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Länderberichte

Myanmar drei Jahre nach dem Putsch: wohin steuert das Land?

Richtungsweisendes Jahr für Myanmar – neue Dynamiken, Allianzen und Szenarien für einen „post-war-state“

Am 1. Februar jährt sich der Putsch des Militärs (Tatmadaw) gegen die demokratisch gewählte Regierung um Aung San Suu Kyi bereits zum dritten Mal. Friedliche Proteste im Land werden weiter blutig unterdrückt, die humanitäre Situation ist katastrophal. Fluchtbewegungen vor allem nach Thailand und Indien sowie Kampfhandlungen an der chinesischen Grenze lassen den Konflikt in Myanmar zu einem überregionalen Risiko werden, dem die ASEAN-Staatengemeinschaft bislang wenig entgegenzusetzen hat. Ein bewaffneter Widerstand hat sich mit der People’s Defense Force in weiten Teilen formiert. Dieser erfährt seit Oktober letzten Jahres Unterstützung von einigen mächtigen, hochgerüsteten ethnisch bewaffneten Organisationen im Westen, Norden und Nordosten des Landes. Das Militär wirkt erstmalig verwundbar. Debatten über einen „post-junta“-state nehmen an Fahrt auf, Vorstellungen der am Kampf beteiligten Akteure (Demokratisierung vs. Erweiterung Gebietsansprüche) könnten allerdings unterschiedlicher nicht sein. Ein richtungsweisendes Jahr voller Dynamiken steht in Myanmar bevor.

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Worum geht es?

Am 1. Februar 2021 putschte in Myanmar das Militär gegen die demokratisch gewählte Regierung von Staatsrätin Aung San Suu Kyi (ASSK), deren Partei, die National League for Democracy (NLD) bei der Wahl im November 2020 einen Erdrutschsieg verzeichnen konnte. Am Tag der konstituierenden Sitzung des neu gewählten Parlaments wurden Staatsrätin ASSK, Staatspräsident Win Myint sowie weitere hochrangige Parlamentarier verhaftet, der Ausnahmezustand verhängt und das Internet abgestellt. ASSK wurde wegen verschiedener angeblicher Vergehen zwischenzeitlich zu mehr als dreißig Jahren Haft verurteilt, die Strafe Anfang August 2023 teilweise – aber nicht ernstzunehmend - reduziert. Es ist ersichtlich, dass die Generäle Myanmars über die Personalie ASSK die Beziehungen zur Außenwelt – oder zumindest zur ASEAN – beeinflussen wollen. ASSK, oder auch die „Lady“ genannt, steht als Tochter von Aung San, dem „Vater der Nation“, wie keine andere Person für den demokratischen Aufbruch in Myanmar und war seit 2015/16 als Staatsrätin – eine eigens für sie geschaffene Position aufgrund der restriktiven Verfassung von 2008 – für die zivilen Regierungsgeschicke Myanmars verantwortlich.

Das Land selbst erlebte in den zurückliegenden Jahrzehnten eine turbulente Vergangenheit der politischen Transformation. So gab es verschiedene Stadien der Entwicklung und Öffnung. Nach einem früheren Militärcoup 1962 putschte sich General Ne Win an die Macht in Myanmar und schottete das Land in der Folge für mehr als ein halbes Jahrhundert komplett ab. Die Militärregierung regierte das Land mit eiserner Hand. So wurden friedliche Proteste nach mehr Mitsprache, Demokratisierung und Transparenz wie 1988 und 2007 blutig niedergeschlagen, Wahlniederlagen wie 1990 gegen die NLD nicht eingeräumt und Oppositionelle wie Aung San Suu Kyi bereits damals unter Hausarrest gestellt. Die Militärregierung verlegte 2005 die Hauptstadt von Yangon nach Nay Pyi Taw und änderte zudem drei Jahre später die Verfassung, welche dem Militär die Kontrolle über die drei Ministerien, Verteidigung, Grenzangelegenheiten und Inneres einräumt. Außerdem verfügen sie über einen festen Anteil von 25 Prozent der Parlamentssitze im Ober- und Unterhaus, was einer Sperrminderheit bei Verfassungsänderungen gleichkommt. Die Verfassung schränkt die Beteiligung und Repräsentanz von Minderheiten in der politischen Arena stark ein.

