In der ersten Hälfte der 2010er Jahre blickte die Welt mit Ehrfurcht auf den Nahen Osten: Dort, wo autokratische Regime jahrelang an der Macht gewesen waren, versammelten sich nun gigantische Menschenmassen in den Straßen, um für Demokratie und Freiheit zu demonstrieren. Die meisten von ihnen waren jung, unter 30, und hatten weder Anführer noch Hierarchien; viele von ihnen hatten nicht viel mehr als eine Internetverbindung und ein Mobiltelefon, ihre Kommunikation losen Netzwerken auf Twitter ausgesetzt. Über kurz oder lang aber verwandelten sich diese einzelnen Proteste in eine Massenbewegung, in den Arabischen Frühling, wie er fortan hieß. Er wuchs innerhalb knapp eines Jahres bis in die Millionen, und steckte dabei fast den gesamten arabischsprachigen Raum an.
Am Ende scheiterten die Demonstrierenden mit ihrem Streben nach Demokratie – doch da hatte der Arabische Frühling schon bewiesen, dass die Art und Weise, wie wir demonstrieren, sich zu ändern begann.
Soziale Medien haben sich seitdem enorm verändert: Plattformen, die es vor zehn Jahren noch nicht mal gab, sind heute Mittelpunkt unserer Internetnutzung. Autokratische Regime begreifen nacheinander die volle Macht dieser Plattformen – und zensieren sie im Umkehrschluss. Dadurch sahen sich auch Protestformen zum Wandel gezwungen. Während des Arabischen Frühlings waren soziale Medien eher ein Mittel gewesen, sowieso schon aufkommende Unzufriedenheiten durch die Organisation von „echten“ Demonstrationen zum Ausdruck zu bringen. Doch wie kann man es sich vorstellen, wenn der Akt des Protestes voll und ganz ins Internet verlagert wird? In Ost- und Südostasien ist das nun, zehn Jahre später, zur Realität geworden. Aber um das genauer zu verstehen, muss man sich zunächst die Verbreitung politischer Nachrichten im Internet anschauen.
Süße Katzen und versteckte Witze
2008 entwickelte der Medienwissenschaftler Ethan Zuckerman die „Cute Cat Theory“ (z. Dt. „Süße Katzen Theorie“), die besagt: Wenn Menschen das Internet benutzen, um Fotos von süßen Katzen zu verbreiten, erschaffen sie dabei gleichzeitig Mittel und Plattformen, die später zur Verbreitung von politischen Botschaften nützlich werden können. Die Algorithmen seien identisch – und gerade weil diese Plattformen für ihre unterhaltsamen Inhalte bekannt werden würden, würde es Regierungen erschwert, sie aufgrund von politischem Widerspruch einfach zu zensieren.
Während dieser Effekt noch zu dem Zeitpunkt, als Zuckerman die Theorie verfasste, in seinen Frühstadien war, beschreibt er mittlerweile den Großteil der Internetlandschaft. Das Internet hat sich rapide zur Drehscheibe der sogenannten „Meme-Kultur“ herausgebildet, ein Begriff, der beschreibt, wie junge Menschen online hauptsächlich über Witze im Bild- und Textformat – über „Memes“ – kommunizieren. Meistens beschränken sich diese Memes auf harmlose Witze, dafür ausgelegt, um Menschen mit ähnlichen Erfahrungen zu unterhalten. Um aber so weit wie möglich durch das Internet wandern zu können, erhalten sie meist mehrfach einen „Remix“, also eine individuelle Abänderung des ursprünglichen Witzes. Manchmal wird der Witz verändert, andere Male auf eine völlig neue Situation ausgelegt. Jede Abwandlung legt aber eine neue Ebene über einen stetig wachsenden Insider-Witz – das Meme wird für Außenstehende zunehmend unverständlicher, und die Gruppe an Menschen, die ihn versteht, zunehmend kleiner.
