Eine Tet-Offensive im Kampf gegen die Korruption
Gerüchte darüber, dass der erst im April 2021 ins Amt gekommenen Staatspräsident Phuc in den Fokus der Antikorruptionsjäger der KPV geraten sei, gab es bereits seit einigen Monaten. Dennoch kam der am 17. Januar vor dem Zentralkomitee der KPV verkündete und am Folgetag von der Nationalversammlung – der Legislative – angenommene Rücktritt von allen Ämtern für die meisten politischen Beobachter und Analysten überraschend. Die Karriere des von 2016 bis 2021 als Premierminister amtierenden 69-jährigen Phuc kam damit zu einem abrupten Ende. Die bisherige Nummer 2 im mächtigen KPV-Politbüro – dem eigentlichen Entscheidungsorgan in Vietnam – übernahm offiziell die Verantwortung für die „Verfehlungen“ (d.h. Korruptionsskandale) die sich während seiner Amtszeit als Regierungschef ereignet hatten.
Bereits Anfang Januar waren zwei stellvertretende Ministerpräsidenten von ihren Staats- und Parteiämtern ohne Angabe von Gründen zurückgetreten. Beobachter gehen von einer Verbindung zu Korruptionsskandalen bezüglich nichtzugelassener und überteuerter Covid-19 Tests und überteuerten Rückführungsflügen während der Pandemie aus. Phuc, der auch als Gegenspieler des Generalsekretärs Trong galt, geht in die Geschichtsbücher ein als der erste Staatspräsident Vietnams, der von seinem Amt zurücktreten musste und als derjenige mit der kürzesten Amtszeit.
Generalsekretär als Machtzentrum
Dahingegen befindet sich der bereits seit 2011 an der Parteispitze stehende Trong in einer präzedenzlosen dritten Amtszeit als Generalsekretär. Der gesundheitlich angeschlagene 78-jährige Parteichef hätte gerne bereits im Zuge des 13. Parteikongresses Anfang 2021 seine Nachfolge geregelt. Da man sich auf keinen Kandidaten einigen konnte und der Favorit von Trong damals keine Mehrheit im Politbüro fand, wurde dem marxistischen Theoretiker eine dritte Amtszeit an der Spitze der Partei zugestanden. Dies wurde damals von vielen Beobachtern als Kompromisslösung und in gewisser Weise auch Zeichen der Schwäche von Trong gedeutet. Dass eine Nachfolgeregelung scheiterte wurde auch mit Phuc in Verbindung gebracht. Diesem wurden Ambitionen auf den Spitzenposten der Partei zugeschrieben. Stattdessen rückte Phuc von der Regierungsspitze an die Staatsspitze auf. Das Amt des Staatspräsidenten gilt im kommunistischen Einparteienstaat Vietnam allerdings als eher repräsentatives Amt, bevorzugt vergeben an verdiente Kader auf dem Höhepunkt ihrer politischen Karriere (oder kurz vor dem Ende dieser Karriere). Dennoch zählt es zu den „vier Säulen“ der Macht, neben KPV-Generalsekretär, Premierminister und Vorsitzendem der Nationalversammlung. Klare Nummer 1 ist jedoch hierbei der Generalsekretär, der auch im bislang 18-köpfigen Politbüro, dem kollektiven Entscheidungsgremium der Partei den Spitzenplatz einnimmt.
Die Antikorruptionskampagne des „lodernden Brennofens“
Trong hat sich seit Beginn seiner Amtszeit einer Stärkung der Führungsrolle der KPV in Staat und Gesellschaft verschrieben. Die Integrität und Moral der Partei sieht er durch Exzesse und Skandale im Zuge der zur Erfüllung des Prosperitätsversprechens erfolgten wirtschaftliche Liberalisierung und Öffnung gefährdet. Die in Vietnam grassierende Korruption wurde neben der „friedlichen Evolution“ oder „Farbrevolution“ und einem möglichen wirtschaftlichen Abschwung als zentrale Herausforderung für die Legitimität und den Machterhalt der KPV identifiziert. Vor diesem Hintergrund initiierte er bereits zu Beginn seiner ersten Amtszeit eine Antikorruptionskampagne „lodernder Brennofen“. Gesteuert wird diese Kampagne durch den Zentralen Steuerungsausschuss zur Korruptionsbekämpfung, welcher dem Politbüro unterstellt ist und welchem Trong selbst vorsitzt. Fest an seiner Seite stand dabei Vo Van Thuong als bisheriger stellvertretender Vorsitzender des Steuerungsausschusses und Leiter des Sekretariats der KPV-Zentralkomitees.