Mit der Ernennung General Thein Seins 2011 als nominal zivilen Präsidenten begann die schrittweise Öffnung des Landes, die in freien und fairen Wahlen 2015 und einem Wahlsieg der NLD unter Führung von Aung San Suu Kyi mündete. Unter der NLD-geführten Regierung von Staatsrätin ASSK wurde vor allem der nationalen Aussöhnung in den Panglong Friedenskonferenzen („Union Peace Conference – 21st Century Panglong“) Priorität eingeräumt, um dadurch die ethnisch bewaffneten Organisationen im Land und das Militär an den Verhandlungstisch zu bringen.

 

Die soziale und politische Lage drei Jahre nach dem Putsch

Die am 1. Februar 2021 erfolgte erneute gewaltsame Machtübernahme durch die Armee nach fünf Jahren ziviler Regierung führte zunächst zu landesweiten friedlichen Protesten („Civil Disobedience Movement“, CDM), denen von den Sicherheitskräften mit zunehmender Brutalität begegnet wurden. Seitdem stehen Massentötungen, willkürliche Verhaftungen, Folter, sexuelle Gewalt und andere Übergriffe auf der Tagesordnung. Auch die Todesstrafe wurde nach Eilverfahren vor Gericht nach mehr als dreißig Jahren wieder an vier Männern vollstreckt. Fotos und Berichte von niedergebrannten Dörfern allen voran in den Regionen Magway und Sagaing sind keine Seltenheit. Die Rede- und Versammlungsfreiheit ist stark eingeschränkt. Immer wieder gibt es Berichte über Luftangriffe und Attacken auf die Zivilbevölkerung, wie beispielsweise im Kachin-Staat während einer Zeremonie im Jahr 2022, als mehr als 100 Zivilisten bei einem Bombardement der Luftwaffe ums Leben kamen. Die unabhängige Assistance Association for Political Prisoners beziffert die Zahl der vom Militär getöteten Menschen (Stand 23. Januar 2024) auf 4.423 Menschen, sowie knapp weitere 26.000 Verhaftete.[1]

Die humanitäre Situation in Myanmar ist drei Jahre nach dem Putsch katastrophal. Die Fortschritte, die während der Phase der Öffnung des Landes, insbesondere unter den zivilen Regierungen ab 2015 erzielt wurden, sind weitestgehend zunichte gemacht. Das Land befindet sich in einem Bürgerkrieg.

Nach neuesten Zahlen des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UN OCHA) sind im Land momentan mehr als 2,3 Millionen Binnenvertriebene (IDPs) zu verzeichnen sowie Zehntausende, die das Land nach Indien und v.a. Thailand verlassen haben.[2] In den Grenzregionen zu Thailand, Indien und China kommt es immer wieder zu Kampfhandlungen, was den Konflikt zu einem überregionalen Sicherheitsrisiko werden lässt. Jüngst schlugen Artilleriegranaten auf der chinesischen Seite der Grenze ein und verletzten fünf Personen. Gegenwärtig plant Indien die Errichtung eines Zauns entlang seiner Grenze zu Myanmar und will ein Abkommen über bestehende Freizügigkeitsbestimmungen von Grenzgängern aufheben, um die hohe Zahl von Flüchtlingen einzudämmen.[3] 

Der Ausnahmezustand wird im Land mittlerweile regelmäßig vom Oberbefehlshaber der Streitkräfte General Min Aung Hlaing verlängert. Die ursprünglich für August 2023 vom Militär anvisierten Wahlen wurden auf unbestimmte Zeit verschoben. Obwohl das Militär seit mehr als zwei Jahren Aufstände blutig unterdrückt und an mehreren Fronten gegen ethnische Minderheiten und die People’s Defense Force (PDF) – den militärischen Arm der demokratisch legitimierten „National Unity Government“ – kämpft, kann von einer Kontrolle über das Land und die ethnisch heterogene Bevölkerung keine Rede sein. Im Gegenteil: weite Teile des Landes werden von ethnischen Minderheiten kontrolliert und der Einfluss des Militärs schwindet zunehmend.[4]

