Der Mittelstand ist der Motor der deutschen Wirtschaft. 99,6 Prozent aller Firmen in Deutschland sind mittelständische Unternehmen. Es sind nicht immer bekannte Namen, aber über 1.300 der insgesamt weltweit 2.700 „Hidden Champions“ (Heimliche Weltmarktführer) sind deutsche mittelständische Unternehmen, die sich allerdings zu 93% auf den europäischen Markt konzentrieren.
In Vietnam sind aktuell etwa 450 deutsche Unternehmen tätig. Dies ist bereits ein Anstieg im Vergleich zu den etwa 350 Firmen, die es vor der Corona-Pandemie waren. Die Zahl der deutschen Unternehmen in Vietnam ist vergleichbar mit der Anzahl in Indonesien. In Malaysia sind gut 700 deutsche Unternehmen vertreten. In China sind dagegen 5.200 deutsche Unternehmen tätig, in den USA etwa 4.500. Diese Zahlen verdeutlichen, den hohen Stellenwert, den China für die deutsche Wirtschaft hat. China ist Deutschlands größter Handelspartner und politisch ein Schwergewicht.
Bei „China Plus 1“ geht es um Diversifizierung und Resilienz der Lieferketten durch Verlagerung der Beschaffung aus China in andere Länder. Firmen sollen vermeiden, nur in China zu investieren. Was aber hat China für die Wirtschaft so attraktiv gemacht?
Vor allem drei Faktoren werden immer wieder genannt: Billige Arbeitskräfte, niedrige Produktionskosten und der riesige inländische Konsumentenmarkt. Diese Faktoren sind zutreffend, allerdings nicht hinreichend, wie dieser Beitrag zeigen wird, der Vietnam als eine Alternative zu China untersucht.
Diversifizierung - ASEAN als vielversprechender Markt
Warum verlassen Firmen China oder diversifizieren ihr Geschäft? Hierfür gibt es mehrere Gründe: Geopolitisch strebt China expansiv danach, Weltmacht Nummer 1 zu werden. Dies zeigt sich in der Übernahme Hongkongs, dem möglichen Konflikt um Taiwan und dem zunehmend autoritären und ideologischen Auftreten Xi Jinpings. Hinzu kommt der Handelsstreit mit den USA und die damit verbundene Angst vor Sanktionen. Auch sind die Löhne und Gehälter in China gestiegen und früher bestehende Kostenvorteile haben sich verringert. Zusätzlich hat die Covid-Pandemie für Chaos in der gesamten globalen Lieferkette gesorgt. Europa und die USA waren gezwungen, ihre Beschaffungsabhängigkeit von China zu reduzieren.
Welche Länder profitieren, wenn China seine Position als „Fabrik der Welt“ verliert? Welche Faktoren machen aus Sicht des deutschen Mittelstands Vietnam im Speziellen und Südostasien im Allgemeinen für Einkauf, Absatzmarkt oder Produktionsstandort interessant? Welche Faktoren sind eher Hindernisse?
Die Erkenntnis, dass einseitige Abhängigkeiten verwundbar machen, sorgt dafür, dass deutsche Unternehmen nach Alternativen zu China im in geographischer Nähe liegenden südostasiatischen Raum suchen. Südostasien ist ein sehr interessanter Absatzmarkt, den die zehn ASEAN-Mitgliedsstaaten mit ihren 660 Millionen Einwohnern und ihrer ASEAN Freihandelszone bilden. ASEAN ist dabei mehr als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft. Jährlich findet das ASEAN-Gipfeltreffen statt. Es gibt eine ASEAN-Flagge und eine gemeinsame Hymne. Dies hat Ähnlichkeit zur EU. Dennoch gibt es sehr entscheidende Unterschiede: Zum Beispiel ist die EU – anders als ASEAN - exklusiv für den Abschluss von Freihandelsabkommen zuständig, weshalb die EU mit vielen ASEAN Staaten direkt über Freihandelsabkommen verhandelt. Freihandelsabkommen gibt es bislang allerdings nur mit Singapur und Vietnam, das seit „China Plus 1“ seine Produktion stark gesteigert hat. Vietnam exportiert nun Smartphones und Unterhaltungselektronik durch Gewinnung von Auslandsinvestitionen. Dies war ein Gebiet, auf dem zuvor China dominierte.
