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Reuters / Gleb Garanich

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Serbien: Politische und gesellschaftliche Auswirkungen ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine

Ein Jahr Ukraine-Krieg in Serbien – Zeitenwende auf Serbisch?

In vielen Kommentaren, die sich in den vergangenen zwölf Monaten mit Serbiens Umgang mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine beschäftigt haben, sahen viele westliche Beobachter die einfache Fortsetzung pro-russischer Politik. Diese Analyse ist zu einfach und wird der komplexen Situation in Serbien nicht gerecht. Eine Einordnung.

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Offizielle Reaktionen[1]

Die serbische Regierung hat bei fünf Abstimmungen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN) und dem Europarat für die Verurteilung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gestimmt. In diesem Zusammenhang war die Unterstützung des Ausschlusses Russlands aus dem VN-Menschenrechtsrat von besonderer Bedeutung. Der serbische Präsident, Aleksander Vučić, hat am Rande des Weltwirtschaftsforums im schweizerischen Davos im Januar 2023 noch einmal ausdrücklich klargemacht, dass sowohl der Donbas als auch die Krim für Serbien Bestandteile der Ukraine seien. Regelmäßig bekräftigen die Regierung und der Präsident, dass sie die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine unterstützen und achten. Dieses Argument ist von großer Bedeutung für Serbien, da Belgrad dies auch mit Blick auf das Kosovo für sich einfordert.

 

Keine Sanktionen

Serbien hat sich keinen der bisher von der Europäischen Union verabschiedeten Sanktionspakete angeschlossen, was in Brüssel und einigen anderen Hauptstädten der Mitgliedstaaten zu viel Kritik führt. Die serbische Regierung beharrt bisher auf ihrer Position, dass die Einführung von Sanktionen gegen Russland, russische Unternehmen oder Bürger derzeit den prinzipiellen Interessen des Landes zuwiderlaufen würde. Unter anderem bezieht sich Belgrad hier auf die starke Abhängigkeit von russischen Energielieferungen. Im Jahr 2008 hatte die von der Demokratischen Partei geführte Regierung das einzige staatliche Raffinerie-Unternehmen NIS mehrheitlich an das russische Unternehmen GAZPROM verkauft. Serbien importiert zu 90 % Erdgas aus Russland, wobei das Erdgas nur 10 % im Energiemix in Serbien ausmacht. Mit großer Unterstützung vor allem der USA und auch der EU versucht Belgrad für diese Herausforderungen Lösungen zu suchen. Mit Norwegen ist man im Gespräch, unter anderem den defizitären staatlichen Stromkonzern Elektroprivreda Srbija (EPS) umzustrukturieren und die Energieversorgung effizienter zu gestalten. Mit Aserbeidschan hat man einen neuen Vertrag über zukünftige Gaslieferungen unterzeichnet und mit Bulgarien arbeitet man gemeinsam an einem teilweise von der EU finanzierten Interkonnektor. Mit diesem soll Serbien zukünftig Erdgas über die Schwarzmeerhäfen in Bulgarien beziehen können. Zudem gibt es im Zuge der Energiekrise Bestrebungen, die Stromnetze auf dem Westbalkan stärker zu vernetzen. Dies sind alles wichtige Schritte, um sich von russischen Energielieferungen unabhängiger zu machen und die Quellen zu diversifizieren.

 

Wie tickt die Gesellschaft?

Im Umgang mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine erfährt Serbien eine eigenartige Begegnung mit der eigenen jüngeren Geschichte. In großen Teilen der Bevölkerung weckt der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine Erinnerungen an die immer noch präsenten Erfahrungen mit Krieg, Sanktionen und Traumata, die die serbische Gesellschaft heute noch mit sich trägt. Dabei sind viele Fragen, wie etwa mit Blick auf den Kosovo-Krieg und die NATO-Intervention 1999 nicht aufgearbeitet.

 

Am Tag des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 titelten große Teile der einflussreichen Boulevardpresse in Belgrad, dass die Ukraine Russland angegriffen habe. Noch monatelang wurde das russische Narrativ von einer „Spezialoperation“ in vielen regierungsnahen Medien weitertransportiert. Große Teile der serbischen Medienlandschaft, veröffentlichen regelmäßig falsche oder verzerrte Informationen zum Verlauf des Krieges in der Ukraine mit einer Tendenz zum pro-russischen Narrativ. Auf dem TV-Kanal „HappyTY“ wird in der Sendung „Aktuelnosti“ zur besten Sendezeit und mit hoher Reichweite die militärisch-taktische Lage in der Ukraine diskutiert. Es dominieren dabei eindeutig pro-russische Standpunkte.