Die Junta übt nach wie vor Kontrolle über das bevölkerungsreiche und wirtschaftlich wichtige Kernland Myanmars, inklusive der Großstädte wie Yangon und Mandalay aus, sieht sich aber zunehmend mit neuen Problemen konfrontiert. So kommt es zu Berichten von Überläufern aus den Reihen des Militärs und vereinzelten Kapitulationen militärischer Einheiten.[5] Die Moral der Soldaten soll an einem Tiefpunkt angelangt sein. Die Einheiten kämpfen nahezu ununterbrochen seit drei Jahren an verschiedenen Fronten, vor allem im Nordosten und Norden des Landes.[6] Die personellen Kapazitäten sind erschöpft und die eingesetzten Einheiten nicht mehr in der Lage, verlorenen Boden zurückzugewinnen.[7]

Der bewaffnete Widerstand aus den Reihen der ethnisch bewaffneten Organisationen und der PDF hat sich zudem zuletzt professionalisiert und sorgt für einen Hoffnungsschimmer seitens der demokratischen Kräfte. Nachdem drei bewaffnete ethnische Gruppen – bekannt als die „Three Brotherhood Alliance“, bestehend aus der Myanmar National Democratic Alliance Army (MNDAA), der Arakan Army (AA) und der Ta'ang National Liberation Army (TNLA) – im Oktober die Offensive „Operation 1027“ im nördlichen Shan-Staat gestartet haben, wächst der Druck auf das Militär. So wurde die Stadt Laukkai an der Grenze zu China erobert, bekannt für Glücksspiel, Prostitution und Onlinebetrug, die der Militärjunta bis dato wichtige Devisen lieferte.[8] Auch die mächtige Arakan Army verzeichnete zuletzt an der Grenze zu Bangladesch und Indien im Westen des Landes militärische Erfolge gegen die Junta nach einer längeren Phase des Waffenstillstands.[9] Nach Angaben der Allianz wurden bislang 250 militärische Außenposten, fünf offizielle Grenzübergänge sowie mehrere Städte eingenommen. Dies sind die größten militärischen Erfolge gegen das Militär und in der Geschichte des Landes beispiellos. Unter chinesischer Vermittlung kam es zwar Mitte Januar zu einem Waffenstillstandsabkommen zwischen der Allianz und dem Militär, dies würde aber laut Berichten nur für die Grenzregion zu China selbst gelten und ist ohnehin fragil.[10]

Der Kontrollverlust über die äußeren Gebiete des Landes bedeutet für die Militärs, nicht mehr über die wichtigen Handels- und Kommunikationsverbindungen nach Indien, China und Thailand zu verfügen. Gerade in diesen Bereichen (v.a. im Nordosten) boomt der Drogenanbau und der illegale Handel mit Holz, Jadesteinen und Waffen. Das Militär versucht, sich unterdessen hauptsächlich mit Luftschlägen zu helfen und eskaliert die Situation zunehmend. Durch die internationalen Sanktionen gegen das Land gelingt es nicht oder nur schwer, Ersatzteile für beschädigte Flugzeuge und Helikopter zu importieren. Die Folge: die Lufthoheit bzw. -überlegenheit schwindet.[11] Bis auf Weiteres ist von anhaltenden Kämpfen und einer damit einhergehenden sich verschlechternden humanitären Situation mit großem Leid für die Bevölkerung in Myanmar auszugehen.

 

Wie steht es um das Militär?

Drei Jahre nach dem Putsch, einem anhaltenden Ausnahmezustand und einer vormals angekündigten militärischen Gegenoffensive, gelingt es dem Militär nicht mehr, den Widerstand der Schattenregierung samt verbündeter ethnisch bewaffneter Organisationen zu brechen. Daneben bemüht sich die Junta vergeblich um internationale Anerkennung. Bis auf Nordkorea, Russland und China unterhält das Militärregime kaum Beziehungen zur Außenwelt und ist international isoliert. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bindet zudem russisches Kriegsmaterial, wodurch weniger militärisches Gerät nach Myanmar geliefert wird. Die Generäle Myanmars wenden sich – aufgrund mangelnder Alternativen – an Nordkorea für den Erwerb von Waffen und Militärflugzeugen.