Vietnam als Alternative
Das Freihandelsabkommen mit Vietnam gilt seit August 2020. Bereits ca. 65 % aller Zölle auf Waren mit europäischem Ursprung sind bereits weggefallen. Schrittweise werden bis 2030 fast alle Zölle auf europäische Waren beseitigt. Umgekehrt wird auch die Einfuhr vietnamesischer Ursprungswaren in die EU bis 2027 nahezu komplett zollfrei sein. Mit seinen fast 100 Millionen Menschen und einem schnell wachsenden Konsumentenmarkt wird Vietnam dadurch als Handelspartner immer interessanter und es verschafft auch den Zugang zum großen ASEAN-Markt. So kann ein deutscher Zulieferer in Vietnam investieren und von dort aus die Region mit Teilen versorgen.
Das EU-Vietnam Freihandelsabkommen geht aber über das Thema Zölle weit hinaus. Es öffnet beispielsweise den Markt für öffentliche Aufträge und verpflichtet zur Einhaltung von Mindest-standards im Hinblick auf Arbeitnehmerrechte, zur Nachhaltigkeit und zum Umweltschutz und schützt Begriffe wie etwa „Lübecker Marzipan“ auch in Vietnam.
Auch verfügt Vietnam über eine junge, dynamische Bevölkerung mit einem Altersdurchschnitt von nur 30 Jahren. Die Menschen in Vietnam sind bereit, hart zu arbeiten. Sie sind technikaffin und offen, sich auf Neues einzulassen. Zudem liegt Vietnam geostrategisch günstig und verfügt über Industrie, einen ausgeprägten Dienstleistungs-, Tourismus- und IT-Sektor. Hinzu kommt hohe politische Stabilität des Einparteienstaates und das Bestreben Vietnams, ausländische Investitionen (FDI) ins Land zu holen. Dabei setzt Vietnam mit dem EU-Vietnam Investment Protection Agreement (EVIPA) und dem neuen Investitionsgesetz deutliche Zeichen, wie wichtig dem Land ausländische Investitionen und ein sicherer gesetzlicher Rahmen für die Investoren ist.
Vietnam verfolgt dabei ebenfalls eine Diversifizierungsstrategie, indem es sich bemüht, neben den Hauptinvestoren Singapur, Südkorea und Japan auch Investitionen aus anderen Ländern, beispielsweise aus Deutschland, ins Land zu holen. Für deutsche Unternehmen ist Vietnam zudem besonders interessant, da es durch die frühere Länderpartnerschaft der ehemaligen DDR mit Vietnam über Jahre gewachsene Deutsch-Vietnamesischen Beziehungen gibt. Etwa 180.000 Vietnamesen leben heute in Deutschland, andere 100.000 sind mit guten Kenntnissen der deutschen Sprache nach Vietnam zurückgekehrt. Eine vergleichbare Situation gibt es in keinem anderen südostasiatischen Land. Auch trauen es sich Unternehmen, die bereits in China waren, eher zu, auch in Vietnam erfolgreich zu werden, da die politischen Systeme beider Länder ähnlich sind.
Genehmigungsprozesse sind in Vietnam oftmals sehr viel einfacher als in Europa. Beispielsweise hat die deutsche Firma Vissmann erst kürzlich, am 22. Juni 2023, in nur acht Monaten eine neue Fabrik in Vietnam eröffnet und auch das Arbeitsrecht lässt schnelle Einstellungen zu.
Der Ausbau der Infrastruktur im Land geht schnell voran. Der Norden Vietnams hat in den letzten Jahren einen massiven Ausbau des Straßennetzes sowie von Hafenprojekten erlebt. Viele neue Wohnanlagen werden gebaut und staatliche wie auch private Bauvorhaben versprechen Dynamik. Allerdings gibt es auch entscheidende Schwachpunkte, die dringend Veränderung erfordern, auf die in diesem Beitrag noch eingegangen wird.
Im aktuellem Energieentwicklungsprogramm Vietnams geht es darum, die Abhängigkeit vom Kohlestrom zu verringern und die erneuerbaren Energien auszubauen. Private Public Partnerships mit ausländischen Investoren sind dabei ein zentrales Thema mit großem Potential für die deutsche Greentech-Branche.
Vietnam als Profiteur des geopolitischen Wettbewerbs
Vietnam steht ganz oben auf der Liste der Gewinner im Handelskrieg zwischen China und den USA. Wird es bald das neue China in kleinerem Maßstab werden? Parallelen zwischen China und Vietnam legen solche Gedanken nahe. Beide Staaten sind Einparteienstaaten, in denen die Kommunistische Partei das Machtmonopol besitzt, waren sehr arm und über Jahrzehnte vom internationalen Handel ausgeschlossen. Dann haben sie Reformen eingeleitet, um Teile der Wirtschaft zu privatisieren und das Land für ausländische Investoren zu öffnen. Mit den Doi-Moi-Reformen begannen 1986 in Vietnam eine Reihe von Maßnahmen, die darauf abzielten, von einer staatlich gelenkten Planwirtschaft zu einer sozialistischen Marktwirtschaft überzugehen.
