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Zwei der profiliertesten Dissidenten sehen dabei deutliche Anzeichen für eine Schwächung der Diktatur. Beide hoffen auf den Anfang vom Ende des Castro-Regimes. Damit es jedoch wirklich bald soweit kommt, sei internationale Solidarität mit der demokratischen Opposition von überragender Bedeutung.
Wenn er an die hinter ihm liegende elfmonatige Haft denkt, wird der sonst so fröhliche Arzt Darsi Ferrer plötzlich ernst. “Das war schlichtweg die Hölle”, berichtet er – und von zwei Quadratmetern Raum pro Person sowie Mahlzeiten, die eigentlich für Schweine gedacht waren. Diese Leidenszeit liegt nun hinter Ferrer. Als einer der ersten Oppositionellen kam er am 22. Juni dank der Verhandlungen zwischen der katholischen Kirche, der spanischen Regierung und der Castro-Diktatur frei. Im Unterschied zu 26 anderen freigelassenen Dissidenten durfte er jedoch zu seiner Frau und seinem Sohn nach Havanna zurückkehren und wurde nicht vor die Wahl zwischen Gefängnis und Exil gestellt. In der Haft hatte Ferrer weiter für die demokratische Opposition gearbeitet. “Fast jede Woche habe ich irgendetwas herausgeschmuggelt”, berichtet er. Nur dank dieser “inneren Rebellion” habe er das Gefängnis überhaupt aushalten können. Ferrers Wille ist ungebrochen: “Sie können mich gerne wieder verhaften. Ich werde immer rebellisch bleiben”. Das kubanische Justizsystem akzeptiert er nicht: “Vor ein paar Tagen hat mir ein älterer Herr eine Vorladung zum Gericht gebracht. Ich habe sie zerrissen und gesagt: Wenn Ihr mich wieder verhaften wollt, kommt bitteschön mit einer Patrouille. Ich trete nicht vor ein illegales Tribunal.“ In den letzten zwei Monaten hat der Menschenrechtsverteidiger weitere Repressalien erdulden müssen. Manche davon erscheinen geradezu absurd. Vor wenigen Tagen hätten Agenten im Auftrag der Regierung einfach die Glasfenster aus seiner ärmlichen Erdgeschosswohnung herausgeschnitten, berichtet er.
Comeback Fidel Castros schafft Chaos in Kuba
Trotzdem wirkt Darsi Ferrer hoffnungsvoll. Grund dafür sind vor allem die Ereignisse der letzten Wochen. Lange spricht Ferrer über das Wiederauftauchen Fidel Castros auf der politischen Bühne. Im Unterschied zu manchen anderen jedoch sieht er dieses keinesfalls als Anzeichen für eine bevorstehende Verschärfung der Repression. Im Gegenteil: “ Wenn Fidel im Fernsehen Interviews gibt, versteht man ihn kaum noch. Die ganze Welt sieht gerade, wie er senil wird. Und das sehen auch wir Kubaner.” Auch wenn der gerade 84 gewordene “Revolutionsführer” in seitenlangen Reflexionen in der Staatszeitung “Granma” völlig aus der Luft gegriffen vor einem bevorstehenden Atomkrieg warne, demontiere er sich weiter selbst. Die Kubaner seien nicht so dumm, all dies zu glauben, ist Ferrer überzeugt.
Vor allem aber entstehe durch das Wiedererscheinen Fidel Castros ein Machtvakuum: “Keiner weiß derzeit so genau, wer eigentlich in Kuba das Sagen hat – Fidel, Raul oder sonst wer”, glaubt Ferrer. Die Situation in Kuba “chaotisiere” sich zusehends. Das Regime sei zu sehr mit sich selbst und seinem eigenen Überleben beschäftigt, um Zensur und Bespitzelung so effektiv durchsetzen zu können, wie noch vor wenigen Jahren. Laut Meinungsumfragen, die Ferrer durchführt, erlebt die Regierung derzeit einen Tiefpunkt ihrer Popularität. Weniger als zehn Prozent der Befragten haben demnach ein positives Bild von Raul Castro.
Darsi Ferrer sieht deshalb ein Zeitfenster, in dem die Opposition stärker öffentlich in Erscheinung treten kann. Wichtig sei es jetzt vor allem, die verschiedenen Oppositionsgruppen und Parteien hinter einige zentrale Forderungen zu versammeln und diese ganz öffentlich an die Regierung zu stellen. Die demokratische Opposition sieht er vor einer großen Herausforderung: “Bis jetzt sind wir vor allem eine moralische Kraft. Wir müssen es jetzt schaffen, auch eine zivile und politische Kraft zu werden”.
