der traditionellen King’s Speech. Hier wird die Labour-Regierung ihre gesetzgeberischen Pläne für die erste Sitzungsperiode des neuen Parlaments darlegen. Zu erwarten sind Regelungen u.a. bei den Arbeitnehmerrechten, im Gesundheits- und Bildungswesen sowie in der Verkehrs- und Infrastrukturpolitik. Richtungsweisend wird danach vor allem das Autumn Statement sein, in dem Labour erstmals erklären muss, wie sie ihre Vorhaben zu finanzieren gedenkt. Labour hat sich im Wahlkampf als „pro-business and pro-worker“ positioniert, ist aber bei der Konkretisierung recht vage geblieben. Für den Chancellor of the Exchequer, der neuen Finanzministerin Rachel Reeves, wird es ein schwieriger Balanceakt angesichts knapper Kassen und immenser Staatsverschuldung die propagierte Labour-Politik umzusetzen, ohne – wie im Wahlprogramm versprochen – die Steuern für die arbeitende Bevölkerung zu erhöhen.
Keir Starmer hat seit seinem Amtsantritt als Parteivorsitzender die Labour Party behutsam in Richtung politische Mitte geführt. Dies erfolgte mit eiserner Disziplin, Protagonisten des sozialistischen Flügels der Corbyn-Ära wurden aus Führungspositionen entfernt bzw. aus der Partei ausgeschlossen. Trotz oder auch wegen der überwältigenden Mehrheit im Parlament wird es vor diesem Hintergrund für Starmer und sein Führungsteam nicht einfach, den Kurs der Mitte gegenüber der Parteilinken und auch den Gewerkschaften auf Dauer durchzusetzen. Hinzu kommt, dass die neue Labour-Regierungsmehrheit in puncto Regierungserfahrung nahezu blank ist: Sie verfügen in den eigenen Reihen nur über ganz wenige Persönlichkeiten, die Erfahrung aus der Zeit der ehemaligen Premierminister Gordon Brown und Tony Blair einbringen können. Angesichts der großen Herausforderungen und einer komplexen Regierungsmaschinerie, könnte dieser Umstand vor allem zu Beginn zu Problemen führen.
Conservative Party – Gründe für die Wahlschlappe
Die Wahlschlappe der Conservative Party lässt sich anhand mehrerer Faktoren erklären. Zuallererst spielte die lange Regierungszeit der Tories eine ausschlaggebende Rolle. Nach 14 Jahren an der Macht und mit einem Verschleiß von fünf Premierministern und noch mehr Finanzministern, Innenministern etc. verlieh sie zunehmend einen personell und inhaltlich erschöpften Eindruck. Auch wenn die Performance aller Beteiligten in den letzten Jahren besser gewesen wäre, hätten die Tories jetzt den fünften Wahlsieg in Folge erringen müssen – ein Unterfangen, das für sich schon sehr schwierig gewesen wäre. In den Nachwahlanalysen dreht es sich daher eher um die Frage, wie das große Ausmaß der Niederlage zustande kam.
Hier liegt ein Erklärungsansatz in den zahlreichen Skandalen und internen Kontroversen, die die Conservative Party in den vergangenen Jahren begleitet hatten. Für immer in Erinnerung bleiben wird Party Gate, als unter dem damaligen Premierminister Boris Johnson während der Corona-Pandemie regelrechte Feten am Regierungssitz in der Downing Street No. 10 veranstaltet wurden - in Verletzung der von der Regierung selbst veranlassten Pandemiebestimmungen. Hinzu kam eine Kette von Verfehlungen und Rücktritten einzelner Parlamentarier. Dies setzte sich bis in den Wahlkampf hinein fort, als bekannt wurde, dass gegen Kandidaten und Parteimitarbeiter der Conservatives ermittelt wird, da sie vermeintlich mit Insiderwissen auf den frühzeitigen Wahltermin gewettet hätten. Der Vorgang ist ein Spiegelbild für die Wahrnehmung in weiten Teilen der Bevölkerung bis hin in die Tory-Anhängerschaft, dass die Repräsentanten dieser Partei nicht mehr seriös arbeiteten. Insgesamt führte das zur Erosion des Vertrauens in die Regierungsfähigkeit der Tories. Maßgeblich zu diesem Glaubwürdigkeitsverlust beigetragen hat auch die 49-Tage-Regierung von Liz Truss, der Vorgängerin von Rishi Sunak. Mit einem großangelegten schuldenfinanzierten Steuersenkungsprogramm hat sie die Finanzmärkte in erhebliche Turbulenzen gebracht und damit die Kernkompetenz der Conservative Party in Frage gestellt – einer Partei, der bisher attestiert wurde, mit Finanzen und Steuern vernünftig umzugehen.