Vietnams Wirtschaftswachstum fiel in den letzten Jahren spektakulär aus. Es gibt aber Gründe, warum das Land immer noch arm ist. Wenn Investoren ihre Entscheidung für einen ausländischen Markt treffen, suchen sie nicht nur nach niedrigen Löhnen und Steuern, sie suchen auch nach Ländern mit einem starken Konsumentenmarkt, einem Markt, der nicht nur dazu dient, ihre Produkte herzustellen und ins Ausland zu schicken, sondern auch, um sie dort abzusetzen. Hier ist Vietnam China gegenüber noch klar im Nachteil. Ein weiterer wichtiger Standortfaktor ist die lokale Zuliefererindustrie, bei der verlässlich und in hoher Qualität Vorprodukte und Dienstleistungen einkauft werden können, die für die eigene Fertigung unerlässlich sind. Robuste und einfache Lieferketten sind in Vietnam aber noch verbesserungsbedürftig, was ein weiterer Grund ist, warum Firmen trotz aller Probleme immer noch in China bleiben.
Vietnams Wirtschaftswachstum kann als Wirtschaftswunder bezeichnet werden. Es hätte aber noch viel höher ausgefallen können, denn folgende Faktoren haben es behindert:
1. Vietnam hat ein Defizit an weiterführender Bildung. China hatte ausländische Investitionen aufgrund seiner enormen Größe, der geringen Löhne oder der niedrigen Steuersätze angezogen. Trotz aller Armut hatte China aber eine gut ausgebildete Bevölkerung. Vietnams Humankapitalindex ist zwar der höchste in der Region. Er ist sogar höher als in China, was an Vietnams sehr junger und gesunder Bevölkerung liegt, die über eine gute Sekundar-schulbildung verfügt. Die Zahl der Studierenden in Vietnam ist aber sehr niedrig und liegt weit unter der von Ländern wie Indonesien oder den Philippinen. Dies liegt an Vietnams Bildungs-system. Entweder machen die jungen Menschen nach der Schulzeit eine Ausbildung, besuchen eine stärker praktisch-orienteierte Fachhochschule oder eine Universität. Militäruniversitäten und Studiengänge für Lehrer sind kostenlos, andere Studiengänge sind aber mit hohen Kosten verbunden, die privat getragen werden müssen.
Was den Prozentsatz der Menschen angeht, die eine technische Ausbildung absolviert haben, ist Vietnam das Land mit den schlechtesten Werten in der gesamten Region. Die Schulreformen haben zwar sehr gut funktioniert, Vietnam muss aber damit beginnen, seine Arbeitnehmer fachlich besser auszubilden.
2. Ein weiteres Problem ist Vietnams Infrastruktur. In Vietnam haben 98% der Bevölkerung Zugang zu Strom. Dies ist eine Errungenschaft, die dank großer staatlicher Investitionen in die Infrastruktur möglich wurde. Trotzdem kommt es immer wieder zu Stromausfällen, was ein besonderes Problem darstellt, weil Vietnam versucht, sehr energieintensive Unternehmen anzuziehen. Da der Staat die Infrastruktur stark subventioniert, zum Beispiel mit Wasser- oder Energiepreisen, die kaum 60% der Kosten decken, gibt es wenig Motivation, wirtschaftlich und produktiv mit Ressourcen umzugehen.
Hinzu kommt, trotz der beschriebenen Verbesserungen, der oftmals schlechte Zustand von Vietnams Straßen. Auch gibt es kein Flussschiffahrt- und Eisenbahnsystem, das diesen Zustand des nationalen Straßennetzes ausgleichen könnte.
Der Hauptgrund für Vietnams Infrastrukturdefizite liegt nicht am Mangel an Investitionen, sondern an der Instandhaltung. Nur 10% der Infrastrukturausgaben fließen in Vietnam in die Instandhaltung, während der OECD-Durchschnitt bei 30% liegt und Nachbarländer wie Indonesien sogar 40% erreichen.
3. Ein weiteres Problem stellt die Korruption und Bürokratie dar. Von den Kosten, die beispielsweise für die Instandhaltung des Bewässerungssystems ausgegeben werden, fließen 70% in die Verwaltung. Nicht selten geht es dabei um Korruption.
4. Ein großes Problem steht in Vietnam im Zusammenhang mit Staatsunternehmen. Im Gegensatz zu anderen Ländern wie China oder Ländern in Osteuropa hat Vietnam beim Übergang zur Marktwirtschaft keine größeren Privatisierungen durchgeführt, sondern den Staatsbetrieben einfach nur mehr Autonomie eingeräumt und diejenigen Unternehmen, die nicht erfolgreich waren, mit anderen, gesunden fusioniert.