So wächst der Druck auf das Militär um Oberbefehlshaber General Min Aung Hlaing sowohl intern als auch extern. Die Spaltung zwischen denjenigen, die wollen, dass das Militär die bewaffneten ethnischen Organisationen stärker bekämpft, und denjenigen, die es vorziehen, einen politischen Dialog einzuleiten, könnte sich weiter vertiefen.

Übereinstimmende Berichte legen nahe, dass es der Militärregierung zudem an notwendigen Devisen und Barmitteln fehle.[12] Die Lokalwährung, der Myanmar Kyat (MMK), hat einen enormen Wertverlust (ca. 2/3 gegenüber dem US-Dollar) in den letzten drei Jahren erfahren. Aus Mangel an ausländischen Einlagen sind Arbeiter aus Myanmar im Ausland seit September 2023 verpflichtet, ein Viertel ihrer Gehälter über das offizielle Bankensystem nach Myanmar zu überweisen.[13]  Seit Oktober 2023 gilt zudem, dass insgesamt 2 Prozent des monatlichen Einkommens von im Ausland arbeitenden Burmesen an das Regime zu zahlen sind, ansonsten werden beispielweise Dokumente wie der Reisepass nicht neu ausgestellt oder verlängert.[14]

Auch ist das Halten von ausländischer Währung ohne Genehmigung von offizieller Seite in Myanmar nicht erlaubt und die Zentralbank gab bis vor kurzem einen festen (deutlich unter dem Marktniveau) liegenden Wechselkurs vor. Zuletzt wurde ebenfalls mit Kyaw Min Oo, ein von den USA sanktionierter Waffenhändler für das Militär von Myanmar, am Flughafen in Singapur mit einer halben Million Singapur Dollar (ca. 400.000 USD) aufgehalten.[15] Ein hochrangiger General wurde kürzlich wegen Korruption entlassen. Erstmals in der Geschichte des Landes besteht also so etwas wie die Möglichkeit, dass es innerhalb des Militärs zu einem Aufruhr kommt bis hin zu einer möglichen, völligen Desintegration des militärischen Apparats.

Dennoch gibt der gegenwärtig zu beobachtende erodierende Machtapparat des Militärs noch keinen Grund für zuviel Optimismus. Vorhersagen über den baldigen Zusammenbruch der Junta erscheinen verfrüht und irreführend, dafür verfügt das Tatmadaw nach wie vor über eine zu große Zahl an Soldaten und militärisch-technischer Überlegenheit, strenge Loyalität und profitiert zudem von einem Klima der Angst („collective fear“) innerhalb des Militärapparats und entlang der Hierarchien. Noch ist es eher die Ausnahme, dass es zu Überläufern und Kapitulationen kommt – auch weil die Familie eines Militärangehören z.B. bei Dienstverweigerung unmittelbar in Gefahr gerät. Dennoch scheint es, als sei Myanmars Militär angeschlagen.

 

Ausblick

Die Situation in Myanmar erfährt in den letzten Jahren außerhalb der Region Südostasien wenig Aufmerksamkeit und droht zu einem „vergessenen Konflikt“ zu werden. Die EU und die USA drängen darauf, dass der Konflikt primär durch die ASEAN-Staatengemeinschaft adressiert und in diesem Rahmen gelöst wird.[16] Einige Monate nach dem Staatsstreich einigten sich die ASEAN-Mitglieder und die Junta auf einen sogenannten „Fünf-Punkte-Konsens“. Dieser beinhaltete ein sofortiges Ende der Gewalt im Land, einen Dialog zwischen allen Parteien, die Ernennung eines Sondergesandten, humanitäre Hilfe durch die ASEAN und den Besuch des Sondergesandten in Myanmar.

