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Länderberichte

Brasilien im Gipfelrausch: Neutral und pragmatisch

von Maximilian Hedrich, Philipp Gerhard

Mit seiner pragmatischen Äquidistanz stößt der Gastgeber des diesjährigen G20-Gipfels außenpolitisch an seine Grenzen, seine Neutralität bietet aber auch Chancen

Durch einen stringenten Neutralismus und eine gute Portion an Pragmatismus verfügt Brasilien über viele Optionen, um seine Außen- und Handelsbeziehungen zu diversifizieren. In Zeiten von multiplen Krisen stößt diese Strategie teilweise an ihre Grenzen. Die eskalierenden weltweiten Konflikte erfordern deutliche Bekenntnisse und klares Handeln. Multiple Interessen sind genauestens abzuwägen und enge Bindungen werden schwieriger – und zwar in alle Himmelsrichtungen. Brasilien ist ein gefragter Partner, der im brasilianischen G20-Jahr selbstbewusst auf der internationalen Bühne auftritt. Deutschland und Europa sind gut beraten, die noch offenen Türen nicht zu schließen.

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Pragmatismus als Leitlinie

Auf die Euphorie vieler Europäer folgte ein jähes Erwachen in der weltpolitischen Realität. Kaum war die Wahl Lula da Silvas Ende 2022 zu seiner dritten Präsidentschaft – und vor allem die Abwahl Jair Bolsonaros – besiegelt, rollte ein Tross von Delegationen aus Europa an, um Brasiliens Comeback auf der internationalen Bühne zu feiern und den von beiden Seiten eingeschränkten Dialog zu reaktivieren. Anders als Bolsonaro würde Lula sicherlich Munition oder Waffen an die Ukraine liefern und sich klar in die Reihe der Staaten einreihen, die Putins Russland die Grenzen aufzeigen wollen. Dies war eine klare, vielleicht auf Unwissenheit, vielleicht auf Desinteresse basierende Fehleinschätzung. Mit seiner Außenpolitik kehrte der alte, neue Präsident Brasiliens wieder auf einen Kurs der Neutralität und des Pragmatismus zurück, der seit Jahrzehnten die Diplomatie des fünftgrößten Landes der Erde prägt. Aus dem für Brasilien weit entfernten Konflikt in der Ukraine hält man sich bis heute weitestgehend heraus, sowohl mit Waffenlieferungen als auch mit deutlichen Unterstützungsbekundungen für die überfallene Ukraine.

Diese Haltung einzig durch die wichtigen russischen Düngemittelimporte und den latenten anti-US-Amerikanismus zu begründen, würde zu kurz greifen. Mit der strikten Nichteinmischung soll nicht nur die außenpolitische Unabhängigkeit gewahrt bleiben, sondern dem Land selbst auch alle Optionen, vor allem wirtschaftlich, offengehalten werden. Bereits während des Kalten Krieges ging Brasilien auf Distanz zu den beiden Supermächten in Ost und West und konnte damit immer wieder Zugeständnisse erreichen. Konsequenterweise reihte sich das Land aber auch nicht in die Blockfreien ein, denen es zwar rhetorisch beipflichtete, dennoch aber seine eigene Sphäre wahrte. Auch in der sich gegenwärtig rasant verändernden Weltlage vermeidet es Brasilien aktiv Partei zu ergreifen und agiert als diplomatischer Vermittler für Frieden und Wortführer des sogenannten „Globalen Südens“. Waffenlieferungen an die Ukraine werden weiterhin kritisiert, iranische Drohnen gerichtet gegen Israel und nordkoreanische Soldaten als Unterstützer von Putins Armee bleiben unkommentiert, die russische Invasion als solche allerdings ebenfalls verurteilt. Stets betont die brasilianische Regierung, dass man den Krieg Putins ablehnt, aber bei der Konfliktlösung auf Diplomatie statt militärischer Unterstützung für die Ukraine setzt.