Ein Beispiel davon zeigt das Kampagnenvideo des US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders aus dem Jahr 2020. In diesem sagte er unter anderem: „I am once again asking for your financial support” (z. Dt. “Ich frage Sie erneut nach Ihrer finanziellen Unterstützung”). In Windeseile stürzten sich Internetnutzer auf das Bildschirmfoto dieses Satzes, und fügten zahlreiche Bildüberschriften hinzu, um es auf die verschiedensten Lebenssituationen anwenden zu können: Wie man bei den Eltern um Geld bettelt, sich auf Stipendien bewirbt oder gar wie man sich einen nigerianischen Kronprinzen vorstellen kann, der im E-Mail-Spam landet. So banal wie dieser Satz war: Sanders wurde sofort zum Meme.
Über mehrere Wochen hinweg kursierte Sanders Gesicht im Internet herum – der Witz entfernte sich dabei immer weiter von seinem Original. Bald fragte Sanders nicht mehr nur nach finanzieller Unterstützung, sondern ob man sein Valentinsschatz werde, oder ob eine Person ein paar Minuten, nachdem sie sich vorgestellt hat, ihren Namen wiederholen könne. Noch später war es schon gar nicht mehr Sanders, der fragte: Über seinem Gesicht lag das Bild einer Katze, die „once again“ – erneut – nach mehr Futter fragte, oder Uncle Sam, der „dich“ erneut darum bat, dem Militär beizutreten. Noch weiter durch die Internetspirale und es handelte sich schon gar nicht mehr das Originalbild; so war auf einem Remix des Memes nicht mehr Sanders, sondern der pakistanische Politiker, Imran Khan, zu sehen, der sich erneut, „once again“, an die führenden Politiker der Welt wandte, und fragte: „Was ist mit Kaschmir?“.
Für einen Außenstehenden macht diese finale Version des Memes nur wenig Sinn, zumindest dahingehend, weshalb andere sich an ihm amüsieren – wo soll der Witz darin liegen, dass Imran Khan auf Kaschmir aufmerksam macht? Aber in der Anspielung liegt eben die Anziehungskraft solcher Memes. Die Tatsache, dass nur Eingeweihte Zugang zum Witz haben, inspiriert dazu, ihn immer weiter zu verzerren – wer am Ende den kreativsten Einfall hat, wird in der Welt der sozialen Medien gewinnen.
Durch diesen Reiz werden Memes auch, wie zu sehen, oft für politische Botschaften instrumentalisiert, da Nutzer erkennen, dass sie ihre politischen Meinungen kurz und bündig verpacken können – und somit sehr viel mehr Leute erreichen als über herkömmliche Wege. Imran Khan dabei abzubilden, wie er scherzhaft nach der Unabhängigkeit Kaschmirs fragt, macht es eben sehr viel leichter, diese Ideologie auch über Pakistan hinaus zu verbreiten, anders als es ein Protestaufruf vielleicht tun würde. In diesem Sinne hat Zuckerman vielleicht Recht: Eine süße Katze ist eben nicht immer eine süße Katze – und das Bild eines beliebten Politikers hat oft mehrere Ebenen, als man denkt.
Vereint im Milchkaffee
Wenn es zur Norm wird, Politik durch Memes satirisch darzustellen, werden Memes auch zu mehr als nur heiteren Witzen – sie werden zu Kanälen, um politische Unzufriedenheit auszudrücken, und Mittel, mithilfe derer sich die Dynamiken des politischen Diskurses grundlegend verändern. So auch in Ostasien, angefangen in 2020, wo, anders als bei vielen anderen Protestwellen zuvor, eine Bewegung voll und ganz aus dem Internet entsprang: die Milk Tea Alliance.
