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Zwischen Hyper- und Antimoralismus

Über das rechte Maß in der öffentlichen Debatte

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Ruhig, Deutschland, ruhig. Immer wieder ist man in Debatten dieser Tage versucht, das auszurufen. Wenn die Emotionen hochkochen, immer höher und höher, und die Vernunft überflutet wird. Wenn sachliche Argumente nicht mehr zählen, sondern die Gefühle die Macht übernehmen. Wenn sich der Streit selbst im Familien- und Freundeskreis sekundenschnell entzündet und sich nicht löschen lässt, über Stunden nicht, und manchmal auch überhaupt nicht mehr. Was ist los in Deutschland, in unseren Parlamenten, Talkshows, Wohnzimmern? Wo ist der kleinste gemeinsame Nenner, der demokratische Konsens, auf den sich möglichst viele verständigen können?

Auf der einen Seite erleben wir derzeit einen Aufstand des Unanständigen. So ist es in manchen Kreisen auf einmal wieder in Ordnung, politisch unkorrekt zu formulieren, bewusst zu beleidigen, andere niederzuschreien, wie es Bundeskanzlerin Angela Merkel, aber längst nicht nur sie, im Wahlkampf erleben musste. Endlich darf wieder öffentlich ausgesprochen werden, was Tabus so lange untersagten und nur den Stammtischen vorbehalten war. In den Vereinigten Staaten von Amerika regiert mit Donald Trump ein Präsident, der trotz solch eines ungehörigen Verhaltens die Wahl gewonnen hat, oder vielleicht sogar gerade deswegen.

Auf der anderen Seite herrscht ein zunehmender Moralismus, und er herrscht rigoros. Er kennt keinen Ausgleich, kein Abwägen, keine Milde, er ist ja per se richtig und gerecht. Wer sich in moralischen Fragen überlegen fühlt, schaut gern herab auf „die anderen“, „die Unbelehrbaren“, die Ewiggestrigen. Der Herrscherstab des Moralismus ist der Zeigefinger, sein Machtmittel die Verachtung, seine Krone der Heiligenschein. Wer auf der „richtigen“ Seite steht, fühlt sich so gut, dass er die anderen gar nicht zu sich herüberholen, sie überzeugen muss. Sie sind es ja nicht wert. Für den Moralisten heiligt der Zweck die Mittel. Hinterfragen der eigenen Positionen und Selbstzweifel haben da wenig Raum. Wenn die Umstände nicht so sind, wie sie sein sollten, ist der Weg zur Selbstjustiz nicht weit. Wie bei den Aktionen des „Zentrums für Politische Schönheit“ gegen den AfD-Politiker Björn Höcke. Die Rechtfertigung der Aktivisten klingt verständlich: Höcke hat es verdient, treibt er doch ein gefährliches Spiel mit der Erinnerung an den schwärzesten Teil der deutschen Geschichte. Aber ihn via „zivilgesellschaftlichen Verfassungsschutz“ auszuspionieren, erinnert an Bürgerwehren, die die Guten vor den Bösen beschützen wollen, wo der Staat vermeintlich versagt.

Empathie statt Moral

Hängt die eine Entwicklung mit der anderen zusammen? Vielleicht weil auch auf der vermeintlich gerechten Seite das rechte Maß verloren gegangen ist? So manches spricht dafür.

Zur Klarstellung: Es geht nicht darum, Moral an sich abzulehnen oder Antimoralismus zu rechtfertigen, im Gegenteil. Aber die Suche nach zugrunde liegenden Mechanismen, nach Wechselwirkungen hilft, bestimmte Entwicklungen besser zu verstehen und sie vielleicht zu entschärfen. Es geht um Moral als Machtinstrument. Um die Moralkeule, die die Argumente der anderen Seite hinwegfegt in ihrem heiligen Furor; die Diskussionen abwürgt oder bereits verhindert, die uns verachten statt verstehen lässt – genauso, wie es die tun, die mit „anständigem Verhalten“ nichts mehr anfangen können beziehungsweise wollen.

Für eine funktionierende Gesellschaft braucht es Verständnis oder zumindest Aufmerksamkeit. Für die Menschen, die es schwer haben, für die, die Angst haben, berechtigt oder unberechtigt. Es braucht: Empathie. Empathie hilft, die Schwächen der anderen akzeptieren zu können. Sie gibt dem Gegenüber das Gefühl, dass er etwas wert ist, auch wenn er andere Werte vertritt. Empathie ist da leise, wo Moral Gefahr läuft, zu laut zu werden. Empathie ist auch: leben lassen. Andersartigkeit akzeptieren, auch im Denken.

Denn es ist doch so: Scheinbar unverrückbare moralische Standards können sich ändern. Was in den 1950er-Jahren als anständiges Verhalten, als moralisch einzig richtig empfunden und vom Einzelnen verbindlich erwartet wurde, muss es heute nicht mehr sein. Nicht immer geht diese Entwicklung nur in eine Richtung – wie vor Kurzem die Löschung eines alten Magazincovers beim Fotodienst Instagram vor Augen geführt hat, weil es nackte Brüste zeigt. Niemand sollte sich also zu sicher sein, dass seine Auffassung von Moral die einzige ist, und schon gar nicht die einzig wahre.