In Hinblick auf die arabische Welt wird das Vorgehen Israels in Gaza und im Libanon verurteilt, israelische Rüstungs- und Technologiegüter dennoch gerne bezogen. Hierbei spielen innenpolitische Gesichtspunkte eine wichtige Rolle. Auf der einen Seite lebt in Brasilien die größte libanesische Gemeinde der Welt außerhalb des Libanons. Auf der anderen Seite gibt es eine wichtige jüdische Gemeinde, zudem gewinnen die Evangelikalen, die klar auf der Seite der israelischen Regierung stehen, immer mehr an politischem Einfluss. Ein innenpolitischer Balanceakt. Gegenüber der von den meisten westlichen Ländern deutlich kritisierten Wahlfälschung in Venezuela reagierte Brasília zunächst indifferent und dann widersprüchlich. Auch den aufziehenden Dualismus zwischen China und den Vereinigten Staaten beäugte man bis zur erneuten Wahl Donald Trumps aus der scheinbar sicheren Entfernung mit Gelassenheit. Die brasilianische Rechte um Ex-Präsident Bolsonaro wittert nun jedoch Morgenluft.

Durch seine Offenheit in alle Richtungen nutzt Brasilien die in den vergangenen Jahren zu beobachtenden Machtverschiebungen und sucht zum Vorteil seiner eigenen wirtschaftlichen Entwicklung pragmatisch von den neuen geopolitischen Konstellationen zu profitieren.

 

Von Gipfel zu Gipfel: G20, BRICS+, COP30

Nach der Rückkehr Lula da Silvas an die Macht und durch die Organisation mehrerer politischer Großereignisse ist Brasilien rapid auf die internationale Bühne zurückgekehrt. Die Vorbereitung des G20-Gipfels stand in den letzten 12 Monaten an oberster Stelle. Der Austragungsort Rio de Janeiro erlebte einen regelrechten Veranstaltungstsunami. Die brasilianische Regierung legte jedoch sehr großen Wert darauf, viele Ministerialtreffen in anderen Teilen des geographischen Riesenlands abzuhalten, um den Gästen die Diversität des Landes und dessen unterschiedliche Realitäten näher zu bringen. Die G20-Präsidentschaft nutzte die Regierung geschickt, um wichtige Themen der eigenen Agenda auf der internationalen Bühne zu platzieren. Unter dem Leitthema „Eine gerechte Welt und einen nachhaltigen Planeten gestalten“ legte Brasilien pragmatisch und rational folgende drei Prioritäten seiner Präsidentschaft fest: soziale Inklusion und Kampf gegen den Hunger und Armut, Kampf gegen den Klimawandel und nachhaltige Entwicklung in ihren sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Aspekten sowie eine Reform der Institutionen der Weltordnungspolitik, die die Geopolitik der Gegenwart berücksichtigt. Diese Themen zeigen wie Brasilien den Spagat zwischen Entwicklungsland und Industrienation vollzieht. Mit der Forderung nach einer internationalen Reichensteuer agiert man geschickt als Stimme des „Globalen Südens“ und bekundet durch die Forderungen nach einer Reform der UN-Institutionen und für einen Sitz im UN-Sicherheitsrat den eigenen, auch überregionalen, Machtanspruch. Brasilien reicht der Platz am Katzentisch nicht mehr, man strebt nach mehr. Dass die Reform der internationalen Finanz- und Wirtschaftsinstitutionen sowie die der UN unumgänglich ist, wurde auch während der G20-Ministerialtreffen und bei der letzten UN-Generalversammlung deutlich. Experten sprechen bereits von einem systemischen Tipping Point. Nicht ob reformiert werden soll, sondern wie reformiert werden soll, muss nun dringend international diskutiert werden. Eine gute Grundlage hierfür bietet die Arbeit der diesjährigen T20-Gruppe bestehend aus internationalen Think Tanks und Forschungszentren.

Ansätze zur Eindämmung der globalen Ungleichheit sind lobenswert und verdienen sicherlich ihre Agenda auf dem G20-Gipfel, denn auch dieses Problem ist brisant wie nie. Bei allen Erfolgen, die die brasilianische G20-Präsidentschaft bereits jetzt in den oben genannten Themenkomplexen vorzuweisen hat, bedarf es aufgrund der gegenwärtigen Polykrisen Polyantworten. Also auch einer klaren Positionierung zu harten sicherheitspolitischen Themen. Selbst wenn Brasilien als Gastgeber explizit nicht über die zunehmend instabile Sicherheitsarchitektur konferieren möchte, sind auf dem G20-Gipfel vom 18.-19. November die geopolitischen Herausforderungen kaum zu ignorieren. Auch im nächsten Jahr wird die Weltgemeinschaft zu Gast sein, wenn Brasilien den BRICS+-Gipfel und im November 2025 die UN-Klimakonferenz COP30 in Belém im Bundesstaat Pará organisiert. Gespannt wird die Welt darauf blicken, welche Themenschwerpunkte das Land mit dem größten Anteil des Amazonasregenwaldes setzen wird und wie sich Brasilien im BRICS+ behauptet.