Die Milk Tea Alliance begann als Internetkrieg zwischen thailändischen und chinesischen Twitternutzern. Auslöser war ein bekannter thailändischer Schauspieler gewesen, der auf Instagram mehrere Beiträge, die die Gebiete Hongkong und Taiwan als „Staaten“ bezeichneten, mit „Gefällt mir“ markiert hatte. Chinesische Nutzer zeigten sich empört über diese vermeintliche Beleidigung der Volksrepublik China und begannen, ihn und andere Thailänder, die den Schauspieler verteidigten, auf Twitter mit Kritik zu bombardieren. Sie griffen zunächst ihn und später die thailändische Regierung an, im Glauben, damit die Thailänder zu beleidigen. Stattdessen drehten diese jedoch den Spieß um und fingen an, selbst über ihre Regierung herzuziehen, gegen die sie in der letzten Dekade schon zahlreiche weitreichende Proteste organisiert hatten.
Bald mischten sich auch andere Nutzer ein, vor allem aus Hongkong und Taiwan selbst. Sie eilten den Thailändern zu Hilfe, um sich gegen die Chinesen zu stellen – eine Art Allianz formte sich. In kürzester Zeit fingen die Internetkrieger an, Memes zu erstellen, die die drei Gruppierungen in einem vereinten Kampf gegen die Chinesen abbildeten. Die Gemeinsamkeit, auf die sie sich dabei beriefen, war Milk Tea, ein Getränk, welches in allen drei Orten auf verschiedene Arten konsumiert wird: In Hongkong heiss, schwarz und stark, ist der klassische Milk Tea in Taiwan stattdessen das, was wir unter „Bubble Tea“ verstehen – ein kaltes, süßes Getränk mit Tapiokaperlen, die mit einem Strohhalm hochgesaugt werden. In Thailand hingegen wird dem Getränk durch verschiedene Gewürze eine orangene Farbe verliehen, und der Tee ebenfalls kalt serviert.
Das Milk Tea wurde somit zur Allegorie für den Krieg, den die Demonstranten führten. Genauso wie beim Tee waren ihre politischen Anstrengungen verschieden – den gemeinsamen Nenner fanden sie im Kampf selbst: gegen Autoritarismus und für Demokratie. Daraus entsprang wenig später das bezeichnende Hashtag: die #MilkTeaAlliance war geboren. Schon bald wurden unter diesem allerlei Proteststrategien zum Kampf gegen das Regime ausgetauscht.
Eine Bewegung wächst
Im Kampf, zu dem die Internetnutzer gegen ihre Regierung ausriefen, stellten die Demonstranten ernste Forderungen. Und doch hätte das Material, mit dem sie demonstrierten, nicht weiter davon entfernt sein können. Schwerwiegende, antiautoritäre Protestschreie wurden mit Cartoon-Bildern von verniedlichten Milk Tea Getränken verbreitet. Es war der Versuch, den Humor im eigenen Leid zu finden, und zwar so subversiv, dass die meisten Internetzensuren umgangen werden konnten. Schließlich ist erstmal nichts illegal daran, Memes über so banale nationale Gemeinsamkeiten wie Teekonsum zu verbreiten.
Viele klassische Memeformate, die bereits in den Jahren zuvor im Internet die Runde gemacht hatten, erhielten nun einen „Remix“, mit dem sie der aktuellen Sache angepasst wurden. Die meisten jungen Internetnutzer konnten sich dadurch sofort mit den politischen Botschaften identifizieren; die Formate waren ihnen bekannt und somit die Hemmschwelle, mit ihnen zu interagieren, deutlich niedriger.
Über kurz oder lang wuchs daraus eine ganze Bewegung. Das Hashtag sammelte elf Millionen Tweets in zwölf Monaten und erhielt zum einjährigen Jubiläum im April 2021 sein eigenes Icon von Twitter. Neben jedem „#MilkTeaAlliance“ erscheint nun auf Twitter eine kleine Grafik eines Getränks im Plastikbehälter – ein Status, der sonst Bewegungen wie den Black Lives Matter Demonstrationen vorbehalten war. Auch über Thailand, Taiwan und Hongkong hinaus verbreitete sich das Hashtag bis nach Indien und Myanmar, wo burmesische Jugendliche während des Militärputsches begannen, Proteststrategien mit Hongkongern und Thailändern auszutauschen. Myanmar wurde dabei in vielen Kreisen zum vierten offiziellen Mitglied der Internetkoalition ernannt. Später erhielt die Allianz sogar Unterstützung von taiwanesischen und indischen Regierungsmitgliedern und einer Handvoll US-amerikanischer Senatoren.
