Die Wahl im Überblick
Die Wahlen zum estnischen Parlament (Riigikogu) mit seinen 101 Sitzen begannen am 27. Februar 9 Uhr und endeten am 5. März 20 Uhr. Neben der Papierwahl an der Urne stimmten immer mehr Esten digital (e-voting) ab (knapp 313.000 von 614.000 abgegebenen Stimmen – bei insgesamt circa 966.000 Wahlberechtigten). Das ist ein Rekord! Insgesamt beteiligten sich 63,5 Prozent an der Wahl. Auch konnte noch nie eine einzelne Person bei Parlamentswahlen, seit Erlangung der Unabhängigkeit 1991, so viele Einzelstimmen gewinnen, wie Kaja Kallas dieses Mal. Insgesamt 31.000 - ein persönlicher Zuwachs von 11.000 Stimmen gegenüber den Wahlen 2019.
Die regierende estnische Reformpartei (Eesti Reformierakond) ging mit 31,2 Prozent (37 Sitzen) als Sieger aus den Wahlen hervor. Damit wird deren Vorsitzende Kaja Kallas als Ministerpräsidentin im Amt bestätigt. In den Vorwahlumfragen lagen die Reformpartei und die estnische konservative Volkspartei (EKRE) eine Zeit lang gleich auf. Jedoch brach deren Zustimmung kurz vor den Wahlen ein. Vermutet wird, dass eine vermeintliche Zusammenarbeit mit russischen Pro-Regierungskräften ausschlaggebend für den Stimmenverlust war. Auch hatte die Partei Schwierigkeiten vertrauenswürdige Persönlichkeiten – gerade in den ländlichen Regionen – aufzustellen. EKRE wird mit 16,1 Prozent (17 Sitzen) nun voraussichtlich die größte Oppositionspartei im estnischen Parlament. Eine Überraschung stellt der erstmalige Einzug der Partei Estland 200 (Eesti 200, E200) dar, die mit 13,3 Prozent (14 Sitzen) deutlich die 5 Prozent-Hürde überwand. Wieder in das Parlament einziehen werden die estnische Zentrumspartei (Eesti Keskerakond) mit 15,3 Prozent (16 Sitzen), die Sozialdemokraten (Sotsiaaldemokraatlik Erakond) mit 9,3 Prozent (9 Sitzen) und die Vaterlandspartei (Isamaa) mit 8,2 Prozent (8 Sitzen) der Stimmen. Im Gegensatz dazu verfehlten die Rechtsseitigen (Parempoolsed, 2,3 Prozent), die Vereinigte Linke (Eestimaa Ühendatud Vasakpartei, 2,4 Prozent) und die Grünen (Rohelised, 1,0 Prozent) diese Hürde und werden nicht im Parlament vertreten sein.
Mit den Parlamentswahlen 2023 hat sich die Methodik zur Berechnung der Wahlbeteiligung geändert. Zuvor wurde sie zwar unter Berücksichtigung aller estnischen Wähler berechnet. Von den Wählern, die ihren ständigen Sitz im Ausland haben, wurden aber nur diejenigen berücksichtigt, die tatsächlich zur Wahl gingen. Seit dieser Wahl werden alle im Ausland lebenden Wähler berücksichtigt - auch diejenigen, die nicht wählen gehen. Die Zahl der im Ausland lebenden Wähler ist hoch (etwa 84.000), aber ihre Wahlbeteiligung niedrig (etwa 8 Prozent bei der Parlamentswahl 2019). So war die Wahlbeteiligung nach der alten Methode 2019 63,5 Prozent, mit der neuen Berechnungsgrundlage wären es 2019 etwa 58,0 Prozent gewesen. Also eine de-facto erhöhte Wahlbeteiligung von 5,5 Prozent.