 

BRICS+, ein Plus zu viel

Auch der brasilianische Neutralismus gilt in jede Richtung und zeigt dem Pragmatismus Grenzen auf. Brasiliens Vorgehen in der BRICS+-Staatengruppe macht dabei keinen Unterschied. Der zunächst aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika bestehende Verbund wird von vielen Nichtmitgliedern aus dem Westen gerne als anti-westliches Projekt dargestellt und interpretiert. Und tatsächlich vermochte es chinesisches Werk und russischer Beitrag, dass sich das jüngst durch mehrere + ergänzte Format in diese Richtung entwickelt. Iran als einer der neu beigetretenen Staaten spricht Bände, ebenso wie die von Russland zum diesjährigen BRICS+-Gipfel in Kasan eingeladenen Gastländer Belarus, Kuba und Venezuela.

Für Brasilien, wie auch Indien, ist die BRICS-Gruppe, sei es mit oder ohne +, keine anti-westliche Initiative, sondern vielmehr eine Plattform, um den Status quo des internationalen Systems zu reformieren und eine Diversifizierung der eigenen Wirtschaftsbeziehungen voranzutreiben. Dies wird von beiden regionalen Giganten öffentlich stets beteuert. Zweifelsohne ein außenpolitischer Balanceakt. Brasilien und Indien eint ihr Ausschluss vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, wie auch eine grundlegende Skepsis gegenüber weltwirtschaftlichen Bretton Woods-Institutionen, wie dem IWF. Doch regt sich vonseiten insbesondere Brasiliens auch Skepsis gegenüber einer Erweiterung des BRICS-Formats. Gegen die jüngst erfolgte Erweiterung hatte das Land intensiv auf höchster diplomatischer Ebene gearbeitet. Brasilien wollte seinen Einfluss innerhalb der Gruppe nicht verwässern und den exklusiven Charakter des Verbundes erhalten. China ließ jedoch nicht mit sich diskutieren, zeigte all seine Stärke und drückte die Erweiterung ohne Rücksicht auf seine „Partner“ durch.

Gegen einen möglichen neuen Beitrittskandidaten legte Brasília, für den internationalen Beobachter vielleicht überraschend, in Kasan sein Veto ein: Venezuela. Caracas hatte zuvor einmal zu oft den außenpolitischen Berater Celso Amorim sowie die gesamte Regierung Lula da Silvas öffentlich angegangen und beleidigt. Das „Nein“ des großen Nachbarn wurde von Caracas erneut mit schrillen Tönen quittiert, die seitdem für zusätzliche Dissonanzen in den brasilianisch-venezolanischen Beziehungen sorgen. Brasiliens Veto zeigt die Grenzen des eigenen Pragmatismus auf. Es war nicht erwünscht, die BRICS+ nach der ersten Erweiterung noch weiter gegen den Westen zu positionieren und ausgerechnet den Staat in der Region, der sich an Russland schmiegt, als zweiten Vertreter Südamerikas in die BRICS-Gruppe aufzunehmen.

Damit bleibt Brasilien vorerst das einzige Land Süd- als auch Lateinamerikas, das dem Staatenverbund angehört, was auf eine andere Grenze des Pragmatismus verweist. Bei so viel abwägender Distanz fehlt die Nähe zu richtigen Verbündeten. Die im wahrsten Sinne des Wortes naheliegenden Kandidaten wären die unmittelbaren Nachbarn. Die regionale Integration Südamerikas krankt jedoch bis heute an fehlendem Handeln und klaren Bekenntnissen aller Beteiligten. Brasilien, als Kontinent im Kontinent, dominiert zwar wirtschaftlich die Region, versäumte es aber in der Vergangenheit eine wirkliche politische Führungsrolle zu übernehmen bzw. wurde diese von seinen Nachbarn auch nie wirklich eingefordert oder diese sogar mit Skepsis betrachtet. Auch der regelmäßige Flirt mit den „Entwicklungsländern“ und insbesondere den Avancen gen Afrika fehlt es oft an Substanz. Auch hier verhindert der Pragmatismus ein ernsthaftes Engagement. Kommt man in Brasília dann doch oft zu dem Ergebnis, dass andere Partner politisch und wirtschaftlich relevanter sind. Brasilien vermag es jedoch gekonnt, situationsbedingt von der Rolle des Entwicklungslands in die der Industrienation zu wechseln.