Im Laufe von 2020 und 2021 fingen junge Thailänder an, aus Protest gegen die monarchische Regierung auf die Straße zu strömen, zum Teil ebenfalls inspiriert durch die vorangegangene Mobilisierung der Milk Tea Alliance. Viele ihrer Demonstrationen wurden niedergeschlagen, während Petitionen und Meinungen im Netz aufgrund der strikten lèse-majesté Gesetze blockiert wurden. Durch die Onlinekoalition jedoch konnte die Bewegung auch mehrere tausende Kilometer weiter weg Unterstützung finden: sowohl in Hongkong, als auch in Taiwan protestierten Studenten für mehr Demokratie in Thailand – in ihren Händen Schilder, die auf Milk Tea hinwiesen.
Eine kollektive Identität
Was als einfaches Teilen von Memes begann, hatte sich schon Ende 2021 in ein transnationales Netzwerk verwandelt – ohne Hierarchie oder organisierter Kooperation, dafür aber mit unerschütterlicher Unterstützung für andere Mitglieder in der Allianz. Den Demonstrierenden wurde klar, dass sie eine ganze Bewegung mobilisieren konnten, wenn sie einfach den Humor in ihrer Situation fanden. Besonders die Milk Tea Memes, die subversiv den Kampf für die Demokratie verpackten, schienen wahnsinnig effektiv zu sein. Für diejenigen, die sie nicht verstanden, gab es meist keine konkreten Anhaltspunkte, um den Witz zu zensieren. Für diejenigen, die sie verstanden, wuchs die Wirkung der Botschaft mit jeder zusätzlichen Ebene exponentiell – und damit auch ihre kollektive Identität.
Natürlich versteht es sich, dass ein autoritäres Regime nicht durch Memes gestürzt werden kann. Der Trend des „Slacktivism“, wie es oft betitelt wird – ein Begriff, der den „Slacker“, einen faulen, motivationslosen Jugendlichen, und „activism“ vereint – ist eine der besorgniserregenderen Auswirkungen solcher Online-Bewegungen. Es ist unglaublich einfach, online zu demonstrieren – und somit unglaublich schwer, es effektiv zu machen. Wenn die Hemmschwelle für die Teilnahme an einem Protest nur ein Retweet ist, dann kann beinahe jeder zum Aktivist werden, ohne wirklich etwas beigetragen zu haben. So brachte die Milk Tea Alliance weder eine Veränderung, noch eine Beseitigung der Regime herbei, gegen die sie kämpfte – aber vielleicht ist das nicht der Standard, an dem man den Erfolg messen sollte. Vielleicht sollte dieser viel mehr an der Nachricht gemessen werden, die solch eine Bewegung ausstrahlt: Dass Gesetze zur Internetzensur nur so weit gehen können. Dass autoritäre Regime vor einem ganz neuen Problem stehen. Zumindest strahlt es die Nachricht aus, dass das der Beginn einer politischen Generation ist, die komplett anders aufgestellt ist, als die, die vor ihnen da war.
Die Welt schaute zu, als soziale Medien eine neue Form des Protestes im Nahen Osten und Nordafrika formten – jetzt können wir beobachten, wie dieser Effekt durch neue soziale Bewegungen in Asien nur noch weiter verschärft wird. Soziale Medien werden zur Säule unserer Gesellschaft, durch die Menschen sich über Grenzen hinweg vernetzen, die früher enorme Hürden dargestellt hätten. Und obwohl sich vielleicht noch nichts verändert hat, so ist das Formen einer kollektiven Identität doch sicherlich der erste Schritt in Richtung eines neuen Ziels.