Ende 2022 wurden auch Steuerungsausschüsse zur Korruptionsbekämpfung auf Ebene der 63 Provinzen eingerichtet. Immer wieder betonte Trong gegenüber Kadern, dass nichts und niemand unantastbar sei und die Antikorruptionskampagne daher niemanden ausnähme. Mit dem Rücktritt der zwei stellvertretenden Ministerpräsidenten und dem Staatspräsidenten wurde dies nun unter Beweis gestellt. Dennoch stellen politische Beobachter die berechtigte Frage, warum gerade diese Spitzenpolitiker zur Verantwortung gezogen wurden und nicht (auch) andere Mandatsträger.
Eine Vakanz an der Staatsspitze
Die durch den Rücktritt Phucs ausgelöste Vakanz an der Staatsspitze wurde zunächst durch die stellvertretende Präsidentin Vo Thi Anh Xuan gefüllt, welche die Amtsgeschäfte Mitte Januar geschäftsführend übernahm. Klar war jedoch von Anbeginn, dass sie nur eine Übergangslösung darstellte. Ohne Sitz im Politbüro und nennenswerte Machtbasis bestanden keine ernstzunehmenden Erwartungen, dass sie dauerhaft das Amt ausfüllen würde. Mehr noch als eine Übergangslösung stellte ihre Bestallung auch eine Verlegenheitslösung dar. Denn zunächst konnte man sich offensichtlich nicht auf eine Nachfolge einigen.
Dem mächtigen Minister für Öffentliche Sicherheit, To Lam, wurden Ambitionen auf das höchste Staatsamt nachgesagt, er konnte sich aber augenscheinlich nicht durchsetzen. Inwieweit Bedenken über das Ansehen im Ausland eine Rolle gespielt haben, sei dahingestellt. To Lam gilt als Verantwortlicher der Entführung des ehemaligen Parteikaders und PetroVietnam Managers Trinh Xuan Thanh aus dem Berliner Tiergarten im Juli 2017 (sog. „TXT-Affäre“). Ein geplanter Besuch des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier Mitte Februar 2023 wurden jedenfalls (auf Wunsch der vietnamesischen Seite) abgesagt.
Dass die traditionelle Neujahrsansprache zu Tet am 22. Januar durch den Generalsekretär Trong vorgetragen wurde und nicht von der geschäftsführenden Präsidentin unterstrich nochmals die starke Stellung des Generalsekretärs. Eine erneute Doppelfunktion durch die Übernahme der Präsidentschaft – wie bereits zwischen 2018 und 2021 – galt jedoch den meisten Beobachtern aufgrund der schlechten gesundheitlichen Lage des Generalsekretärs als unwahrscheinlich. Eine Nachfolgeregelung an der Staatsspitze wurde für die nächste reguläre Sitzung der Nationalversammlung im Mai erwartet. Die sich Ende Februar verdichtenden Gerüchte, dass es zu einer rascheren Lösung kommen sollte und dass Vo Van Thuong für das höchste Staatsamt auserkoren sei, kam für die meisten Analysten daher überraschend.
Ein Mann der Partei – und des Generalsekretärs
Dabei spricht – zumindest aus Sicht der Partei - vieles für den 52-jährigen Vo Van Thuong. Er ist zwar das jüngste Politbüro-Mitglied (und der nun jüngste Staatspräsident in der Geschichte Vietnams), aber er gehört diesem wichtigsten Entscheidungsgremium bereits seit 2016 an; eine Mitgliedschaft im Zentralkomitee besteht seit 2011. Von 2016 an hatte er unter Führung Trongs die wichtige Propagandaabteilung der Partei geleitet, 2021 erfolgte die Ernennung zum Leiter des Sekretariats des Zentralkomitees und damit ein Vorrücken in die Schaltzentrale der Parteiführung. Hiermit einhergehend nahm er auch eine aktive Funktion im Zentralen Steuerungsausschuss zur Korruptionsbekämpfung ein.
Thuong wurde 1970 in einer aus Südvietnam übersiedelten Familie in Nordvietnam geboren. Bei Ende des Vietnamkriegs (in Vietnam „American War“ genannt) erste vier Jahre alt ist der neue Staatspräsident das erste Staatsoberhaupt aus der Nachkriegsgeneration. Seine akademische Ausbildung und seine politische Karriere, die sich bis dato ausschließlich auf die Partei und nicht auf staatliche Ämter beschränkte, begann Thuong in Vietnams Süden: Er studierte marxistisch-leninistische Theorie sowie Philosophie an der Universität für Geistes- und Sozialwissenschaften in Ho-Chi-Minh-Stadt, dem ehemaligen Saigon, und erwarb später einen Abschluss an der Kaderschmiede der Partei, der Ho-Chi-Minh Akademie für Politikwissenschaften.