Ein dritter bestimmender Faktor ist in den entscheidenden Wochen vor der Wahl zu sehen, insbesondere im oben beschriebenen taktischen Wahlverhalten sowie im Erfolg von Reform UK mit dem kurzfristigen Einstieg ihrer Ikone Nigel Farage. Dies hat insgesamt dem Abschneiden der Tories massiv geschadet. Gleichzeitig hat es Labour vermocht, die Wahl als ein Votum gegen die verschlissene Regierungsformation zu orchestrieren und weniger darüber, wie Labour das Land in den kommenden Jahren regieren möchte. Mit extremer Kontrolle war Keir Starmer darauf aus, Fehler in den eigenen Reihen zu vermeiden und den großen Umfragevorsprung über die Zeit bis zur Ziellinie zu moderieren.
Die Zukunft der Conservative Party
Die Debatte um die Führung und die zukünftige Ausrichtung der Conservative Party hatte bereits lange vor der dem Wahltag begonnen - nicht öffentlich, aber bereits in den Hinterzimmern und in vertraulichen Runden. Die Partei steht nun vor der Aufgabe, nicht nur in Kürze eine schlagkräftige Oppositionsarbeit zu organisieren, sondern vor allem eine neue Führung zu wählen und den künftigen inhaltlich-strategischen Kurs der Partei zu bestimmen. Geklärt werden muss dabei, wie mit Nigel Farage, seiner Partei und der dahinterstehenden Bewegung umzugehen ist, die in Teilen auch in der Tory-Anhängerschaft verfängt. Der ehemalige Parteichef Ian Duncan Smith plädierte in einem Gastbeitrag in der Tageszeitung The Times dafür, diesen Prozess der Neuorientierung und Neuorganisation nicht zu überstürzen, sondern sich dafür Zeit zu nehmen. Der neue leader sollte erst nach dem turnusmäßig Anfang Oktober anstehenden Parteitag gewählt werden. Andere Stimmen warnen aber davor, sich zu viel Zeit zu lassen, da dann das Feld der politischen Opposition im Lande gleich zu Beginn den Liberaldemokraten und vor allem der populistischen Reform UK überlassen werde.
Ausschlaggebend ist jetzt die Personalfrage an der Spitze, da diese auch den inhaltlichen Kurs vorbestimmen wird. Rishi Sunak ist nicht nur als Premierminister ausgeschieden, sondern auch als Parteichef bereits zurückgetreten. Penny Mordaunt schien als eine vielversprechende Kandidatin für den Parteivorsitz, gewann aber ihren Wahlkreis nicht und scheidet somit aus. Es wird aller Voraussicht nach zu einem parteiinternen Duell zwischen einem Vertreter des eher gemäßigten, zentristischen Spektrums und einer Person des nationalkonservativen, marktliberalen Flügels kommen. Schlussendlich wird die Parteibasis entscheiden. Der Prozess zur Wahl eines neuen Vorsitzenden erfolgt in zwei Phasen: Zunächst stimmen die neugewählten Abgeordneten der konservativen Unterhausfraktion über einzelne Kandidaten ab. In mehreren Abstimmungsrunden scheidet jeweils der Kandidat mit den wenigsten Stimmen aus, bis zwei Kandidaten übrigbleiben. In der zweiten Phase stimmen alle Parteimitglieder per Briefwahl ab. Der Kandidat mit den meisten Stimmen wird der neue Vorsitzende der Conservative Party.