Allerdings hieß es bereits nach zwei Tagen von Seiten des Tatmadaw, man werde die „Vorschläge der ASEAN in Betracht ziehen, wenn sich die Lage wieder stabilisiert" und dass „der Wiederherstellung von Recht und Ordnung“ Priorität eingeräumt werden würde.[17] Auf dem letzten ASEAN-Gipfel im September 2023, bei dem u.a. die Situation in Myanmar (mit)beherrschendes Thema war, einigten sich die Mitgliedsstaaten auf einen Zehn-Punkte-Plan in der Abschlusserklärung, Fortschritte konnte die ASEAN im Umgang mit dem Land seit dem Putsch allerdings bislang nicht erzielen. Das Fazit der indonesischen Außenministerin, Retno Marsudi, fiel entsprechend nüchtern aus: „Es [gibt] keine nennenswerten Fortschritte bei der Umsetzung des Fünf-Punkte-Konsenses“.[18] 

Die USA hat mit dem „Burma Act“ eine viel beachtetes und umfassendes Gesetzespaket 2022 auf den Weg gebracht (Sanktionen, humanitäre Hilfe, Druck auf Nachbarstaaten).[19] Auch die EU erließ eine Reihe von Sanktionspaketen gegen die herrschende Junta, beispielsweise ein Embargo für Waffen, Ausrüstungen sowie Ausfuhrbeschränkungen für Überwachungsgeräte („Surveillance“) und sogenannte „dual-use-Güter“. Ebenso wurden EU-Finanzhilfen an das Land gestoppt.[20]

Mit der Intensivierung des Konflikts und den jüngsten militärischen Erfolgen der ethnischen Allianz sollten nun zwingend die Debatten nach einem „post-war-state“ oder „post-junta-Myanmar“ geführt werden. Forderungen nach mehr Mitsprache und Entscheidungs- kompetenz in Händen der Teilstaaten gab es bereits bei den Verhandlungen nach der Unabhängigkeit Myanmars („Union of Burma“, Panglong Agreement) und wurden während den Panglong-Friedenskonferenzen ab 2016 erneut aufgegriffen. 

Geht es einigen Ethnien und Gruppen in Myanmar tatsächlich um mehr Autonomie, Mitsprache, Demokratisierung und Implementierung föderaler Strukturen (inkl. der verfassungsrechtlichen Anerkennung ihres Volkes) bis hin zu einer möglichen Abspaltung mancher Gebiete von Myanmar in einem eigenen Staat, wollen andere Gruppierungen hauptsächlich ihre Territorien und ihr Einflussgebiet über den lukrativen Handel von Jade, Drogen, Gas, Öl und Tropenholz ausweiten. Beispielsweise entstanden im Shan-Staat staatsähnliche Parallelstrukturen unter Verwaltung von militärischen Gruppierungen in einem quasi rechtsfreien Raum fernab der Kontrolle von Nay Pyi Taw.

So ist am Ende nicht auszuschließen, dass das militärische Engagement der „Three Brotherhood Alliance“ nicht vielmehr eigenen Interessen dient und nicht dem Kalkül der NUG folgt. Denn während einige Gruppierungen, wie die Karen, die Kachin, die Karenni und die Chin, sich mit der NUG verbündet haben, gilt dies nicht für die größeren Gruppen im Shan-Staat.[21] So könnten sich diese schon mit einer Lösung zufriedengeben, die nicht darauf hinausläuft, die Militärs zu besiegen, sondern lediglich ihr Einflussgebiet zu erweitern. Die NUG wird darum einen Weg finden müssen, die „Three Brotherhood Alliance“ und andere Gruppen auf den gemeinsamen Widerstand und möglichen Machtwechsel einzuschwören.

Wenn sich die vielen ethnisch bewaffneten Organisationen konsequent am bewaffneten Widerstand beteiligen würden, so könne die Militärherrschaft womöglich enden. Die PDF als militärischer Arm der NUG ist dazu allein nicht in der Lage. Die Junta bemüht sich daher in Folge der vielen Frontabschnitte um Waffenstillstandsabkommen, beispielweise mit der mächtigen Arakan Army im Westen des Landes (Rakhine-Staat), mit der lange ein bilaterales Abkommen bestand, das im Laufe der Zeit aber gebrochen wurde.

