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Country reports

Italiens Rückkehr in die politische Mitte

by Dr. Nino Galetti, Michael Feth

Italien verabschiedet sich vom radikalen Populismus. Seit der Übernahme der Regierung Draghi streben die politischen Formationen in die Mitte.

Italien legt derzeit eine erstaunliche politische Wende hin. Seit der Übernahme der Regierung Draghi im Februar 2021 streben die großen politischen Formationen in die Mitte. Das Land verabschiedet sich vom radikalen Populismus. Erstmals seit langer Zeit fühlt sich eine Mehrheit der Italiener laut Umfragen gut regiert. Über allem schwebt jedoch die Ungewissheit der Präsidentenwahl im kommenden Jahr.

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Ein besseres Symbol für die erstaunliche Wende, die sich gerade in Italien vollzieht, hätte es nicht geben können als den Sieg der italienischen Fußballmannschaft im Finale der Europa­meisterschaft. „Italien ist wieder da“ oder „Italien ist zurück in Europa“, titelten die Zeitungen. Diese Schlagzeilen, der Jubel eines ganzen Landes und der anschließende Triumphzug der Fußballer durch die Straßen Roms stehen sinnbildlich für eine Nation, die von manchen Beobachtern schon abgeschrieben worden war. Der EM-Titel steht sichtbar für das neue Selbstvertrauen des Landes zu sich selbst, zu seinen Werten und Fähigkeiten. Teamgeist, Widerstandskraft und Mut zur Offensive – Attribute, die nicht nur im Sport zählen.

Diese Tugenden hatte man in Italien lange vermisst, erst recht in der Politik. Seit dem Untergang der „Democrazia Cristiana“ in der ersten Hälfte der 1990er Jahre schien das Parteiensystem in Italien allzu oft gelähmt von persönlichen Egoismen und Eitelkeiten, von Pfründewirtschaft und Amigo-Affären, von kleinlichem Gezänk und taktischen Finessen; schließlich, im vergangenen Jahrzehnt, mutierte das schwer von Finanz- und Schuldenkrise betroffene Land zum Versuchslabor des antieuropäischen Rechts- und Linkspopulismus. Damit einher ging eine Verrohung des politischen Diskurses, der selbst für die eher robusten italienischen Verhältnisse nur schwer zu ertragen war.

Seit ein paar Monaten jedoch ist ein deutlicher Stimmungswechsel zu bemerken: In der Parteienlandschaft genauso wie in der Gesellschaft. Die Pandemie hat in Italien tiefe soziale Spuren hinterlassen. Kaum ein anders Land Europas ist so hart getroffen worden, die Anzahl der Toten liegt bei knapp 128.000 (Stand 25. Juli 2021). Gerade ein gutes Jahr ist es her, da die Bilder von den nächtlichen Militärkonvois Italien und die Welt schockierten: Da man in der Provinz Bergamo nicht mehr wusste, wohin mit den Leichen, transportierte die Armee Hunderte von Särgen in die Krematorien von Modena und Bologna. Die Pandemie traf Kommunen, Provinzen, Metropolen und Regionen aller politischen Farben. So gut wie jeder politische Funktionsträger wurde sich bewusst, dass er ohne die Hilfe selbst politischer Gegner auf verlorenem Posten stand und populistische Sprüche niemandem halfen. Ohne diese dramatische Erfahrung wäre die neue Fast-Allparteien-Regierung unter Premierminister Mario Draghi kaum denkbar gewesen.

Rückblick: Renzis Rache?

Ein kurzer Rückblick: Viele hatten es Ex-Premier Matteo Renzi und seiner Abspaltung „Italia Viva“ übelgenommen, dass er den amtierenden Regierungschef Giuseppe Conte mitten in der dritten Welle der Pandemie aus dem Amt gedrängt hatte. Als Motiv sahen nicht nur Renzis Gegner Rachsucht und Egoismus. Mit dem Wissen von heute stellt sich die Lage differenzierter da: Die Unzufriedenheit mit dem zunehmend glücklos und nervös handelnden Premierminister war mit Händen zu greifen. Der missglückte erste Entwurf des Antrags für den Recovery Plan der EU hatte selbst im Präsidentenpalast für Unmut gesorgt, da die Regierung offensichtlich alte Klientel-Projekte fördern und Freunde aus der Fünf-Sterne-Bewegung beglücken wollte.

