Evento
Detalles
Alljährlich ehrt die Kulturabteilung der Konrad-Adenauer-Stiftung eine herausragende Persönlichkeit der deutschsprachigen Kultur im Rahmen einer eleganten Soirée. Nachdem u.a. Adolf Muschg, Christoph Ransmayr und in diesem Jahr die Schauspielerin Jutta Lampe in Berlin gefeiert wurden, widmet sich die Hommage 2007 dem Bildhauer Günther Uecker. Ueckers Arbeiten gehören zu den signifikantesten Skulpturen unserer Zeit. Die Veranstaltung, zu der eine persönliche Einladung erforderlich ist, wird durch Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert am 17. Januar 2007 um 20:00 Uhr in der Konrad-Adenauer-Stiftung Berlin eröffnet. Die Laudatio hält der Kölner Pfarrer und Jesuit Pater Mennekes, der seit Jahren in Deutschland den Dialog zwischen Religion und Kunst befördert. Das festliche Programm wird durch Musik und Literatur, die in Bezug zum Werk Ueckers steht, abgerundet.
----------------------------------------------------------------------
Pater Friedhelm Mennekes S.J.
Laudatio auf Günther Uecker
Hommage der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin am 17. Januar 2007
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, lieber Günther Uecker, meine Damen und Herren,
von Uecker zu reden heißt, in eine dialektisch strukturierte Wirklichkeit einzutauchen. Sein innerer Raum als Künstler ist voller Gegensätze, die zuweilen auch als Widersprüche erscheinen. Ihnen kann er nur dialektisch beikommen, bewegend und fragend, praktisch wie theoretisch, materialistisch wie idealistisch – marxistisch wie (Pardon!) jesuitisch.
Schon in seiner eigenen Biographie durchschreitet Uecker die immens nationalen wie geschichtlichen Spannungen, ohne ihnen je auszuweichen. Geboren im Osten, geflohen nach Westen, bezieht er keinen Standortwechsel, sondern bleibt im Woher und Wohin gleichermaßen verwurzelt. Seinen inneren wie äußeren Lebensraum steckte der damit ab. Zwei Dörfer bilden seine Lebenspole: das östliche Wendorf in Mecklenburg und das westliche Düsseldorf, ehemals Hauptstadt der Grafschaft Berg, später Preußen, heute Nordrhein-Westfalen. Doch zwischen den Eckpunkten liegt seine Stadt. Das ist Berlin. Nicht gerade in der Mitte, aber durch einen fast Rechten Winkel und einen annähernd Goldenen Schnitt aus der Nord-Süd-Achse in die von Osten nach Westen gebrochen. Von hier aus umfängt und bereist er stets und ständig seine Welt, die zugleich auch unsere Welt ist.
Die Koordinaten der Himmelsrichtungen lehren ihn früh, die Welt anders als üblich zu reflektieren. Sein permanenter, dialektischer Standortwechsel hat ihn, wie er seinem Berliner Freund Dieter Honisch sagt, sicher befähigt, meine künstlerischen Handlungen grenzübergreifend zu verstehen, weil ich ja in einem inneren Konflikt stand. Ich bestehe weiterhin konflikthaft aus meiner Herkunft, und dies zeigt sich in meinen Werken: nicht Harmonien herzustellen, sondern dieses Scheitern in der Kunst so weit zu treiben, dass es sich als eine Wirklichkeit, eine Wahrhaftigkeit eines gelebten Lebens erweist, dass da eine Komplexität von in mir erfahrenen kulturellen Widersprüchen bildnerisch zum Ausdruck kommt. (in Kat. Der geschundene Mensch, S. 26)
Seine Herkunft steckt aber nicht nur geographische und historische Richtungen und Spannungen ab, sondern reißt auch ganz andere lebendige Gegensätze auf: Licht und Dunkel, Material und Idee, Chaos und Form, Romantik und Realismus, Aggression und Versöhnung, feste Struktur und offene Bewegung, Tod und Leben, Kunst und Alltag, Gelassenheit und Nervosität, Konflikt und Frieden...
