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Länderberichte

Georgien auf den Barrikaden

Seit der Ankündigung der Regierung, dass Georgien die EU-Annäherung aussetzen werde, protestieren jeden Abend landesweit Zehntausende.

Knapp einen Monat nach den umstrittenen Parlamentswahlen in Georgien erklärte der alte und neue Regierungschef Irakli Kobachidse überraschend, die von der Partei des Georgischen Traums geführte Regierung habe beschlossen, sich bis 2028 nicht mehr um die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen zu bemühen und keine weiteren EU-Zahlungen anzunehmen. Vorausgegangen war eine scharfe Resolution des Europäischen Parlaments, in der die Parlamentswahlen vom 26. Oktober als nicht frei und fair bezeichnet und der Georgische Traum für massive demokratische Rückschritte in Georgien verantwortlich gemacht wurde. Seitdem gibt es jede Nacht massive Proteste in zahlreichen Städten. Die Polizei reagiert mit brutaler Gewalt, die Demonstrierenden antworten mit Feuerwerk. Hunderte Menschen wurden festgenommen. Die Fronten sind verhärtet.

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Gefälschte Wahlen

Nach offiziellen Angaben hatte der Georgische Traum Ende Oktober die Parlamentswahlen zwar mit etwa 54% gewonnen, zugleich wiesen jedoch zahlreiche unabhängige Berichte nach, dass die Wahlen systematisch und in großem Umfang gefälscht worden waren. Folgerichtig blieb eine breite internationale Anerkennung des Ergebnisses aus, und der neuen Regierung mangelt es an politischer Legitimität.

In Georgien selbst lösten die Wahlen zunächst nur verhaltenen Protest aus. Die Oppositionsparteien organisierten sporadisch Demonstrationen, an denen nur wenige Tausend Menschen teilnahmen. Die Gesellschaft schien ermüdet von einem polarisierenden Wahlkampf, frustriert ob des manipulierten Wahlergebnisses und desillusioniert angesichts der Tatsache, vier weitere Jahre von einer Partei regiert zu werden, die sich in den letzten Jahren von den Menschen vollkommen entfremdet hatte. Nicht einmal die Ankündigung, dass auf die in der Bevölkerung beliebte, pro-europäische Präsidentin Salome Surabischwili der pro-russische ehemalige Fußballspieler Mikheil Kavelaschwili folgen werde, rief Reaktionen hervor, die über hämische Beiträge in Sozialen Medien hinausgingen. Wenig deutete darauf hin, dass es wie im Frühjahr während der Proteste gegen das Agentengesetz zu einer breiten Mobilisierung der Gesellschaft kommen würde – bis zum 28. November.

 

Eine (ver)kalkulierte Erklärung

Die georgischen Parlamentswahlen beschäftigten an diesem Tag auch das Europäische Parlament, das eine deutliche Resolution verabschiedete. Darin werden die Wahlen nicht anerkannt, Neuwahlen sowie Sanktionen gegen führende Vertreter des Georgischen Traums gefordert, außerdem, dass finanzielle Hilfen für Georgien eingefroren werden. Wenige Stunden später reagierte Premierminister Irakli Kobachidse mit der Ankündigung, Georgien werde die Bemühungen um EU-Beitrittsverhandlungen bis 2028 einstellen und keine weiteren EU-Zahlungen mehr akzeptieren. Diese Erklärung folgte einem Muster, das eigentlich dem Drehbuch der russischen Propaganda entspringt, in den letzten Jahren allerdings zunehmend auch die Rhetorik des Georgischen Traums prägte: das Umkehren von Narrativen. Nicht die EU habe den Beitrittsverhandlungsprozess wegen des anti-demokratischen Kurses der georgischen Regierung eingefroren, sondern es ist Georgien, das sich nicht „erpressen“ lässt. Die EU ist ungerecht, misst mit zweierlei Maß und wird von Oppositionspropaganda beeinflusst, Proteste sind vom Ausland gesteuert, und überhaupt steht hinter allem eine globale Kriegspartei. Der Georgische Traum dagegen werde das Land „souverän und mit Würde“ in die EU führen und sich dabei nicht von Brüssel oder anderen westlichen Akteuren erpressen lassen. Diese Strategie schien während des Wahlkampfes noch teilweise zu verfangen, doch bei der Aufgabe der EU-Annäherung scheint sich der Georgische Traum verrechnet zu haben.

