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Wider die Entfremdung des Einzelnen

Überlegungen zur Politik einer zeitgemäßen Ansprache

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Deutschland in den vergangenen drei Jahren, ein Schnappschuss: Auf Sachsens Plätzen tauchen Galgen auf, reserviert für die Kanzlerin und den Vizekanzler. „Wir sind das Volk“, schallt es wörtlich von Pegida aus Dresden; „Wir sind das Volk“, ruft es im übertragenen Sinne gegen Pegida von überallher. Empört schreien die einen „Lügenpresse“, die anderen „Rassismus“. Die Bundeszentrale für politische Bildung warnt: In deutschen Städten erstarken „antidemokratische Tendenzen“.

Umfragen zufolge haben zwei Drittel aller Bundesbürger Zweifel an der Demokratie; nur noch knapp vierzig Prozent schenken den Regierenden ihr Vertrauen. Ein Fünftel der Befragten fordert eine Revolution. Jeder dritte Deutsche geht nicht zur Wahl – aus Missfallen am System oder aus Frust und Enttäuschung über eine Politik, die ohnehin mache, was sie wolle. Politologen fordern die Abschaffung des Wahlrechts für alle, Intellektuelle rufen zu Wahlboykott auf. Immer sicht- und hörbarer wird der Protest an der Graswurzel, immer machtvoller organisiert sich bürgerschaftlicher Anti-Aktivismus an der Basis. Ist etwas faul im Staate Deutschland?

Die Erwartungen des Einzelnen an die Leistungsfähigkeit der repräsentativen Demokratie haben sich in den vergangenen Jahren ebenso stark verändert, wie Paradoxien in unsere Lebenswelt eingezogen sind. Die einen fordern die Politik auf, sie vor den Zumutungen globalisierter Ökonomie abzuschirmen und sicher an die Hand zu nehmen; die anderen wollen dagegen direkteren Einfluss auf die Politik und ihre Entscheidungen. Dritte wiederum verlangen, die Politik solle schneller handeln, als es eine zur Langsamkeit gezwungene Demokratie vermag. In Zeiten, in denen fortgesetzt von gesellschaftlicher Spaltung, Post-Demokratie und Populismus die Rede ist, lässt sich eine Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten feststellen. Das hat zumindest vier Gründe.

Faktoren der Entfremdung

1. Das Selbstwirksamkeitsdefizit: Das zeitgenössische Individuum hat sich zu einem individualistischen ICH radikalisiert, das seinen Wert in steter Konkurrenz zu den anderen erarbeiten muss. Vom sozioökonomischen System der Kosten-Nutzen-Rationalität zu permanenter Optimierung erzogen, kann der einzelne Bürger als individueller Demokrat hingegen so gut wie nichts selbst und direkt bewirken. Er fühlt sich praktisch nicht gebraucht – und wird es tatsächlich nur theoretisch: als Inkarnation des fiktiven Wählerwillens. Ergebnis der Überfrachtung durch extreme Erwartungen ist die zwangsläufige Enttäuschung, wenn am Ende ein aus seiner Sicht billiger Kompromiss steht. Das Unbehagen an seiner so verhinderten Selbstwirksamkeit befördert womöglich die moralische Verachtung jener Mitbürger, die sich als Politiker für ihn engagieren. Demokratiemüdigkeit liegt ironischerweise in jener Tugend begründet, die eine gesunde Demokratie ja gerade hervorbringt: im Selbstbewusstsein ihrer Bürger und in der diffusen Unzufriedenheit hinsichtlich der eigenen Wirkmächtigkeit.

2. Das Selbstwertdefizit: Das Volumen des Wissens wächst ständig und damit auch die Komplexität der Sachverhalte; mit beidem nimmt die Unsicherheit, Orientierungs- und Geborgenheitsbedürftigkeit zu. Der Einzelne fühlt sich unkontrollierbaren Prozessen ausgeliefert, der Schutzzusammenhang durch ideologische Milieus ist weitgehend zerfallen. Das Prinzip Kurzfristigkeit überlagert den Sinn für Nachhaltigkeit, der Einzelne ist zur permanenten Mobilität gezwungen, sein relativer Wohlstand geht einher mit einer immerwährenden Verlustangst. Wer ohne Orientierung stetig auf sich selbst gestellt ist, hat das Gefühl, permanent alleingelassen zu werden. Er vereinsamt in Gesellschaft. Der Selbstwert ist dann auch ein Kohärenzverlust: der Verlust des Urvertrauens, dass das eigene Handeln Sinn ergibt, dass der Einzelne einen sichtbaren und sicheren Platz in einer so unübersichtlich gewordenen, unsicheren Welt hat.

3. Das Zeitdefizit: In den vergangenen zwanzig Jahren ist der Druck innerhalb des kapitalistischen Systems ebenso gestiegen wie dessen Produktivitätsrate. Zeit zur Abwägung bleibt kaum; Zeit zur eigenen Gestaltung und Verfügung fehlt. Auch der politische Entscheidungsprozess findet unter immer größerer Zeitverdichtung und in stets höherem Tempo statt, ohne sich selbst ausreichend übersetzen und vermitteln zu können. Je weniger Zeit der Zeitgenosse aber zur Eroberung seiner Lebenswelt mittels Wissen und Kenntnis hat, je weniger Fakten, Details und valide Information er kennt, desto weniger engagiert er sich, weil morgen bereits wieder überholt ist, was heute auf der Agenda steht. Er resigniert, arrangiert, verweigert oder radikalisiert sich, weil es scheinbar nichts zu gewinnen gibt. Der innere Imperativ zur sozialen Verantwortung verstummt.