Es ist zu befürchten, dass nach einem Sieg über den „gemeinsamen“ Feind die einzelnen Gruppierungen und bewaffneten Ethnien schnell die Waffen gegeneinander richten könnten, etwa bei der Kontrolle über wertvolle Ressourcen oder über Handelswege nach China. Bereits jetzt gibt es beispielsweise im Shan-Staat verfeindete Gruppen, zwischen denen es immer wieder zu Kämpfen kommt. Dies erinnert stark an den Widerstand gegen die japanischen Besatzer bis 1945, als verschiedene Gruppierungen gemeinsam für die Befreiung des Landes kämpften, sich dann aber – uneins über die Staats- und Regierungsform – jahrzehntelang gegeneinander wandten. Eine ähnliche Situation gilt es heute unbedingt zu vermeiden, will man das Land auf den kurzen aber hoffnungsvollen Weg der Demokratie zurückführen.

Weiterhin stellt sich die Frage, wer zum einen die NUG künftig anführen soll und zum anderen ob diese Person dann auch über genug Charisma, Profil und Autorität verfügt, um von den unterschiedlichen ethnischen Gruppierungen anerkannt zu werden? Dies geht mit der Einschätzung einher, dass Aung San Suu Kyi viele der Ethnien wie die Kachin im Norden oder die Karen im Osten während ihrer Regierungszeit enttäuscht hatte – beispielsweise bei der Umsetzung föderaler oder autonomer Strukturen. Zudem verteidigte ASSK die Vertreibung und massenhafte Tötung der Rohingya aus Rakhine vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (Vorwürfe des Genozids). Für ein funktionierendes „post-war-Myanmar“ braucht es dringend die Unterstützung fernab des von der Bamar-Ethnie (knapp 70 Prozent der Bevölkerung) dominierten Kernlandes mit Inklusion der Interessen der Grenzgebiete wie Chin, Mon, Shan, Karen. Zusammengefasst fehlt es der Schattenregierung an einer klaren Führungsfigur.

Im Jahr 2025 würden regulär Wahlen im Land stattfinden, sofern das Militär, wie bereits mehrmals angekündigt, diese nicht vorziehen oder absagen sollte. Im Falle vorgezogener Wahlen könnten aktuell gewählte Parlamentarier und Parlamentarierinnen ihr Mandat verlieren. Dann stellte sich die Frage, ob die NUG dann noch die demokratisch gewählte Stimme Myanmars repräsentiere oder ob es der NUG dann gar an Legitimität zur Aushandlung eines „föderalen Myanmars“ fehlte? Denkbar wäre beispielsweise eine Übergangsregierung aus den Reihen der NUG, aber auch hier sollten historische Fehler wie unter der „Anti Fascist Organisation“ von Aung San kurz vor der Panglong-Konferenz 1947 vermieden werden, die sich als einzig rechtmäßige „provisional freedom government“ verstand, wodurch militärische Einsätze gegen „kommunistische Rebellen“ gerechtfertigt wurden – jedoch fanden sich Karen, Shan dadurch nicht repräsentiert.

Neuwahlen auf Basis der Verfassung von 2008 würden gleichzeitig dafür sorgen, dass ethnische Minderheiten weiterhin unterrepräsentiert blieben. Die verschiedenen Gruppen, die sich derzeit gegen die Junta stellen, müssten also zumindest kurzfristig ihre politischen Differenzen überwinden und sich auf eine breite Plattform einigen, die beschreibt, wie Myanmar in Zukunft aussehen und regiert werden könnte. Eine verfassungsgebende Versammlung bestehend aus allen Parteien wäre demnach zielführend – aber mit Verweis beispielsweise auf den Shan-Staat stellt sich auch hier wiederum die Frage, wer diesen dann „offiziell“ repräsentiert und federführend verhandelt?