Die politische Laufbahn begann er bei dem Jugendverband der KPV, deren Verband er in Ho-Chi-Minh-Stadt leitete. Später stieg er zum ersten Sekretär des Zentralkomitees des Jugendverbands auf nationaler Ebene auf. Zeitgleich mit der Aufnahme in das Zentralkomitee der KPV erfolgte 2011 die Ernennung zum KP-Chef der zentralvietnamesischen Provinz Quang Ngai, 2015 dann die Rückkehr an seine alte Wirkungsstätte und Aufstieg zum stv. Parteisekretär von Ho-Chi-Minh-Stadt, dem Wirtschaftszentrum des Landes.
Exekutiverfahrung in Staatsämtern und der Verwaltung fehlen bislang im Werdegang von Thuong. Ebenso internationale Erfahrung, wobei Thuong den Generalsekretär auf einigen Auslandsreisen begleiten konnte, so z.B. im November 2022 bei der Reise Trongs zu Chinas KP-Chef Xi Jinping. Gerüchte, wonach die Personalentscheidungen mit Chinas Parteiführung vorbesprochen wurden, erscheinen aber wenig glaubwürdig.
Ein in der Wolle gefärbter Kommunist
Nachdem am 2. März die Nationalversammlung die zuvor von Politbüro und Zentralkomitee getroffene Entscheidung mit überwältigender Mehrheit bestätigt hatte, adressierte der neue Staatspräsident erstmalig die Legislative und die vertretenen Staats- und Parteiführung. In der 8-minütigen, im Staatsfernsehen live übertragenen Antrittsrede bekannte sich Thuong zu der Vorbildfunktion Ho Chi Minhs und seinen Lehren, dem Sozialismus, der „kreativen Fortentwicklung des Marxismus-Leninismus“, der Erneuerung der Partei, den nationalen sozioökonomischen Entwicklungszielen und Vietnams Rolle in der Welt als ein „zuverlässiger Partner“.
Für eine sehr persönliche Note sorgte eine kurze Passage, in welcher Thuong darauf verwies, wie er als junger Student und Vorsitzender des „Theorie-Clubs“ der philosophischen Fakultät den Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks miterlebte, in Folge dessen viele Genossen vom Glauben abgefallen seien. Was wohlweislich nicht für Thuong gilt, der diesen Exkurs zu einem eindeutigen Bekenntnis zum Sozialismus nutzte. Es war das erste Mal, dass der Kollaps des sozialistischen Blocks in einer Antrittsrede eines vietnamesischen Staatspräsidenten explizit Erwähnung fand.
Sprungbrett für höchste Weihen?
Bislang galt das repräsentative Amt des Staatspräsidenten als Auszeichnung für hochrangige Kader auf dem Höhepunkt ihrer politischen Karriere (oder um sie in eine repräsentative Funktion abzudrängen). Mit der Ernennung des 52-jährigen Thuong besteht nun die Aussicht, dass das höchste Staatsamt zum Sprungbrett für höchste Weihen werden könnte. Das Amt der Staatspräsidenten ermöglicht es internationale Erfahrung zu sammeln und sich auf eine mögliche Übernahme des Amts des Generalsekretärs vorzubereiten. Der Vorsitzende der Nationalversammlung, Vuong Dinh Hue, galt bisher als aussichtsreichster Kandidat. Denn auch Trong war vor seinem Aufstieg in das höchste Parteiamt der Legislative vorgestanden. Sowohl Hue als auch Thuong gelten als Vertraute Trongs. Die Position des Generalsekretärs ist trotz gesundheitlicher Angeschlagenheit so stark wie nie zuvor. Die Machtfrage in Hanoi scheint fürs Erste geklärt zu sein. Die Nachfolgefrage ist weiter offen, das Feld jedoch scheint im Sinne des Generalsekretärs bestellt.
Außen- und wirtschaftspolitische Kontinuität
Eine strategische Neuausrichtung der Außen- und Wirtschaftspolitik Vietnams im Zuge der personellen Veränderungen ist nicht zu erwarten. Außenpolitisch wird Vietnam weiterhin einen Kurs der Bambusdiplomatie, basierend auf den Prinzipien der Unabhängigkeit, der Selbstständigkeit, des Multilateralismus und der Diversifizierung, verfolgen. Eine von manchen Beobachtern bereits prognostizierte (oder befürchtete) Hinwendung zu China scheint trotz aller ideologischen Nähe sehr unwahrscheinlich, eine größere Rücksichtnahme auf Pekings Belange jedoch nicht ausgeschlossen. Vorläufige Schlüsse werden sich auch aus den ersten Auslandsreisen von Thuong ziehen lassen. Auch wirtschaftspolitisch wird Vietnam weiterhin auf Auslandsdirektinvestitionen und ein exportgetriebenes Wirtschaftswachstum setzen. Welche innenpolitischen Implikationen die Personalrochaden haben werden bleibt abzuwarten. Eines jedoch scheint festzustehen: die KPV hat die Zügel fest(er) in der Hand.
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