Gründe für die Zunahme der Wahlbeteiligung
Gegenüber den Wahlen 2019 (58,0 Prozent) nahm die Wahlbeteiligung insgesamt deutlich zu und stieg auf 63,5 Prozent. Nach Einschätzungen von Experten war die Wahlbeteiligung im Südosten Estlands sehr gering. In der Mitte von Estland und auf den Inseln war ein sehr hoher Zuwachs im Vergleich mit 2019 zu verzeichnen. Das ist dahingehend erwähnenswert, da die Mitte Estlands und der Südosten Gebiete sind, in denen die EKRE sehr stark abschneiden konnte. Ein weiterer möglicher Grund für die höhere Wahlbeteiligung, trotz eines relativ ruhigen Wahlkampes, ist die tatsächliche Polarisierung in der estnischen Politik. “Die Menschen haben Angst, dass die andere Seite starke Ergebnisse erzielen könnte, und deshalb ist es den führenden Parteien gelungen, ihre Wähler zu mobilisieren ", so der Experte Andreas Kaju. Weitere Gründe für den Anstieg sind in der Regel Unzufriedenheit, Protest und neue Wahlmöglichkeiten. Die neue Wahlmöglichkeit wird vor allem durch die Partei E200 symbolisiert. Sie ist zwar keine völlig neue Partei (erster Antritt zu Parlamentswahlen 2019), hat sich aber einen frischen und jungen „Anstrich“ erhalten und wirbt mit Aussagen, dass man es „anders als die anderen Parteien“ machen will. Eine genaue Definition, was dies auf Politikfelder transferiert bedeutet, bleibt sie bislang schuldig, doch der Erfolg gibt ihr erstmal Recht.
Außenpolitische Themen bestimmen den Wahlkampf
Bei einem Blick in die Wahlprogramme der Parteien stechen drei Dinge heraus: 1) Die Wahlprogramme der Parteien beinhalten im Großen und Ganzen nichts Neues. 2) Sie wurden durch den Krieg in der Ukraine geprägt. Der Fokus auf Außenpolitik und Sicherheit macht die Parlamentswahlen eher zu außenpolitischen Wahlen. 3) Keine der Parteien betont absurde Themen im Wahlkampf - man beschäftigt sich mit großen strategischen Problemen.
In den Wahldebatten dominierte das Thema Sicherheit. Die außenpolitische Stärke von Kaja Kallas erwies sich als Erfolgsgarant für die Reformpartei. In den Wahlen warb sie mit dem Slogan „Estland in sicheren Händen“ für eine starke Sicherheitsstruktur, eine grüne Reform und eine Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Zentrumspartei setzte den Fokus ebenfalls auf Sicherheit, betonte aber auch die Absicherung der Bevölkerung während steigender Lebenshaltungskosten und die Konkurrenzfähigkeit von Unternehmen. Im Mittelpunkt des EKRE-Programms standen ähnliche Aspekte wie bei der Zentrumspartei. Die rechtskonservative Partei ersetzte jedoch die Wettbewerbsfähigkeit mit der Stärkung des Nationalstaats und dem Slogan „Wir retten Estland!“. Auch die sozialdemokratische Partei forderte in ihrem Wahlprogramm die Absicherung der Bevölkerung während steigender Lebenshaltungskosten. Isamaa konzentrierte sich auf die Bewahrung der estnischen Nation, Sprache und Kultur. Der Wahlslogan „Es gibt nur ein Vaterland!“ steht in direktem Zusammenhang mit dem Parteinamen, denn Isamaa ist die estnische Bezeichnung für Vaterland. Estland 200 betonte ebenfalls die Sicherheit und legte weitere Schwerpunkte auf die Themen Bildung, Kultur, eine grüne Wende und eine Änderung der Staatsführung. Die estnischen Grünen warben mit dem Slogan „Grüne Energie, kluge Entwicklung“ und damit einhergehender Themen um Stimmen. Abschließend konzentrierten sich die, erst im Sommer 2022 gegründeten, Rechtsseitigen im Wahlkampf hauptsächlich auf das Wirtschaftswachstum Estlands.
Russische Minderheit im Nordosten Estlands
In der nordöstlichen Region Ida-Virumaa wählte ein Drittel der Einwohner Politiker, die eine russlandfreundliche Sicht auf den Krieg in der Ukraine vertraten. Etwa 90 Prozent der Einwohner von Ida-Virumaa sind russischsprachig. Sie bevorzugen den Fokus der estnischen Politik auf innenpolitische Anliegen und sehen keine Notwendigkeit darin, sich um die Auseinandersetzung mit Russland und der Ukraine zu kümmern. Gemeinsam mit der pro-russischen Organisation Koos (Zusammen) führte die Vereinigte Linke in der Region eine Wahlkampfkampagne gegen die sog. Mainstream-Parteien. Sie kritisierte die Unterstützung der Ukraine und griff das Programm der Zentrumspartei an. Die fortschreitende ideologische Abnabelung der Region vom Kerngebiet Estlands stellt eine Herausforderung für die neue Regierung dar, denn der Riss zwischen Ida-Virumaa und dem restlichen estnischen Gebiet scheint größer zu werden.