Im Gespräch ist der bisherige Außenminister James Cleverly, der mit seiner Erfahrung und seinem ausgleichenden Stil die Partei wieder zusammenführen könnte. Genannt wird auch Tom Tugendhat als Vertreter der Parteimitte. Der Afghanistan-Veteran war zuletzt Sicherheitsminister und steht für einen modernen Konservatismus. Die größten Erfolgschancen werden der ehemaligen Wirtschaftsministerin Kemi Badenoch zugesprochen. Sie ist Vertreterin der Parteirechten und Verfechterin des anti woke-Kulturkampfes. Die 44-jährige studierte Computersystemtechnikerin stand aber stets solidarisch hinter Rishi Sunak und tritt nicht aggressiv auf. Sie wäre gegebenenfalls auch im moderaten Parteiflügel vermittelbar. Einen eher aggressiven politischen Stil pflegt die von Sunak entlassene Innenministerin Suella Braverman, vor allem in der Migrationspolitik. Sie wird aller Voraussicht nach Stimmen einsammeln, die es nicht zulassen wollen, dass sich mit Reform UK rechts von der Conservative Party eine neue Partei etabliert. Braverman sprach bereits von einem Deal mit Nigel Farage, um „Rechts wieder zu vereinigen“. Es ist aber davon auszugehen, dass jegliche Kooperation mit Nigel Farage oder ein Abdriften in den Rechtspopulismus, die Traditionspartei von Winston Churchill letztendlich spalten wird. Aus dem rechtskonservativen Flügel werden auch genannt Priti Patel, ebenfalls eine ehemalige Innenministerin und wie Sunak indischer Abstammung sowie der ehemalige Einwanderungsminister Robert Jenrick.
Die künftige Entwicklung der britischen Tories wird entscheidend mitbestimmen, ob die Ernennung Keir Starmers zum Premierminister auch den Beginn einer neuen Labour-Ära darstellt. Die Conservative Party hat in ihrer Geschichte zwei vergleichbar schwere Niederlagen erlitten, die jeweils Jahre der Erholung benötigten. 1906 erlitten die Tories unter Arthur Balfour eine vernichtende Niederlage, gewannen nur 157 Sitze und waren danach 16 Jahre lang in der Opposition. 1997 verlor die Partei unter John Major aufgrund von Führungsproblemen, wirtschaftlichen Krisen und Skandalen ebenso deutlich. Die Labour Party mit ihrer neuen Ikone Tony Blair konnte mit einem modernisierten Politikangebot einen Erdrutschsieg erringen, während die Tories nur 165 Sitze gewannen. Die Niederlage führte dazu, dass die Conservatives 13 Jahre in der Opposition verbrachten, bevor sie sich 2010 mit David Cameron wieder an die Macht kämpfen konnten.
Die Conservative Party wird eine ähnlich lange Oppositionszeit nur vermeiden können, wenn es ihr in den nächsten Jahren gelingt, politische Glaubwürdigkeit und Zutrauen in ihre inhaltliche Kompetenz zurückzugewinnen. Die der Partei nahestehende konservativ ausgerichtete The Times schrieb in ihrem Kommentar am Wochenende nach der Wahl, dass nicht der politische Populismus die Lösung sei, sondern ein prinzipiengetreuer Konservatismus, der für einen schlanken Staat, fiskalische Klugheit, Gesetz und Ordnung sowie die Erhaltung des ländlichen Raumes stehe. Auf dieser Grundlage könnten die Tories mit einer konstruktiven Oppositionspolitik Labour wieder Paroli bieten und sich Regierungsfähigkeit erarbeiten. Die neue Regierung unter Keir Starmer steht in einer schwierigen Zeit vor gewaltigen Herausforderungen. Sie wird daran gemessen, ob sie in der Lage ist, Probleme zu lösen. Der Verweis auf die Hinterlassenschaften der Vorgängerregierung wird nicht auf Dauer funktionieren. Labour wird getragen von einer neuen, heterogenen Wählerkoalition in einer sehr fragmentierten Gesellschaft. Die große Wählervolatilität bei diesen Parlamentswahlen in 2024 hat gezeigt, wie schnell sich das Blatt wieder wenden kann.