4. Das Loyalitätsdefizit: Die Deutschen haben sich Loyalität gegenüber dem Staat über die letzten Jahrzehnte hinweg gründlich aberzogen. Die Diskreditierung patriotischer Gesinnungen als quasi-nationalistisch hat das zentrale Anliegen der bürgerlich-humanistischen Tradition geschliffen: dass jede freie Regierungsform der starken Identifikation vonseiten ihrer Bürger bedarf. Patriotismus aber hat mit Nationalismus nichts zu tun. Um es mit dem französischen Schriftsteller und Diplomaten Romain Gary zu sagen: Patriotismus ist die Liebe zu den Seinen, Nationalismus der Hass auf die anderen. Die Idee einer liberalen Demokratie allerdings ist wesentlich auf die Partizipationswilligkeit, zivile Loyalität und Solidarität ihrer Bürger angewiesen.

Verständliche Kommunikation wider die Empörung

Demokratie lebt von Voraussetzungen, die sie selbst weder schaffen noch garantieren kann. Ihr wichtigstes Organ ist immer zugleich ihr labilstes: das Individuum. Es ist die Schwachstelle eines Systems, das wie kein anderes Individualität fördert und dafür Verantwortung fordert. Individuelle Beteiligung kann man nicht erzwingen, man kann sie nur vorbereiten und anreizen. Aber wie? Es gibt heute keine kohärente, für alle gültige, allgemein verbindlich anerkannte Beschreibung der sozialen Wirklichkeit mehr. Die kommunikative Rationalität des Individuums als ideale Grundlage eines vernunftgeleiteten Diskurses kann nicht mehr per se vorausgesetzt werden; zunehmend erleben wir eine Emotionalisierung des Politischen mittels Empörungsmanagement. Wer jenseits von Weltbürgergesellschaft und nationalkonservativer Sehnsuchtserfüllung ein bindendes Narrativ, ein möglichst alle einendes Epos als unabdingbar ansieht, muss zur Therapie der vier skizzierten Defizite eine direkte Ansprache des verunsicherten und vereinsamten Zeitgenossen finden. Gute Politik wird künftig in der Konvertibilität ihrer Kommunikation bestehen.

Bürgerversammlungen und -sprechstunden sind das eine, Schülerparlamente und Volksentscheide das andere. Was aber wäre von einem Ministerium für Kommunikation zu halten? Politikvermittlung heißt ja, über die ungeheure Komplexität des Faktischen aufzuklären, Bezüge und Abhängigkeiten sichtbar zu machen, durch das Verstehen von Umständen Verständnis für Vorgänge zu wecken. Die Aufgabe künftiger Kommunikationspolitik könnte etwa in wöchentlichen „Reden an den Bürger“ bestehen, die als Podcast und Streaming-Clips in der Ministeriums-Mediathek unbegrenzt abrufbar sind. Minister müssten Gesetzesentwürfe erklären, die Regierung ihre Entscheidungen nachvollziehbar darstellen, Abgeordnete Argumente anbieten – in pointierter Kürze, direkt und positiv formuliert zum Nutzen für jeden Einzelnen.

Die pädagogische und intellektuelle Aufgabe könnte darin bestehen, am Ideal des aktiven Staatsbürgers zu arbeiten, um die Substanz des Demokratischen durch kulturelle Reproduktion zu wahren. Einiges deutet ja darauf hin, dass das Sozialverhalten der Bürger von morgen stärker auf den Zusammenhalt kleinerer Gemeinschaften ausgerichtet ist. Kooperativen, Nachbarschaftsnetzwerke, Kommunalquartiere sowie Zukunftsräte auf lokaler und regionaler Ebene sind Beispiele für Gemeinschaften, die eine neue Form und Vielfalt von Solidarität etablieren könnten.

Weil jeder es wert ist!

Kommunikation muss erlernt werden. Das setzt frühkindliche Erziehung voraus, Talentförderung durch Mentoren im Jugendbereich, Schülerstipendien und Bildungspartnerschaften. Förderung ist eine besondere Form der Ansprache und vermittelt dem Einzelnen das Gefühl und die Gewissheit, gewollt zu sein, gebraucht zu werden, es wert zu sein. Jedem Kind – einerlei, welcher Herkunft – muss die gleiche Chance ermöglicht werden, die Fähigkeit zur Selbstbefähigung zu entwickeln. Langzeitstudien aus den USA zeigen, dass die öffentliche Hand für jeden Dollar, den sie in Kinder aus sozial schwachen Familien investiert, später das bis zu Siebenfache zurückerhält: Gezielt geförderte Kinder haben bessere Schulabschlüsse, leben nicht von Sozialhilfe und werden seltener kriminell. Wer einmal Wertschätzung und Wohlfahrt erfahren hat, verhält sich meist selbst wertschätzend und wertschöpferisch; erlebte Solidarität verpflichtet zu künftiger.

Demokratie, dieses mühsame, langsame, manchmal behäbige Geschäft, funktioniert nur, wenn der idealistische Grundsatz gewahrt bleibt: dass jeder Bürger jeden anderen zu jeder Zeit regieren kann, darf und soll. Jeder Einzelne ist Gesellschaft. Jeder Einzelne ist Demokratie. Und jeder ist es wert.

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Christian Schüle, geboren 1970 in Friedrichshafen am Bodensee, freier Schriftsteller und Publizist sowie Lehrbeauftragter für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin.

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