Diese Widersprüchlichkeiten erweisen sich für ihn früh als eine schier unerschöpfliche gestalterische Kraft. Mit ihr kann der Künstler Widersprüche in sich vereinen, erkennen, erkennbar machen in der Poesie, bis zum Gesang und in der Malerei. Damit zeigt er eine Wirklichkeit dieser Welt, die antipolar und im Sinne von Interferenzen strukturell wirksam von vielen Faktoren bestimmt ist und doch eine Einheit bildet. Also kann man sagen: der schöpferische Geist verbindet sich im künstlerischen Handeln aus dem Widerspruch, und das Bildwerk stellt dieses als Einheit dar. (Ebd., S. 18)
Hier bildet ein geistiges Berlin seine Mitte, gleich ob er in Düsseldorf oder Wendorf, in Peking oder Santiago de Chile ist. Die Stadt Berlin ist für ihn der Ort seiner Transgressionen und Grenzüberschreitungen.
Beladen und belastet von seiner Herkunft, dem russischen Suprematismus, dem polnischen Konstruktivismus, dem sozialistischen Realismus flieht er von hier aus kraft der existentiellen und humanistischen Impulse, welche diesen politischen und kulturellen Aufbrüchen eigen sind, hinaus – in den Westen. Die Not in den Zwängen von Unbeweglichkeit und verweigerter Freiheit band ihn an sich selbst und verwickelte ihn in die radikalen Infragestellungen – sowohl seiner selbst wie seiner Kunst. Dies beschwor die Konzentration aller seiner Kräfte auf sich selbst – und darin ist er bis heute Ostler geblieben.
An der Düsseldorfer Akademie schließlich findet dieser nicht mehr ganz so junge Künstler in der Kunstklasse des rheinischen Expressionisten Otto Pankok eine erste Ruhe, aus der heraus aber erneut Unruhe in seine Kunst einbricht. Der Zweifel gewinnt eine feste Gestalt. Er setzt die Phase der Ablehnungen frei. Dem Verwerfen des Realismus folgt die Zurückweisung des damals gängigen, in sich selbst verliebten Tachismus und Informel. Getreu seinem geistigen Idol Malewitsch zieht es ihn zum Grund der Kunst, zum Anfang, zum Nullpunkt. Er beginnt mit vorsichtigen, haptisch bewegten, kompositorisch überlegten monochromen Farbbildern. Mit seinen groben großen Fingern wühlt er auf kleinen Leinwänden in der reinen Farbe herum und schafft enge Formate. Sie sind ohne Inhalte, ohne Botschaft, zeigen aber seinen Mut zum Abschied und zum gärenden Aufbruch. In destruktiver Kehre sucht er einen neuen Anfang. Mit handwerklichen Mitteln schafft er anonyme Strukturen. Gebunden bleibt er von Anfang an in den gleichen Formaten. Er bindet sich ins Rechteck, ins Quadrat, in den Kreis.
Bald schon erweitert sich diese zweidimensionale Welt seiner Bilder. Er nimmt plastische Elemente in seine Malereien auf und verlässt die Fläche. Dieser Ausbruch in den Raum führt ihn zunächst ins Relief, dann in die Skulptur, dann in die Rauminstallation und schließlich im Laufe der Jahre in die Breite seines kulturellen Schaffens aus der Mitte der Kunst hinaus. Sie zieht ihn zu Bühnen- und Opernausstattungen, Außenskulpturen und insgesamt in den öffentlichen Raum – immer dem Betrachter, dem nachdenklichen Menschen entgegen. Sein KunstRaum öffnet sich den gesellschaftlichen Fragen und Nöten. Seine Kunst wird zum Handlungsraum, ja zum politischen, zum ethischen Raum. Insofern hat Dieter Hoenisch Recht, wenn er sagt, dass man innerhalb dieser Kunst eigentlich keine Entwicklung erkennt. Er ist und bleibt stets derselbe, der Dialektiker, geht voran und zurück, stets in Spannung und Formung, und permanent in Veränderung, wie sie der Zweifel treibt. Aber der Radius seines Wirkens wird dabei immer weiter.
Nach dem Abschied vom Bildinhalt beugt er sich geradezu demütig zum Einfachen hinunter, zum alltäglichen Material. Erhebt er zunächst die Farbe zum Inhalt, demontiert er dann die Latten aufgezogenen Leinwände und operiert mit dem, was früher der Kunst voraus lag, mit dem Holz der Keilrahmen und dem textilen Stoff; dann treten Latten hinzu, Seile, Bindfäden, dann sind es Fundstücke wie Steine, Alltagsgegenstände, Nägel, Sand oder Asche… Er behandelt diese Dinge als sie selbst, er befreit ihren eigenen Charakter, enthoben sind sie nun von der Last, expressiv oder plakativ zu sein. Dem allen setzt er eine neutrale, horizontale und vertikale Rasterungen auf. Anstelle des informellen Kults mit der Handschrift des Künstlers erarbeitet er so seine Strukturbilder ab 1955.