 

Alle gängigen Umfrage-Institute bescheinigen, dass über 80 % der Bürgerinnen und Bürger in Serbien jegliche Sanktionen gegen Russland ablehnen. Doch dieser Anteil sinkt auf 60 % für den Fall, dass die EU Serbien mit politischen oder wirtschaftlichen Sanktionen droht. Nur 41 % glauben, dass die aktuelle serbische Regierung keine Sanktionen verhängen wird, 25 % gehen von der Übernahme von Sanktionen aus und 33 % sind unentschieden. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine wird immer wieder mit der NATO-Intervention 1999 in Verbindung gebracht. Dabei wird kritisiert, dass „der Westen“ auch schon während der damaligen NATO-Intervention das Völkerrecht gebrochen habe, da die Intervention ohne ein entsprechendes Mandat der Vereinten Nationen stattgefunden hat. Dieses war damals nicht möglich, da Russland und China keinem Mandat im UN-Sicherheitsrat zugestimmt hätten. In der jetzigen Situation kann ein Großteil der serbischen Gesellschaft nicht nachvollziehen, wieso die Entrüstung im „Westen“ so groß ist, wenn Russland auch das Völkerrecht breche. Zudem wird sensibel wahrgenommen, wenn in Berlin oder Brüssel Spitzenpolitiker vom ersten großen Krieg auf europäischen Boden seit dem 2. Weltkrieg sprechen. Auch in diesem Zusammenhang werden „dem Westen“ sowohl am Stammtisch als auch in Gesprächen mit offiziellen Vertretern Doppelstandards vorgeworfen. Es gibt in der serbischen Bevölkerung also keine Ressentiments gegen die Ukraine, sondern ausschließlich gegen die NATO und die USA. Umfragen des Instituts Demostat im Sommer vergangenen Jahres haben zudem deutlich gemacht, dass die Liebe zu Russland nicht so stark ist, wie die Antipathie gegen die USA und die NATO. Bei der Umfrage sahen insgesamt 66 % der Befragten die NATO als Hauptverantwortliche für den Ukraine-Krieg. Nur 10 % der Befragten sehen Russland als Ursache für den Krieg. Die Ukraine dagegen wird entweder als Opfer der Aggression oder als Spielball großer Mächte gesehen.  

 

Kampf der Graffiti-Sprayer

In ganz Belgrad findet seit vielen Monaten ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen pro-ukrainischen und pro-russischen Vertretern statt. Fast täglich entstehen an Hausfassaden Graffiti-Bilder, die bei nächster Gelegenheit von der jeweils gegnerischen Seite übersprüht oder verunglimpft werden. Bekanntestes Beispiel hierfür ist eine Wandmalerei über eine der bekanntesten ukrainischen Schriftstellerein, Lesja Ukrajinka, das im Zentrum von Belgrad von russischen Künstlern angefertigt wurde. Kurze Zeit später wurden diese mit dem russischen Z-Symbol übersprüht und später wiederum in den blau-gelben Farben der Ukraine übermalt. Eine Wandmalerei über Vladimir Putin wurde auch mindestens viermal komplett übersprüht.

 

Aggressive Stimmungund Desinformation

Neben der bemerkenswert starken Präsenz pro-russischer Deutungen über den Kriegsverlauf, die vor allem in einem Teil der Boulevard-Medien zu finden sind, gibt es auch Fälle von Fake News von der anderen politischen Seite. Viel Beachtung erhielt eine Nachricht in einer pro-russischen Telegramm-Gruppe vom 21. November 2022 über die angebliche Gründung einer Vertretung der paramilitärischen russischen Organisation Wagner in Belgrad vom 21. November 2022. Diese Nachricht wurde von der regierungskritischen Aktivistin und US-Journalistin mit serbischen Wurzeln Ivana Stradner als Nachricht bei Twitter verbreitet. Kurz darauf hat die Belgrader regierungskritische Zeitung Danas über die Gründung einer Wagner-Vertretung berichtet. Westliche Medien, darunter die WELT, haben dies übernommen. Zu Jahresbeginn hat der serbische Präsident Aleksandar Vučić diese Behauptungen scharf zurückgewiesen. Er hat bei dieser Gelegenheit unmissverständlich deutlich gemacht, dass die Teilnahme an Kampfhandlungen im Ausland laut serbischen Gesetzen eine Straftat darstellt.

 

Ausblick

Sollte sich der serbische Präsident und die Regierung dazu entschließen, sich den EU-Sanktionen anzuschließen, würde die serbische Gesellschaft eine Zeitendwende erleben. Dies hätte eine intensive gesellschaftliche Diskussion über die Rolle Serbiens in Europa und das Verhältnis zu Russland zur Folge.

 

[1] Am 27.02. gaben Kosovo und Serbien unter EU-Vermittlung eine Erklärung zur Normalisierung ab. Aus redaktionellen Gründen ist diese Entwicklung noch nicht Teil dieses Berichts.

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Jakov Devčić

Jakov Devčić

Leiter des Auslandsbüros Serbien / Montenegro

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