 

Letzte Chance für Europa?

Das brasilianische Veto gegen den Beitritt Venezuelas auf dem BRICS+-Gipfel in Russland sowie die Absage an China, dessen Neue Seidenstraße-Initiative beizutreten, zeigt, dass Brasilien weiter ein Teil des Westens ist und bleibt, auch wenn es ab und zu andere politische Wege einschlägt und für die Europäer teilweise überraschende politische Allianzen eingeht. Für die Europäer öffnet sich aktuell wieder einmal eine Tür, wieder einmal wurde ihnen der Ball zugespielt. Bleibt zu hoffen, dass sie ihr Zaudern aufgeben und sich auch in der Praxis für eine engere Beziehung zu Lateinamerika einsetzen. Reine Lippenbekenntnisse reichen schon lange nicht mehr aus. Ein notwendiger, mehr als überfälliger und fast unumgänglicher Schritt wäre die Finalisierung des Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Union und dem MERCOSUL, das seit nunmehr über zwei Jahrzehnten in der Schwebe hängt. Experten sprechen von der letzten Gelegenheit, um das Abkommen noch zu retten. Auf südamerikanischer Seite ist man bereit, es hapert an den Europäern. Die erneute Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten schafft hoffentlich den entscheidenden Druck bei allen Beteiligten in Brüssel, um das Abkommen im Dezember beim MERCOSUL-Gipfel in Montevideo zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Für beide Seiten steht viel auf dem Spiel. Eine Unterzeichnung noch in diesem Jahr wäre ein deutliches Zeichen in Richtung Washington und Beijing sowie ein wichtiges Bekenntnis zum Freihandel und gegen den zunehmenden Protektionismus.

Schon allzu häufig wurde – vollkommen zu Recht – festgestellt, dass Lateinamerika und Europa komplementäre Partner sein könnten, dass Lateinamerika als demokratische Region ein natürlicher Verbündeter sein müsste, dass Lateinamerika ein zuverlässiger Standort für die Verwirklichung der Energiewende sein würde.

Es blieb dabei jedoch oft bei den Konjunktiven. Trotz der vielfach beschworenen Begegnung auf Augenhöhe ignorieren die Europäer immer noch, dass aus europäischer Sicht betrachtet wohlmeinende Hinweise leicht mit ignoranten Anweisungen verwechselt werden können. Jüngst sorgte die sogenannte „EU-Entwaldungsverordnung“ insbesondere bei den Brasilianern für Kopfschütteln. An sich ist deren Inhalt, den Import von Produkten aus nachweislich gerodetem Gebiet in die EU zu verbieten, plausibel. Die Verordnung wurde jedoch, ohne bereits ausgefeilte lokale Gesetzgebung in Betracht zu ziehen und ohne vorherigen Dialog, unilateral in Brüssel beschlossen. Ihren Unmut hierüber bekundeten die Brasilianer gegenüber Vertretern der EU bei vielen öffentlichen Veranstaltungen im Vorfeld des G20-Gipfels deutlich. Immerhin wurde mittlerweile das Inkrafttreten der Verordnung um 12 Monate verschoben. Mit einem Übermaß an Vorschriften und einem Mangel an attraktiven und unbürokratischen Angeboten, wird Europa seinen bereits sinkenden Einfluss noch weiter reduzieren. In Zeiten eines zunehmenden Gegensatzes zwischen den Vereinigten Staaten im Westen und der Volksrepublik China im Osten erscheint das Zaudern der Europäer anachronistisch und vor allem aus wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten realitätsfern. Während die Konkurrenz aus Fernost zunimmt und nicht mehr nur quantitativ, sondern auch qualitativ hier, wie in Europa an Marktanteilen gewinnt, locken die Nordamerikaner mit günstigen Energiepreisen und niedrigen Unternehmenssteuern. Europa droht unterdessen zwischen den beiden Polen aufgerieben zu werden.