Es muss – so rekonstruieren Eingeweihte – in jenen Tagen gewesen sein, dass Staatspräsident Sergio Mattarella zum Telefon gegriffen und Mario Draghi angerufen habe, ob er im Notfall bereitstehe. Die Antwort kennen wir. Die „Schmutzarbeit“ im Parlament übernahmen Buhmann Renzi mit seiner Gruppierung sowie einige Getreue im Partito Democratico. Contes Zeit war abgelaufen.

Draghi: Regieren mit ruhiger Hand

Seit Februar regiert Mario Draghi Italien mit ruhiger Hand. Der neue Premier tritt nur selten öffentlich auf und hebt sich damit wohltuend von der stets in Aufregung befindlichen Polit-Arena Roms ab. Mit seinem Kabinett, das zu großen Teilen aus erfahrenen Fachleuten besteht, setzt er konsequent sein Arbeitsprogramm um: von der Impfkampagne über den Recovery-Plan bis zur Justizreform. Zwar knirscht es regierungs­intern immer wieder im Gebälk, doch gerät die Statik bislang nicht ins Wanken. Das gegenwärtige Gezänk um ein geplantes Antidiskriminierungsgesetz wird genauso wenig zum Bruch führen wie der Streit um Verjährungsfristen im Straf- und Zivilrecht.

Denn alle Regierungsparteien wissen, dass ein vorzeitiges Ende der Regierung Draghi fatal auf sie selbst zurückfallen und möglicherweise vorzeitige Wahlen auslösen würde. Genau dies ist jedoch unwahrscheinlich: Nachdem im Rahmen einer Volksabstimmung im September 2021 beschlossen worden war, Abgeordnetenkammer und Senat ab der nächsten Wahl von derzeit 945 Mitgliedern auf 600 zu verkleinern, kann sich die Mehrzahl der Senatoren und Abgeordneten ihrer Wiederwahl nicht mehr sicher sein. Dies übt eine stabilisierende Wirkung auf das Politgeschehen aus. Gleichzeitig setzt die gegenwärtige Situation eine Dynamik frei und verändert die italienische Parteienlandschaft. In der laufenden Wahlperiode haben bereits über 200 Senatoren und Abgeordnete die Partei oder Fraktion gewechselt.

Fünf-Sterne-Bewegung

Es gehört zu den großen Wundern, dass ausgerechnet der „Garant“ der Fünf-Sterne-Bewegung, der frühere Komiker Beppe Grillo, der neuen „Regierung der nationalen Einheit“ unter Draghi die Unterstützung der seit 2018 stärksten Kraft in den Parlamentskammern zusagte. Wieviel Kreide er und seine Parteifreunde verschlungen haben, wird klar, wenn man bedenkt, dass Draghi für die Sterne bis dato schlichtweg der Inbegriff des verabscheuten Establishments und der Macht der Finanzmärkte war. Blitzschnelle Wendigkeit ist jedoch ein Markenzeichen des machtbewussten und ausgebufften Grillo, den inzwischen niemand mehr als „Politclown“ verhöhnt.

Diese Erfahrung musste zuletzt der frühere Premierminister Giuseppe Conte machen. Ein wochenlanger Streit zwischen ihm, dem designierten Parteichef, und dem Garanten hätte die Sterne fast zerrissen. Erst Mitte Juli haben sich die beiden versöhnt. Der Streit bildet den innerparteilichen Konflikt zwischen „Realos“ und „Fundis“ ab. Conte möchte die neue Bewegung programmatisch stärker ins politische Zentrum rücken: Statt radikaler „Graswurzelbewegung“ normale Gremienpartei, statt Protestbewegung staatstragender Teil der Regierungsmehrheit. Im neuen Statut, über das die Basis im August online abstimmen soll, stehen u.a. Schlüsselbegriffe wie Ökologie, soziale Gerechtigkeit, technologische Innovation und öko-soziale Marktwirtschaft. Als linksliberal, reformistisch und bürgerrechts­orientiert könnte man es in deutscher Politterminologie beschreiben.