Für kurze Zeit steht er mit ZERO in Kontakt. Im Gegenschlag zum bisherigen Schaffen findet er zu einer Art Schlag gegen sich selbst. Er führt seine Materialisierungen ins Weiß, ins Licht und in die Bewegung. Jetzt werden die Objekte, aber auch die ohnehin spärlich verwendeten Farben geradezu entmaterialisiert und ins Weiß aufgehoben. Verschwunden sind sie damit nicht, aber eben transponiert.
An keinem Gegenstand lässt sich dies deutlicher ablesen als am Nagel. Er schlägt ihn in die Mitte einer Vorlage hinein und entwickelt daraus die großartig bewegten, ja lebendigen Lichtfelder und fantastischen weißen Welten. Doch gegen den Nagelschlag in die Objekte, die Bilder, die Möbelstücke, die Musikinstrumente, die Türrahmen – scheinen sich die Nägel aus sich selbst heraus zu wehren. Sie bleiben aus der Unterlage heraus stecken und recken sich in den Raum hinein. Eine zweite Schicht, wie windbewegte Ähren auf einem Feld, ein Dickicht von Licht und Reflexionen wie die Wellen im Schein einer untergehenden Sonne. Es sind die vibrierenden Schatten von Effekten vor bewegten Augen, alles baut einen Absprung auf eine Welt hin auf, die – gebunden in den physikalischen Prozessen des Sehens - sich in einen anderen Raum hinein erhebt, der über oder unter der sichtbaren Welt liegt.
Wie ich Nägel als Strukturelemente benutze, möchte ich sie nicht als Nägel verstanden wissen. Mir geht es darum, mit diesen Mitteln in ihrem geordneten Verhältnis zueinander, eine Schwingung zu erreichen, die ihre geometrische Ordnung stört und sie zu irritieren vermag. Die weißen Objekte sind als Zustand äußerster Intensität zu verstehen, welche durch Reflexion von Licht sich in dauernder Veränderung befinden. Als wichtig betrachte ich die Veränderlichkeit, die uns die Schönheit der Bewegung zu vermitteln vermag. (zit. im Sammlungskatalog II, Kunstmuseum Bonn, S.442)
Die Nägel fordern Ueckers expressives Handeln, doch sie scheinen ihn ganz auf sich selbst zurück zu werfen. Die Monotonie führt ihn in eine Nachdenklichkeit beim Tun, in die Einkehr beim Schlagen, in eine Leichtigkeit des Tuns; nicht er nagelt, es nagelt… Die schier ewige Wiederholung immer derselben Bewegung. Oder nageln die Nägel längst sich selbst? Es sind Fragen die auf andere Strukturen verweisen: Meditation. Reflexion. Kontemplation. Darum ist beim Künstler wie beim Betrachter beim Nageln höchste Konzentration gefordert. Korrekturen sind nicht möglich. Uecker tut, was ein traditioneller Mönch nicht tun soll: beim Arbeiten zu beten. Unfälle und Wunden bleiben daher nicht aus.
Die Abstände der Nägel sind die seiner Finger. Die Weite der Nägelfelder finden ihr Maß in der Reichweite seiner Hände. Im Ergebnis entstehen so die belebt fluktuierenden Räume, die Lichtwelten, die sich an der Materialität des Eisens und des Schattens fangen und halten. Die bewegten Räume machen die Energien sichtbar. Es baut sich auf eine Materialität im Immateriellen. Es sind die dinglichen Materialien, die sich aufheben ins Licht. Und immer wieder zeigen sich hier die Strukturen seiner dialektischen Existenz. Seine Bilder stellen nichts vor. Sie sind, was sie sind. Und doch bleiben sie beredt. Nicht nur durch einlinige Symbolik, sondern vor allem durch die Spannung, in der geistig-kreative Bewegungen erzeugt werden. Das Licht und das Weiß sind für ihn Weisen zu sein, eine eigene Welt, die in und über dieser materialen Welt selbst existiert, aus ihr und in ihr sich weitet.