Große Gefühle – große Wirkung

Wer sich das klarmacht, kann eigentlich nicht anders, als demütiger zu sein, zu versuchen, den anderen in seiner Andersartigkeit zu verstehen und ihn nicht gleich zu verurteilen. Denn wer weiß: Vielleicht befindet man sich gerade selbst auf der falschen Seite – und weiß es erst in der Rückschau? Wer das versteht, kann den Kompromiss suchen, der naturgemäß nicht voll und ganz die eigenen Positionen abdeckt – sonst wäre es ja kein Kompromiss, sondern eine Vereinnahmung. Der kann, ganz einfach, die goldene Mitte suchen.

Der Münchner Philosoph Alexander Grau hat sich des Phänomens gerade angenommen. In seinem Buch Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung beschreibt er eine zunehmende Moralisierung unserer Lebensbereiche, der individuellen (Ernährung, Rauchen) und der übergreifenden (Klimawandel, Außenpolitik). Aber auch das ist keine ganz neue Entwicklung: Grau bezieht sich ausdrücklich auf den Sozialphilosophen Arnold Gehlen, der das Phänomen der Hypermoral Ende der 1960er-Jahre bereits beschrieben hat – unter dem Begriff „Humanitarismus“. Demnach werden sachliche Debatten bewusst emotional aufgeheizt, um Menschen mit anderer Meinung durch „moralisch hochgeschraubte Argumente mundtot“ zu machen. Ein Denken in bestimmte Richtungen wird somit von vornherein ausgeschlossen.

Knapp vierzig Jahre später wirken die Medien – klassische genauso wie die sogenannten „sozialen“ – wie ein Verstärker, manchmal auch unvermeidbar. So beschreibt Grau, wie etwa derjenige, der in politischen Talkshows emotional und moralisch argumentiert, umso sympathischer wirkt, und derjenige, der sachliche, nüchterne Argumente bemüht, eher als kühl wahrgenommen wird. Eine Erkenntnis, die die politisch Handelnden längst erreicht hat – einen „Shitstorm“ wird wohl jeder und jede von ihnen schon erlebt haben.

Als die Kanzlerin in einem Bürgerdialog vor zwei Jahren dem palästinensischen „Flüchtlingsmädchen“ Reem erklärte, dass es wohl nicht in Deutschland bleiben dürfe und dieses in Tränen ausbrach, war der mediale Aufschrei groß: herzlose Merkel, hieß es überall. Dabei hatte sie nichts anderes getan, als die geltende Rechtslage zu beschreiben. Besonders sympathisch war das vielleicht nicht, aber: Wollen wir wirklich, dass unsere Regierenden Bauch- über Sachentscheidungen stellen? Ob Merkels Entscheidung wenige Monate später, in Ungarn festsitzende syrische Flüchtlinge nach Deutschland reisen zu lassen, auch eine Folge dieses Erlebnisses war, weiß nur sie selbst.

Gefahren der Moralisierung

Zur Herrschaft des Moralismus gehört auch, dass ganze Gruppen vom Diskurs ausgeschlossen werden, wenn sich ihre Argumentation außerhalb des angeblich „demokratischen Konsenses“ befindet. Gut zu beobachten war das auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsdebatte, als der Satz „Wir können die Menschen doch nicht ertrinken lassen“ alle Zweifler an einer Politik der offenen Grenzen diskreditieren konnte. Wer an die Moral appelliert, macht sein Anliegen, sein Argument groß – und läuft Gefahr, es zu überhöhen. „Wir können die Menschen doch nicht ertrinken lassen“ bedeutet dann eigentlich: Wir müssen allen helfen, wir sind im Grunde für alle Menschen verantwortlich.

Was daraus konkret für eine vor allem der eigenen Bevölkerung verpflichtete Regierung folgen soll, bleibt offen. Der Umkehrschluss, es müsse einen gar nichts angehen, kann dann schnell die Antwort sein auf die Überforderung, sich für alle moralisch zuständig fühlen zu müssen. Wer auf dem emotionalen Höhepunkt der Debatte mit Blick auf die nicht unendlich belastbare Gesellschaft eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen forderte, lief Gefahr, in die rechte Ecke gestellt zu werden. Das wiederum trieb den rechten Rattenfängern erst recht Wähler zu.

Nicht jedem hierzulande geht es materiell so gut, dass er sich sorgenfrei um Fremde sorgen will und kann. Zumindest darf das nicht von jedem erwartet werden. Wer nicht weiß, wie er (beziehungsweise häufiger sie) alleinerziehend die Klassenfahrt der Kinder finanzieren soll, wer Angst hat vor jeder Monatsabrechnung, vor dem Zahnarztbesuch, weil die Zuzahlung steigt und steigt, der hat nicht automatisch die Kapazität, sich noch für andere verantwortlich zu fühlen. Das ist moralisch nicht besonders großartig, aber eben auch nicht verwerflich.

Stéphane Hessel hat mit seinem Essay Empört Euch! vor sieben Jahren einen Bestseller hingelegt. Verwundern muss der Erfolg nicht, viele der Missstände, die der Franzose anprangert, sind ja wirklich welche. Kritik an hemmungslosem Kapitalismus und wachsender Ungleichheit hat genauso ihre Berechtigung wie das Eintreten gegen Wettrüsten und für Frieden. Aber auch die gerechteste Empörung lässt irgendwann nach. Und dann müssen Handlungen folgen, mit denen möglichst viele Menschen leben können. Als Voraussetzung dafür braucht es dringend moralische Abrüstung. Nur so lässt sich der demokratische Konsens tatsächlich finden.

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Juliane Schäuble, geboren 1976 in Offenburg, Ressortleiterin Politik, „Der Tagesspiegel“.

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