Mögliche Regierungskoalitionen
Im Vergleich zu den letzten Parlamentswahlen scheint die Bildung einer Koalition relativ einfach. Damals waren mehrere Konstellationen mit und ohne die damalige Wahlsiegerin Kaja Kallas möglich. So ist es diesmal nicht. Eine Koalition ohne die Beteiligung der Reformpartei ist rechnerisch nicht möglich. Um im 101-Sitze umfassenden Parlament eine Mehrheit zu erhalten, bedarf es rechnerisch 51 Sitzen. Aber um eine stabile Koalitionsmehrheit zu etablieren, sind mindestens 53 Sitze erstrebenswert.
2-Parteien-Koalitionen
Neben der politisch unmöglichen Koalition zwischen der Reformpartei (37 Sitze) und der EKRE-Partei (17 Sitze; insgesamt 54) gibt es noch die Möglichkeit einer Zwei-Parteien-Koalition aus Reform- und Zentrumspartei (16 Sitze; insgesamt 53). Die erste Option scheidet politisch aus. Stehen die beiden Parteien sich doch fundamental gegenüber. Die zweite birgt ein persönliches Problem. Grund dafür ist, dass Jüri Ratas (Zentrumspartei) als Parlamentsvorsitzender die Ministerpräsidentin (Kallas) vor vorangegangenen Beschuldigungen seitens der EKRE nicht geschützt habe. Zudem hatte Ratas 2019 gegen Kallas hinter deren Rücken eine Regierungsmehrheit geschmiedet. Jedoch wird in den Medien und in der politischen Elite über eine gewisse Aufwärmung der Beziehungen gesprochen. Kurzum: eine Koalition zwischen diesen Parteien ist durchaus möglich. Diese Koalition hätte eine große politische Abdeckung – während die eine Partei das sogenannte erfolgreiche Estland vertritt (Reformpartei), setzt sich die andere für den Schutz der Schwächeren ein (Zentrumspartei). Aufgrund des Größenverhältnisses (Reform und Zentrum: mehr als 2:1), kann die Reformpartei die Realisierung der unrealistisch teuren Wahlversprechungen der Zentrumpartei versuchen zu verhindern.
Die mit der kleinsten und minimalsten Mehrheit ausgestattete Zweier-Konstellation bestünde aus der Reformpartei und der E200 (zusammen 51 Sitze). Allein aufgrund der knappen Mehrheit und des erstmaligen Sitzes im Parlament der E200 scheint diese Möglichkeit zu fragil, um ernsthaft in Betrachtung gezogen zu werden.
3-Parteien-Koalitionen und mehr
Die größte Mehrheit im Parlament hätte mit 60 Sitzen eine Koalition von Reformpartei, E200 und den Sozialdemokraten. Nur einen Sitz weniger hätte eine Koalition von Reformpartei, E200 und der Isamaa. Auch eine Fortsetzung der aktuellen Regierung aus Reformpartei, Sozialdemokraten und Isamaa wäre möglich (54 Sitze). Alle drei Konstellationen eint, dass die Reformpartei die klar angebende Kraft ist. Mit der E200 stünde ihr ein liberaler und ansonsten sehr flexibler Partner zur Seite. Die Sozialdemokraten könnten die Wähler der weniger gut betuchten Bürger abdecken. Isamaa hingegen bedient die konservativ-orientierten Wähler. Mit beiden arbeitet die Reformpartei bislang gut zusammen. Allerdings birgt sie auch das Risiko einer weiteren gesellschaftlichen Spaltung; insbesondere zwischen der politischen Elite und der Bevölkerung. Dies könnte im weiteren Verlauf die Popularität der EKRE erhöhen. Eine Dreier-Koalition scheint somit am wahrscheinlichsten, entweder mit E200 oder ohne sie.
Die Zentrumspartei befindet sich gegenwärtig in einer schwierigen Situation. Der Krieg in der Ukraine hat ihre Umfragewerte stark negativ beeinflusst, weil man sich immer noch mit dem Erbe des ehemaligen Vorsitzenden Edgar Savisaar beschäftigen muss. Im Jahr 2007 lenkte Savisaar seine Aufmerksamkeit auf die russischsprachigen Wähler, um mehr Stimmen zu gewinnen. Er versprach, den russischsprachigen Unterricht und russischsprachige Schulen zu erhalten. Aktuell ist die russischsprachige Wählerschaft sehr zersplittert. Einige suchen den Konservatismus in der rechtspopulistischen EKRE, andere sind bei der Zentrumspartei geblieben und wieder andere wählen die Reformpartei. Ebenso scheint ein Teil dieser Wählerschaft den Gang an die Wahlurnen vermieden zu haben.