 

Das Aufwachen der Gesellschaft

Die Reaktion auf die Erklärung von Kobachidse war unmittelbar: Eine Welle der Entrüstung erfasste das Land und trieb die Menschen auf die Straße. Nach Wochen politischer Lähmung ging ein Ruck durch die georgische Gesellschaft, der sich in einem Protest von neuer Qualität manifestierte. Nicht nur in der Hauptstadt mobilisierte die Wut gegen die Regierung Zehntausende Menschen, auch in Batumi, Kutaisi, Sugdidi, Gori, sogar in Achaltziche und Marneuli wurde protestiert. Die Kundgebungen sind horizontal organisiert und werden von allen Altersschichten getragen, es gibt keine „Kommandozentrale“, Schulen, Universitäten und zahlreiche Vertreter der Kultur haben sich solidarisiert. Tiflis ist wieder einmal das Epizentrum der Proteste, die zumeist am Abend beginnen und in den frühen Morgen andauern. Feuerwerkskörpern als Symbol des nahenden Neujahrsfests sind zu einem Zeichen des Widerstands geworden, sie werden gegen und in das illegitime Parlament geschossen, machen den Protest unüberhörbar und unterstreichen die Entschlossenheit der Menschen.

Die Sicherheitsorgane gehen mit brutalen Maßnahmen gegen die Protestierenden vor. Videos in sozialen Medien zeigen maskierte und gepanzerte Polizisten, sogenannte Robocops, wie sie auf am Boden liegende Menschen eintreten, Menschen schlagen. Das Parlament wird mit Wasserwerfern verteidigt, in das Wasser sind chemische Substanzen gemischt, die bei vielen Protestierenden zu Reizungen der Augen und Atemwege und zu Ausschlägen führen. Über Einschüchterungen und Folter, bis hin zur Androhung sexueller Gewalt vor allem beim Abtransport von Inhaftierten wird berichtet. Hunderte Verletzte wurden in Krankenhäuser eingeliefert, ein 22-jähriger Mann liegt seit Tagen im Koma. Der Arzt Kakha Goschadse äußerte, er wünsche niemandem, die Szenen miterleben zu müssen, die sich in den letzten Tagen in seinem Krankenhaus in Tiflis abgespielt haben. Die Oberhäupter der georgischen Muslime und der Baptisten erklärten ihre Solidarität mit den „Kindern, die geschlagen und gefoltert werden“. Bischof Malchas Songulaschwili wandte sich an die Polizei mit einem emotionalen Apell: „Es ist eure Schande, unsere Schande, eine Schande für unser Land“. Während auch international die Polizeigewalt verurteilt wird, danken Vertreter des Georgischen Traums der Polizei und dem Innenministerium für deren „professionelle Arbeit“, selbst nach Nächten mit zahlreichen Verletzten, Verhafteten und Verschwundenen.

Obwohl die Proteste ganz offensichtlich nicht von der politischen Opposition in Georgien angeführt werden, gehen Polizei und Sicherheitsdienste auch gezielt gegen Oppositionspolitiker vor. Büros mehrerer Oppositionsparteien wurden durchsucht, zahlreiche Personen festgenommen, unter anderen deshalb, weil sie nach den rechtlichen Anordnungen der Durchsuchungen gefragt hatten. Nika Gwaramia, einer der Gründer der „Koalition für den Wandel“, wurde nach einer Auseinandersetzung bewusstlos weggetragen. Die Sicherheitskräfte waren maskiert und trugen keine Abzeichen, die sie als staatliche Organe auswiesen. Auch Vertretern aller vier Oppositionsparteien wurde beim Verlassen eines gemeinsamen Treffens aufgelauert. Ein Mitglied der Koalition „Starkes Georgien“, Aleko Elisaschwili, wurde dabei physisch so stark angegangen, dass er mehrere Brüche erlitt. Trotzdem kam er in Untersuchungshaft.

 

Das fehlende Gesicht

Die bewundernswerte Entschlossenheit der Protestierenden kontrastiert mit einem zentralen Problem der Bewegung: Es fehlt ein Gesicht, oder anders: eine politische Führung, die verständliche Forderungen formuliert und einen Weg aus der Krise weist. Die Oppositionsparteien haben es nicht geschafft, sich als Wortführer bzw. als glaubwürdige Alternative zum Georgischen Traum zu etablieren. Außerdem fehlt es ihnen immer noch an Einigkeit, was viele Menschen angesichts der prekären Situation, in der sich das Land momentan befindet, vollkommen unverständlich finden. Salome Surabischwili vertritt als Präsidentin die einzige staatliche Institution, die noch über Ansehen in der Bevölkerung und auch international verfügt, doch sie ist immer wieder zögerlich, außerdem läuft ihre Amtszeit Mitte Dezember ab, und der Georgische Traum hat bereits angekündigt, am 14.12. einen neuen Präsidenten wählen zu lassen, der dann am 29.12. ins Amt eingeführt wird. Sollte Surabischwili wie angekündigt ihr Amt nicht abgeben, besäße Georgien am Ende des Jahres zwei Staatsoberhäupter und befände sich nicht nur im Aufruhr, sondern auch in einer veritablen Verfassungskrise.

