Einzeltitel
Anfang dieser Woche überraschte die regionale Zeitung “El Diario” der Stadt Juárez mit einer Kommunikationsoffensive an die Kartelle; ganz nach dem Motto “Flucht nach vorne”:
Nachdem das Blatt kürzlich den sechsten Anschlag in nur vier Jahren auf ihre Mitarbeiter erleiden musste, wendet es sich nun direkt an das organisierte Verbrechen. Und fordern wortwörtlich zu einem “Waffenstillstand” auf.
Diese Zeilen sind weit mehr als nur der Versuch, Wörter gegen Kugeln einzutauschen. Sie sind ein weltweit einmalig verzweifelter Ausdruck der journalistischen Hilfslosigkeit, in dem sich Mexikos Presse momentan befindet.
Im Norden Mexikos überlegt sich jeder Journalist zweimal, ob er über einen Delikt eines der vielen Drogenkartelle wirklich berichten und sich damit einen ständigen Begleiter der Angst auf seinem täglichen Weg zur Arbeit schaffen will.
Selbst die Vereinten Nationen schalteten sich Ende August dieses Jahres ein und untersuchten die Lage der Journalisten in Mexiko gemeinsam mit der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), mit dem Ergebnis, dass am mexikanischen Pressehorizont eindeutig Handlungsbedarf besteht. Die Organisation “Reporter ohne Grenzen” stuft Mexiko sogar als für Journalisten gefährlichstes Arbeitgeberland in ganz Lateinamerika ein.
Während die klassische Pressearbeit in dem ehemaligen Land der Azteken und Mayas mit elf ermordeten Journalisten seit allein Anfang dieses Jahres enorm leidet, erfinden sich die Möglichkeiten der öffentlichen Kommunikation vor allem im World Wide Web zunehmend neu.
In einem Land, in dem die klassische Tageszeitung mit im internationalen Vergleich sehr geringen Auflagen kulturell nie wirklich Fuss fassen konnte, schliessen nun zunehmend alternative, digitale Kommunikationskanäle diese Informationslücke.
Insider-Informationen aus dem "Blog del Narco"
So informiert in Zeiten, in denen Venezuela seinen Zeitungen teilweise untersagt, gewaltzeigende Bilder zu veröffentlichen, ein Internet-Blog absolut schamlos über die kriminellen Machenschaften der mexikanischen Kartelle:
Das Phänomen des “Blog del Narco” rätselhafter Herkunft gibt verblüffende Einsichten in die blutigen Geschehnisse im nördlichen Mexikos. Neben sensationsgierigen Bürgern informieren sich nicht nur auch die Polizei, sondern selbst die rivalierenden Kartelle über die jüngsten blutigen Entwicklungen im Land.
Der Betreiber, nach eigenen Angaben ein an Aufklärung interessierter Informatikstudent aus dem Norden, bastelt seine Einträge aus Insider-Informationen zusammen. Diese unterlegt er mit diversen Videos und Bildern, die ihm die Bevölkerung oder Beteiligte zukommen lassen - und oft nichts für schwache Nerven sind. Der Blog ist eine unkonventionelle Informationsquelle, ein neues Internetphänomen, aber auch Selbstdarstellungsplattform der Kartelle in Einem.
Auch die Stadtverwaltung der nördlich gelegten Stadt Nuevo Leon setzt im Kampf gegen das organisierte Verbrechen seit Anfang August auf soziale Netzwerke: Die Stadt mit der weltweit höchsten Mordrate pflegt einen Internetauftritt in Facebook, den die Bewohner als “Freund” hinzufügen können.
Diese Freundschaft zahlt sich aus: Zeitnahe Warnungen erscheinen in dem Facebook-Profil des Nutzers, die ihn beispielsweise vor von den Kartellen immer häufiger initiierten Strassensperrungen rechtzeitig warnen.
Not macht erfinderisch, das gilt im Zeitalter des Internets mit Hinblick auf die Pressefreiheit mehr denn je.
Jedem Einzelnen stehen soziale Netzwerke und Blogs frei zur Verfügung. Dass dabei einerseits die Seriösität und Transparenz der Informationsbeschaffung leidet, ist unumstritten.
Doch auf der anderen Seite steigen die Möglichkeiten durch das Web, sich zu informieren, mitzuteilen und zu verbinden geradezu exponentiell. Und die gefährdete Pressefreiheit kann vorübergehend unter dem Deckmantel der Anonymität arbeiten.
Es gilt, die neu eingeschlagenen digitalen Wege kritisch auf Unebenheiten zu prüfen, verirrende Pfade als solche zu markieren, und der eingeschlagenen Richtung in jedem Falle weiter zu folgen, um die in Mexiko gefährdete Meinungsfreiheit nicht auf halber Strecke zu verlieren.
Frau Vanessa Wonka war von August bis September 2010 als Praktikantin im Länderprogramm Mexiko der Konrad-Adenauer-Stiftung tätig.
QUELLEN
http://mediosenmexico.blogspot.com/
http://www.blogdelnarco.com/
http://es.rsf.org/mexico.html