Ausblick
Einen Tag nach der Wahl wurden die Stimmen nachgezählt. Martin Helme, Vorsitzender von EKRE, kündigte bereits kurz nach Wahlschluss an, dass seine Partei das Wahlergebnis anfechten wird. Er begründete dies mit der vermeintlichen Unzuverlässigkeit und fehlenden Logik der digitalen Stimmabgabe.
Erste Beratungen über die Ausgestaltung der Regierungskoalition laufen bereits. Die Reformpartei nahm Gespräche mit den Sozialdemokraten und E200 auf. Mit ersten Ergebnissen kann in Kürze gerechnet werden. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Regierung im April 2023 ihre Arbeit aufnehmen wird. Fest steht, dass Kaja Kallas im Gegensatz zur letzten Legislaturperiode beabsichtigt, die Ministerämter nicht gleichmäßig zwischen den Koalitionspartnern zu verteilen, sondern proportional nach dem Anteil der Wählerstimmen. Damit würden der Reformpartei die meisten Ministerien zugesprochen werden.
Fazit
Die Wahlergebnisse stellen eine klare Stärkung der amtierenden Ministerpräsidentin und ihrer Politik – vor allem im Hinblick auf die Unterstützung der Ukraine – dar. Waren im Vorhinein auch Stimmen zu vernehmen, die der Ministerpräsidentin ein eher unterkühltes Verhältnis zur eigenen Bevölkerung attestiert haben, so hat der Rekord der an sie abgegebenen Einzelstimmen dies fraglos beiseite gewischt.
Die Reformpartei ist nun die klar dominierende Kraft im Parlament und kann auch in der noch auszuhandelnden Koalition klar die Marschroute vorgeben. Am wahrscheinlichsten scheint eine Konstellation von drei Parteien unter Führung der Reformpartei und Mitwirkung von E200. Ob die Reformpartei die noch unerfahrene E200 den etablierten Parteien (Sozialdemokraten und Isamaa) vorzieht, bleibt abzuwarten. Beides hat Vor- und Nachteile. Sind die einen politisch noch formbarer, so deckten die anderen unterschiedliche Teile der Gesellschaft besser ab.
Dass die EKRE so stark verloren hat, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Fliehkräfte, die sie innerhalb der Gesellschaft besitzt, weiterhin vorhanden sind. Je nach Zusammensetzung der Koalition könnte sich dies auf mittelfristige Sicht sogar noch verstärken.
Ebenso wird die Situation in (Nord-)Ostestland die Regierung stark beschäftigen. Die innenpolitische Situation rund um die russischsprachigen Einwohner stellt einen möglichen Spaltpilz für die Gesellschaft dar. Augenscheinlichstes Symbol ist die Diskussion rund um die Sprache in Bildungseinrichtungen. Hier muss die Regierung schnell zufriedenstellende Antworten und Ansprachen finden, um diese Bevölkerungsteile nicht vollständig zu verlieren.
Das Thema Sicherheit hat alle anderen Themen überdeckt und den gesamtgesellschaftlichen Kurs in dieser Sache verdeutlicht. Dennoch bleibt abzuwarten, wie sich die Regierung in Fragen der Inflations- oder hohen Energiepreisbekämpfung verhält. Wirklich klar durchdachte Konzepte sind derzeit noch rar – parteienübergreifend.
Kaja Kallas wird mit viel Rückenwind in die neue Legislaturperiode starten. Aus welcher Richtung der Wind in Zukunft bläst, bleibt abzuwarten.
Themen
Über diese Reihe
Die Konrad-Adenauer-Stiftung ist in rund 110 Ländern auf fünf Kontinenten mit einem eigenen Büro vertreten. Die Auslandsmitarbeiter vor Ort können aus erster Hand über aktuelle Ereignisse und langfristige Entwicklungen in ihrem Einsatzland berichten. In den "Länderberichten" bieten sie den Nutzern der Webseite der Konrad-Adenauer-Stiftung exklusiv Analysen, Hintergrundinformationen und Einschätzungen.