Die Fünf-Sterne-Bewegung ist ein gutes Beispiel dafür, dass Populisten in der Regierungs­verantwortung der Zuspruch verloren geht: Nachdem sie bei den Parlamentswahlen 2018 mit knapp 33 Prozent zur stärksten Kraft gewählt worden waren, liegen sie heute in Umfragen mit rund 15 Prozent nur noch auf Platz vier. Rund ein Viertel ihrer ursprünglichen Mitglieder in Senat und Abgeordnetenkammer haben Partei oder Fraktion verlassen.

Partito Democratico

Ähnlich bemerkenswert sind die Wandlungen beim Partito Democratico (PD). Mit dem früheren Regierungschef Enrico Letta wurde im März ein Christdemokrat zum Chef der proeuropäischen Mitte-Links-Partei gemacht, die im Europäischen Parlament nominell der sozialdemokratischen Fraktion angehört. Nach Matteo Renzi und Paolo Gentiloni ist Letta bereits der dritte Vorsitzende der PD, der seine Wurzeln im katholisch-christdemokratischen Milieu hat. Schon unter Renzi, dem selbsternannten „Verschrotter“ („rottamatore“) der alten Garde, hatte sich der traditionell linke, gewerkschaftlich orientierte Flügel abgespalten und somit Platz gelassen für den Ruck in die Mitte. Die Partei positioniert sich als Stabilitätsanker und Bollwerk gegen den linken und rechten Populismus. Persönlichkeiten wie der derzeitige Präsident des Europäischen Parlaments, Davide Sassoli, oder der frühere Finanzminister und aktuelle Bürgermeister­kandidat für die Hauptstadt Rom, Roberto Gualtieri, stehen für die Europatreue der PD, die in vielen Positionen der CDU nahesteht.

Der erste Test für den neuen Vorsitzenden werden die im Herbst stattfindenden Kommunalwahlen sein. Die von ihm erhofften Linksbündnisse mit den Fünf-Sternen sind in einigen großen Städten wie Rom nicht zustande gekommen und könnten die Aussichten auf einen Erfolg trüben. Gegenwärtig steht die PD in den Umfragen bei knapp 20 Prozent.

Lega und Fratelli d‘Italia

Dass sich ausgerechnet Partito Democratico und Lega unter Premier Draghi in einer gemeinsamen Regierung wiederfinden, wäre bis vor kurzem undenkbar gewesen. Bei Lega-Chef Matteo Salvini, der noch vor Jahren Italien aus dem Euro führen wollte, ist ein ähnliches Phänomen zu beobachten wie bei Beppe Grillo. Vom schärfsten Kritiker der Europäischen Zentralbank ist er zum Weihrauchfassschwenker Mario Draghis mutiert, den er bei jeder Gelegenheit preist. Man kann ihm dabei getrost eine gehörige Portion Opportunismus unterstellen, denn im Herzen ist und bleibt er Populist.

Doch die Zeiten, in denen ihm seine Partei sklavisch folgte, sind vorbei. Für eine Annäherung an die bürgerliche Mitte stehen etwa Lega-Politiker wie Wirtschaftsminister Giancarlo Giorgetti, der erfolgreiche Regionalpräsident des Veneto (Region Venedig), Luca Zaia, oder sein Kollege aus Friaul-Julisch-Venetien (Region Triest), Massimiliano Fedriga. Sollte bei den spätestens im Frühjahr 2023 fälligen Parlamentswahlen die Lega von den Fratelli d´Italia überholt werden, dürfte Salvinis Zeit als Parteichef schnell zu Ende sein.

Tatsächlich liegen die Fratelli, die 2012 aus der postfaschistischen „Alleanza Nazionale“ hervorgegangen sind und heute nationalkonservativ auftreten, mit ihrer populären Chefin Giorgia Meloni in Umfragen derzeit bei gut 20 Prozent und somit gleichauf mit der Lega. Bei den Parlamentswahlen 2018 hatten sie noch 4,4 Prozent erhalten. Bei dem Kampf um den ersten Platz im rechten Lager hat Meloni gegenüber Lega-Chef Salvini einen strategischen Vorteil: sie versteht es, sich als einzige Oppositionskraft darzustellen. Salvini ist hingegen in die Regierung eingebunden und wird bei jeder passenden Gelegenheit vom politischen Gegner, mitunter von Regierungschef Draghi selbst, wegen seiner widersprüchlichen Aussagen öffentlich vorgeführt. Als Salvini etwa forderte, das laufende Impfprogramm für Unter-40-Jährige nicht weiterzuverfolgen, mahnte Draghi öffentlich, ein solcher Aufruf sei ein „Aufruf zum Sterben“ („L’appello a non vaccinarsi è un appello a morire“).[1]