Bislang gibt es wenige konstruktive Vorschläge, die einen Weg aus der verfahrenen Situation aufzeigen. Surabischwili schlug einen Rat aus Oppositionsparteien und Vertretern der Zivilgesellschaft vor oder die Opposition die Einrichtung eines gemeinsamen Informationszentrums. Doch nicht nur verebben diese Initiativen oft auf halber Strecke, den Protesten fehlt auch weiterhin ein Gesicht bzw. eine klare Stimme, die Kompromisse finden und formulierten kann, Forderungen pragmatisch bündelt und die vor allem Vertrauen und Ansehen in der Bevölkerung genießt. Vergleichbare Umbrüche in Osteuropa – Georgien 2003 mit Saakaschwili, Ukraine 2004 mit Juschtschenko, Armenien 2018 mit Paschinjan oder Belarus 2020 mit Tsichanouskaja – sind ohne ein solches Gesicht nicht ausgekommen.

 

Risse im System

Ein weiteres Problem in der aktuellen georgischen Krise liegt darin, dass die Regierung des Georgischen Traums sich nicht nur nicht gesprächsbereit zeigt, sondern mit aggressiver Rhetorik beständig Öl ins Feuer gießt. Ob es Kobachidses Ankündigung ist, die radikale Opposition „komplett neutralisieren“ oder den „liberalen Faschismus“ im Land eliminieren zu wollen – Dialogangebote klingen anders. Das verwundert, beginnen sich doch Risse im System zu zeigen. In den ersten Tagen der Proteste traten mehrere Botschafter zurück, darunter auch der georgische Vertreter in den USA. Mitarbeiter des Innen-, Außen- und Verteidigungsministeriums, des Justizhauses und der Stadtverwaltung von Tiflis, der Nationalen Gesundheitsbehörde und weiterer Ämter veröffentlichten Petitionen und legten zeitweise ihre Ämter nieder. Universitäten und Schulen traten in den Streik. Zurückgetreten sind mittlerweile auch die Leiter der Bereitschaftspolizei sowie vier seiner Stellvertreter, außerdem 14 Fahrer von Wasserwerfern. Einen prominenten Deserteur gibt es allerdings noch nicht, und so versucht der Georgische Traum diese Absetzbewegungen als „Selbstreinigungsprozess“ darzustellen.

Aber auch international scheint es für die Regierung enger zu werden: Die USA setzten ihre strategische Partnerschaft mit Georgien vorläufig aus. Republikanische US-Abgeordnete forderten Sanktionen gegen „Iwanischwili und seine Kumpanen“ und warnten, dass selbst Donald Trump sich nicht auf die Seite der georgischen Regierung stellen werde. Sanktionen haben die baltischen Staaten bereits vollzogen, sie verhängten Einreiseverbote gegen führende Vertreter des Georgischen Traums und gegen Iwanischwili persönlich. Der polnische Präsident Duda forderte Neuwahlen, und das deutsche Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung kündigte an, dass keine neuen Projekte mehr gestartet und Kredite an die georgische Regierung gegeben werden.

 

Europäische Vermittlung

Es spielt dem Georgischen Traum in die Hand, dass die großen europäischen Staaten momentan vor allem mit sich selbst beschäftigt sind. Frankreich steckt in einer Regierungskrise, Deutschland denkt an die vorgezogenen Neuwahlen im Februar und auch Polen blickt auf Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr. Dabei wäre eine europäische Vermittlung in der aktuellen Krise in Georgien wichtig. Hoffnungen liegen auf Kaja Kallas, der neuen Außenbeauftragten der EU, die an ihrem ersten Amtstag eine Stellungnahme zu Georgien veröffentlichte, in der sie ihre Solidarität mit den Georgierinnen und Georgiern erklärte, den Respekt vor Meinungs- und Versammlungsfreiheit anmahnte und die Regierung aufforderte, das Land auf den europäischen Weg zurückzuführen. Diese Aufmerksamkeit ist wichtig, reicht jedoch jetzt nicht aus. Kallas und weitere europäische Politiker müssen nach Tiflis reisen und das Gespräch mit den Parteien führen.

2004 kamen während der ersten Krise in der Ukraine die Präsidenten Polens, Litauens, Javier Solana und Elmar Brok nach Kiev. Es gab einen runden Tisch und Neuwahlen. Auch wenn Geschichte sich nicht wiederholt, für Europa ist wichtig, jetzt nicht tatenlos zuzuschauen.

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