Untersuchungen zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Staatsunternehmen in Vietnam geschlossen werden, wenn sie bankrottgehen, um den Faktor Drei geringer ist als bei Privatunternehmen. Viele dieser kaputten Staatsunternehmen leben also weiter und die Manager haben kaum einen Anreiz, solide zu wirtschaften. Auch bei der Vergabe von Krediten werden staatliche Unternehmen bevorzugt. Die Liste der Privilegien der Staatskonzerne ist lang: Von kostenlosen Landkonzessionen bis zum bevorzugten Zugang zu staatlichen Aufträgen. Als Folge spielt sich ein gewaltiger Teil der vietnamesischen Volkswirtschaft außerhalb des Wettbewerbs ab. Der Unterschied in der Produktivität zwischen privaten und staatlichen Unternehmen ist dabei groß. Für vietnamesische Privatunternehmen liegt die Kapitaleffizienzquote bei 0,47, für staatliche Unternehmen hingegen bei 1,62. Die staatlichen Unternehmen wirtschaften also mehr als dreimal so schlecht wie die privaten.
Wenn Vietnam weiterhin in einem guten Tempo wachsen will, muss es seine Probleme mit der Hochschulbildung, der Infrastruktur und der Wettbewerbsfähigkeit seines öffentlichen Sektors lösen. Das tatsächliche Potential Vietnams ist ohne diese bremsenden Faktoren riesig.
China hatte lange Zeit das Glück, dass es als Markt so attraktiv war, dass es sich nicht so sehr um Investoren bemühen musste. Die Länder in Südostasien sind kleiner und machen es Investoren attraktiver. Bei allen lohn- und handwerklich getriebenen Industriezweigen stellt Südostasien bereits eine Alternative zu China dar. Die Verlagerung hat in diesen Bereichen schon seit Jahren an Geschwindigkeit aufgenommen. Bekleidungsindustrien sind aus Südchina, zum Beispiel nach Vietnam, abgewandert. Auch wenn ein Geschäft stark von Zöllen abhängig ist, ist Vietnam für ein deutsches mittelständisches Unternehmen durch das EU-Vietnam Freihandelsabkommen bereits jetzt eine Alternative zu China.
China bleibt im Spiel, auch wenn wir in Vietnam einkaufen und investieren
China wird aber dennoch nicht unattraktiv. Um als Unternehmen erfolgreich zu sein, geht es um ein sinnvolles Zusammenspiel aus beiden Regionen. Abgesehen davon sind Lieferketten in Vietnam durch chinesische Auslandsinvestitionen und durch die RCEP oftmals doch mit China verbunden. Die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) ist das 2022 in Kraft getretene weltgrößte Freihandelsabkommen, das alle zehn ASEAN-Mitglieder, die Volksrepublik China, Japan, Südkorea sowie Australien und Neuseeland einschließt. Wir werden also China nicht los, wenn wir aus Vietnam einkaufen.
Die deutsche Politik sollte Südostasien als „China Plus 1“-Standort fördern und vor allem eine gemeinsame europäische Strategie entwickeln. Denn China verfolgt mit seiner „Made-in-China-2025-Strategie“ klare Pläne. Peking hat zehn Branchen definiert, in denen China zunächst zum führenden Produzenten im heimischen Markt werden will. Dazu gehören unter anderem Medizintechnik, IT, Künstliche Intelligenz, Luft- und Raumfahrt sowie die Elektromobilität. Bis 2050 möchte China dann weltweit dominieren. Diese Strategie wird in China sogar unter Hinnahme des eigenen Wohlstandsverlustes aufgrund des Verzichtes auf westliche Technologien verfolgt.
Mit der wirtschaftlichen Bedeutung des Europäischen Binnenmarkts können wir selbstbewusst auftreten. In einem sich zwischen China und den USA zuspitzenden Konflikt dürfen wir nicht zwischen die Stühle geraten. In solch einer Lage sind einige südostasiatischen Länder und die EU wichtige Handelspartner und ASEAN und die EU füreinander bedeutende Märkte.
Inhalte und Meinungen in diesem Diskussionsbeitrag sind die des Autors und geben nicht zwangsläufig die Ansichten der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) und des Bundesverbands der mittelständischen Wirtschaft (BVMW) wider.
Über den Autor:
Ludwig Graf Westarp leitet beim Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft (BVMW) die Auslandsbüros Vietnam und Moldau und ist stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Vietnamesischen Gesellschaft (DVG).
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