Die historische Langlebigkeit der Militärs in Myanmar ist ein Faktor, der berücksichtigt werden muss und der oftmals als Grund ausgemacht wird, warum viele Staaten mit der Anerkennung der NUG zögern. Mehr internationale Unterstützung und Aufmerksamkeit würden dem Widerstand weitere Hoffnung und Auftrieb verleihen. Denn drei Jahre nach dem Putsch standen die Chancen auf einen Fall und Zusammenbruch des Militärs nie besser. 2024 dürfte deswegen für Myanmar ein entscheidendes und richtungsweisendes Jahr werden.

 

[1] Assistance Association for Political Prisoners (aappb.org)

[2] High Commissioner to the Human Rights Council: Myanmar Continues its Deadly Freefall into Even Deeper Violence and Heartbreak | OHCHR und Myanmar | OCHA (unocha.org)

[3] India plans to fence off Myanmar frontier (businesstimes.com.sg)

[4] Mehr hierzu: Myanmar’s Junta Is Losing the Civil War | Council on Foreign Relations (cfr.org)

[5] Myanmar military: Myanmar confirms that a key northeastern city near China has been seized by an armed ethnic alliance - The Economic Times (indiatimes.com)

[6] Die People’s Defense Force verfügt selbst über deutlich weniger Schlagkraft und Ausstattung als einige der hochgerüsteten, gut ausgebildeten ethnisch bewaffneten Organisationen, die es bereits seit dem Bestehen der Union of Burma gibt. Einige der EAOs versorgen die PDF aber mit Waffen, Ausbildung und unterstützen z.T. den Kampf gegen die Junta (wenn auch aus teils anderer Motivation heraus). Die PDF hat sich als bewaffneter Widerstand in Folge des Putsches und der blutigen Niederschlagung durch das Militär geformt (existiert also erst seit relativ kurzem). Zu Beginn v.a. Abschläge auf Telefonmasten, Überwachungstechnologie

[7] The Myanmar Army Could Actually Collapse—But Are the United States and Other Powers Ready for Such a Scenario? | Council on Foreign Relations (cfr.org)

[8] Vor allem in den Grenzregionen zu China finden viele organisierte kriminelle Machenschaften (in sog. „scam centres“) statt, einschließlich Internetbetrügereien, die von chinesischen Investoren in Absprache mit lokalen und vom Militär unterstützen Warlords in Myanmar ausgeübt werden.  

[9] Arakan Army resistance force says it has taken control of a strategic township in western Myanmar | AP News und Arakan Army attacks junta, ending year-long ceasefire in Rakhine state — Radio Free Asia (rfa.org)

[10]  Myanmar Junta and Ethnic Guerrilla Groups Agree to Ceasefire | TIME

[11] The Myanmar military’s air superiority is slipping away amid sanctions and opposition attacks — Radio Free Asia (rfa.org)

[12] https://edition.cnn.com/2023/11/28/asia/myanmar-nationwide-offensive-junta-intl-hnk/index.html und https://www.ohchr.org/en/press-releases/2023/11/military-coup-has-exacerbated-already-severe-climate-risks-myanmar-un

[13] ‘We don’t have a choice’: Junta puts the squeeze on overseas workers | Frontier Myanmar

[14] Junta threatens unauthorized foreign currency holders as Myanmar kyat tanks — Radio Free Asia (rfa.org)

[15] Notorious Myanmar Arms Broker Convicted of Cash Smuggling in Singapore  (irrawaddy.com)

[16] Myanmar ist ebenso Teil der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN).

[17] GNLM2021-04-27-red.pdf (burmalibrary.org)

[18] ASEAN leaders urge Myanmar junta to stop attacks on civilians (france24.com)

[19] Mehr Informationen hier: What the BURMA Act Does and Doesn’t Mean for U.S. Policy in Myanmar (csis.org)

[20] Myanmar/Burma: EU imposes sixth round of sanctions against 9 individuals and 7 entities - Consilium (europa.eu)

[21] “Continuing Violence in Haiti, Myanmar and Gaza” - Conflict Weekly #212, 25 January 2024, Vol.5, No.4. National Institute of Advanced Studies (NIAS), Bangalore.

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Andreas Michael Klein

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Leiter des Regionalprogramms Politikdialog Asien

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