 

Zusammenarbeit mit Freunden

Bei alldem ist bemerkenswert, dass Deutschland und Europa ein weiteres Mal eine Chance erhalten. Der Pragmatismus und die Neutralität Brasiliens hat auch ihre guten Seiten. In der jüngeren Vergangenheit, auch in Folge der durchgedrückten BRICS-Erweiterung, wird die immer größer werdende Abhängigkeit von China in Brasilien zunehmend kritisch hinterfragt. So entschied das Land vorerst kein Teil der Neuen Seidenstraße-Initiative zu werden. Eine Überraschung für Beijing. In Brasília hält man sich zwar in guter Tradition alle Optionen offen und betonte, dass die Absage keine definitive wäre, doch lässt sich ein gewisses Misstrauen gegenüber den Chinesen kaum leugnen. Brasilien ist gegenüber dem Reich der Mitte, anders als viele andere Staaten, in einer Position der Stärke, so verfügt es als eines der wenigen Länder über einen Handelsüberschuss. China importiert Soja, Rindfleisch und Eisenerz in rauen Mengen und wird zukünftig mehr von den Rohstoffen des südamerikanischen Landes benötigen. Für die Wertschöpfung vor Ort unternahm die Volksrepublik bislang jedoch wenig. Handelsbeziehungen sind schließlich nicht mit Direktinvestitionen zu vergleichen. Und hier kommt wieder Europa und allen voran Deutschland ins Spiel.

Seit den 50er Jahren produziert die deutsche Industrie mit eigenen Niederlassungen vor Ort und leistete einen kaum zu überschätzenden Beitrag zur Industrialisierung des Landes. Gegenwärtig erwirtschaften deutsche Tochterunternehmen etwa 10% des brasilianischen BIPs. Statt eines reinen Warenaustausches über den Handel leistet die Produktion vor Ort ihren Beitrag zur Wertschöpfungskette, bildet hochqualifizierte Arbeitskräfte aus und entwickelt neue Produkte für den brasilianischen Markt sowie für den Export in die Region und nach Europa. In Zeiten einer zunehmenden multipolar werdenden Weltordnung ist Brasilien ein Schlüsselstandort der deutschen Wirtschaft. Die Auslagerung von Produktionsprozessen in befreundete Länder, das sogenannte „friendshoring“ wird hier, auch ohne Zutun der Politik, zur Realität. Die Europäer verfügen immer noch über erheblichen Einfluss und Vorzüge vor Ort. Noch, allerdings müssen sie immer mehr um ihre Stellung kämpfen.

Auch die vielfältigen gesellschaftlichen Bande zwischen Europa und Brasilien helfen und liefern Anknüpfungspunkte. Das Netzwerk an Auslandsschulen und die Kulturdiplomatie der Europäer sollten nicht unterschätzt werden. Trotz aller Neutralität in seinen Außenbeziehungen ist Brasilien einem „westlichen“ Bezugssystem zuzuordnen, was weiter als die NATO oder die OECD reicht. Die Grenzen des außenpolitischen Neutralismus und Pragmatismus liegen nicht zuletzt in der Innenpolitik begründet. Trotz einer starken Polarisierung und des Erstarkens politischer Extreme ist die Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung einer politischen Mitte mit konservativen Merkmalen zuzuschreiben, wie die Ergebnisse der jüngsten Kommunalwahlen wieder deutlich zeigen. Eben diese Mitte sieht Allianzen mit Autokratien und Diktaturen skeptisch und reagiert hierauf ablehnend. Wären die richtigen Angebote vorhanden, würde man stets eine Kooperation mit Europa bevorzugen, hört man oft.

Brasilien ist eine stabile und starke Demokratie mit einer engagierten Zivilgesellschaft. Deutschland und Europa sollten dies immer im Hinterkopf behalten und wären gut beraten, ihre Beziehungen zu Brasilien als eine der größten Demokratien der Welt auf Dauerhaftigkeit anzulegen und diese nicht wegen unliebsamen politischen Protagonisten herunterzufahren. Die in Deutschland oft zitierte Zeitenwende benötigt dann auch unbequeme Kursänderungen, wie eine Abkehr von öffentlichkeitsorientierter Wohlfühldiplomatie und einer Rückkehr zur Realpolitik. Dies bedeutet auch sich einzugestehen, dass eine Konsensfindung nicht in allen Themenfeldern realistisch und notwendig ist. Vielmehr sollten die Gemeinsamkeiten bei anderen Themen gesucht und betont werden. Etwas mehr Pragmatismus in den Außen- und Handelsbeziehungen können wir Deutschen und Europäer wagen, ohne von unserer klaren Position und Haltung zu Frieden und Freiheit abzuweichen. Die Unterzeichnung des EU-MERCOSUL-Abkommens wäre ein Anfang und ein erster Schritt durch die aktuell offene Tür.

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