Forza Italia

Die scharfe Konkurrenz-Situation zwischen Lega und Fratelli dürfte auch einen Zusammenschluss aller Parteien rechts der Mitte, wie ihn sich Silvio Berlusconi wünscht, unwahrscheinlich machen. Dessen einstmals stolze Forza Italia zeigt deutliche Auflösungserscheinungen und ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Seit gut zwei Jahren kommt die Gruppierung in Umfragen nicht mehr über acht Prozent hinaus. Prominente Abgeordnete und Senatoren wechseln die Seiten, nicht zuletzt seit Berlusconi vor wenigen Wochen begonnen hat, laut über eine neue Rechtspartei nachzudenken – etwa unter dem Namen CDU („Centro Destra Unito“ – etwa: Vereintes Rechtes Zentrum).

Vor allem die bürgerlich verorteten Mitglieder sehen ein solches Zusammengehen mit Graus. Soeben hat der einstige Wunschnachfolger Berlusconis, der Regionalpräsident von Ligurien (Region Genua) Giovanni Toti, gemeinsam mit Venedigs Bürgermeister Luigi Brugnaro eine neue Formation aus der Taufe gehoben: „Coraggio Italia“ (etwa: „Nur Mut, Italien“). Ziel sind bürgerlich-liberale Wähler der Mitte, von der populistischen Rechten grenzt man sich klar ab. Beide Politiker gelten als erfolgreich und wurden im vergangenen September mit deutlicher Mehrheit in ihren Ämtern bestätigt.

Mit ihrer Parteigründung sind die beiden jedoch nicht allein: Zahlreiche Formationen, die sich auf das Erbe der Mitte der 1990er Jahre untergegangenen „Democrazia Cristiana“ berufen, werden mit dem Ziel gegründet, bürgerlich-konservativen Wählern mit einer proeuropäischen Mitte-Rechts-Partei ein vernünftiges Angebot zu machen.

Präsidentenwahl 2022

Ein wichtiger Kristallisationspunkt wird die Wahl des Staatspräsidenten sein, die im Februar 2022 ansteht. Dann endet die 7jährige Amtszeit des 80jährigen Christdemokraten Sergio Mattarella. Italiens Staatsoberhaupt hat verfassungsmäßig weitreichende Vollmachten, auch wenn diese von den Bewohnern des Quirinalspalastes traditionell diskret und hinter verschlossenen Türen ausgeübt werden. Der Präsident ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte und sitzt dem Nationalen Sicherheitsrat vor. Bei der Besetzung der Ministerposten hat er ein Vetorecht. Davon machte etwa Mattarella Gebrauch, als die Populisten-Koalition aus Fünf-Sternen und Lega 2018 einen Euro-Gegner zum Finanzminister machen wollten.

Hinter den Kulissen versuchen derzeit viele den beliebten Staatschef zum Weitermachen zu bewegen; wenigstens für ein paar Jahre, wie es sein Vorgänger Giorgio Napolitano vormachte. Die andere Variante sieht stattdessen Premier Mario Draghi auf dem Weg in den Präsidentenpalast. Doch das würde wohl unweigerlich das Ende der Regierung und Neuwahlen nach sich ziehen. Wie sich die tragenden Parteien in den kommenden Monaten positionieren, wird auch darüber entscheiden, ob Italien tatsächlich die große Wende zum Besseren vollbringt. Gegenwärtig sind die Aussichten nicht schlecht: die Parteien zieht es in die Mitte.

 

Autoren:

Michael Feth, freier Korrespondent und Italien-Experte.

Nino Galetti, Leiter des Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rom

 

 


[1] Zitiert nach Huffington Post vom 23. Juli 2021 - https://www.huffingtonpost.it/entry/salvini-sotto-i-40-anni-non-devono-vaccinarsi-burioni-battaglia-senza-senso_it_60faa764e4b0d1bafbfd369f

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