Freilassung von Dissidenten soll Regime an der Macht halten
Auch der blinde Bürgerrechtler und Anwalt Juan Carlos Leiva erkennt in der jüngsten Entlassung von bisher 28 politischen Gefangenen vor allem den verzweifelten Versuch einer schwächer werdenden Regierung, sich noch ein paar Jahre länger an der Macht zu halten: “Mit der Freilassung entledigt sich die Regierung gleich mehrerer Probleme”, erklärt der Gründer des “Rates der kubanischen Menschenrechtsberichterstatter”. Zum einen sei der mögliche Hungertod des Dissidenten Guillermo Farinas verhindert worden: “Noch einen Toten nach Orlando Zapata hätte die Regierung nicht ausgehalten”, ist Leiva überzeugt.
Weiterhin sei die Freilassung ein effektives Mittel, die Protestbewegung der “Damen in Weiß” zu schwächen. Diese mit dem Sacharow-Preis des Europaparlaments ausgezeichnete Organisation hatten Ehefrauen und Angehörige der während des “schwarzen Frühlings” 2003 verhafteten 75 kubanischen Bürgerrechtler gegründet. Jeden Sonntag marschieren die Damas de Blanco seitdem weiß gewandet in friedlichem Protest durch die Straßen Havannas, um an das Schicksal der Gefangenen zu erinnern. Jetzt, wo immer mehr dieser 75 Gefangenen frei gelassen würden, breche der Anlass für die “Damen in Weiß” in sich zusammen, zumal einige damals gemeinsam mit den ehemaligen Häftlingen das Land verlassen hätten.
Das wichtigste Ziel der kubanischen Regierung sei jedoch eine stärkere internationale Anerkennung, ist Leiva überzeugt. Besonders entscheidend sei für die Castro-Brüdern ein Auslaufen des “Gemeinsamen Standpunktes” der Europäischen Union zu Kuba aus dem Jahr 1996, der jegliche Beziehung zur kubanischen Regierung an die Achtung grundlegender Menschenrechte knüpft. Juan Carlos Leiva warnt die Europäische Union davor, sich von der Castro-Diktatur beeindrucken zu lassen und den “Gemeinsamen Standpunkt” zurückzunehmen. Damit helfe man der Diktatur möglicherweise dabei, den demokratischen Wandel hinauszuschieben.
Ausbluten der demokratischen Opposition
Juan Carlos Leiva ist dankbar für die Haftentlassungen: “Es ist mir immer noch lieber, wenn die Gefangenen jetzt lebendig ins Exil gehen, als wenn sie irgendwann als halbe Leichen aus dem Gefängnis herauskommen”. Trotzdem blute durch das Exil Dutzender profilierter Oppositioneller die Demokratiebewegung in Kuba aus. “Wir brauchen diese Menschen für den Wandel in Kuba, nicht irgendwo anders auf der Welt”, mahnt Juan Carlos Leiva.
Allgemein macht der blinde Bürgerrechtler einen Taktikwechsel des Regimes aus: “Die Regierung hat ihr Handlungsmuster geändert. Statt Menschen gefangen zu nehmen, versucht man jetzt, sie in der Straße zu kontrollieren”. Deshalb gehörten Einschüchterungen weiter zum Alltag. Er selbst etwa bekomme immer wieder willkürlich den Telefonanschluss abgeschnitten. Zudem werde derzeit stärker auf Kurzzeitfestnahmen gesetzt.
Hoffnung auf einen Wandel
Sowohl Darsi Ferrer als auch Juan Carlos Leiva sehen den Zenit der Castro-Diktatur weit überschritten. Einig sind sich beide auch über das Datum, das den endgültigen Wandel eingeleitet haben könnte – den 23. Februar 2010. An diesem Tag war Orlando Zapata Tamayo nach 86 Tagen Hungerstreik im Krankenhaus von Camagüey verstorben. Darsi Ferrer kann sich vorstellen, dass Zapata als “Märtyrer” für die Freiheit in die Geschichte seines Landes eingehen wird. Ein Anzeichen dafür sei auch die Tatsache, dass die Mutter des Verstorbenen sich derzeit schwersten Repressalien ausgesetzt sehe. Anfang August sei sie in der ostkubanischen Stadt Holguin von einem Spezialkommando der Staatssicherheit brutal zusammengeschlagen worden, berichten beide Menschenrechtsverteidiger übereinstimmend.
Wichtig ist Darsi Ferrer und Juan Carlos Leiva, dass die internationale Gemeinschaft die Dissidenten weiter unterstützt und sich nicht von Zugeständnissen seitens der kubanischen Diktatur blenden last. Im Inneren jedenfalls wollen beide mit unverminderter Kraft weiter für Demokratie und Menschenrechte kämpfen. Notfalls auch ohne Telefonanschluss und Fensterscheiben.
Sebastian Grundberger besuchte im August 2010 im Auftrag der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) Dissidenten in Kuba. Die Menschenrechtsverteidiger Darsi Ferrer und Juan Carlos Leiva sind Gründungsmitglieder der kubanischen Sektion der IGFM.