Eine Weiße Welt ist, glaube ich, eine humane Welt, in der der Mensch seine farbige Existenz erfährt, in der er lebendig sein kann. Diese Weiß-Strukturen können eine geistige Sprache sein, in der wir zu meditieren beginnen. Der Zustand Weiß kann als Gebet verstanden werden, seine Artikulation ein spirituelles Erlebnis sein. Dieses Sein im Weiß unterscheidet sich von dem Dunkel, vom kreatürlichen Existenzbeweis im Geschrei von der großen Geste, einem Drama des Leidens, wo alle Erlösung ins Jenseitige projiziert wird. (Zit. in Kat. Kestner 1964/65)
In dieser weißen Welt öffnet sich der östlich geprägte, konfessionslose Uecker den rheinisch-gestützten Fragen nach dem Anderen, nennen wir es mit Beuys Überraum und Überzeit, mit Rudolf Steiner Gegenwelt, mit dem Theologen Tillich das Ganz Andere oder ganz einfach mit dem gläubigen Christen den Gott Jesu Christi, der Gott im Wort der Bergpredigt, in der heilenden Kraft zur Befreiung von Blindheit, in der Emphase der Geschichten vom fremden Samariter oder vom Sohn, der verlorenen ging und von diesem Gott Leben spendende Verzeihung fand.
Formal ist dieses Fragen Ueckers in Pathos und Emphase breit gestützt auf ein globales Fundament. Sie fußt in der Mitte buddhistischer, hinduistischer, islamischer, jüdischer, christlicher Formen. Selbst das Nageln steht in Kontexten, nicht nur des Alltags, sondern ebenso des zen-buddhistischen Bogenschießens oder der Annagelung ans Kreuz. Die künstlerisch-religiösen Implikationen im Werk von Günther Uecker sind in ein Ganzes aus Kunst/Mythos/Religion eingebunden. Sie stehen auf keiner konfessionellen Basis. Obwohl anthropologisch orientiert, halten sie sich – widerspruchsreich – allen Optionen gegenüber offen. Das zeigt beispielsweise das Versuchte Kreuz aus Sankt Petri zu Lübeck, das Triptychon Zwischen Schwarz und Weiß in Sankt Peter zu Köln, das zeigt aber auch der Andachtsraum im Berliner Reichstag mit dem teilweise mit Nägeln beschlagenen Kreuz.
Die Rezeption des früheren Bundestagspräsidenten Thierse gibt hier eine Wegweisung, wie der Betrachter selbst die formalen Andeutungen für sich in sein eigenes Bekenntnis überführen kann. Thierse spricht davon, dass diese Materialien und Formen ihre eigene Botschaft senden und den Menschen sinnlich und geistig ansprechen können: Sie symbolisieren nämlich alle Zufügungen von Leid und Unrecht, die der verkündeten frohen Botschaft täglich so sehr entgegengesetzt werden. Aber der Künstler verharrt nicht in dieser leidvollen Betrachtung, sondern lässt die Nägel wie eine Wolke oder einen Vogel sich nach oben vom Kreuz hinweg heben. So weist er zwar auf die Selbstgefährdung des Menschen hin, setzt aber zugleich ein Zeichen der Hoffnung, das den Mächtigen der Zerstörung entgegengestellt wird.” (Manuskript Thierse, S. 2)
Günther Uecker gehört zu einer Generation und Gruppe von Künstlern, die - etwa mit den großen Amerikanerinnen Jenny Holzer oder Barbara Kruger - um eine erneuerte Dringlichkeit in unserer Sprachen und in unseren Bilder ringen. Diese Künstler leiden an der Ohnmacht des Menschen, mit sich und seinesgleichen zu kommunizieren, sich einander akzeptieren, miteinander zu verständigen. Sie suchen verzweifelt nach den Fundamenten der Kommunikationen und hoffen dabei auf eine Vitalisierung ihrer inneren Strukturen. Diese Künstler begreifen sich als Seismographen, Mahner, Visionäre und – so möchte ich hinzufügen Propheten? Das sind jene, die den Durchblick haben, die synthetische Kraft zum Überschauen und Durchschauen.
Wir kommen hier an einen besonderen Punkt von Ueckers Kraft, im Rahmen formaler künstlerischer Klarheit eine ebenso philosophische wie existentielle Erkenntniskritik für den Men
schen unserer Tage zu entwerfen. Zwar geht es ihm um das Bild, nicht um das Wort, aber letztlich geht es ihm um Erkenntnis aus beidem.
Unsagbares wird im künstlerischen Werk sichtbar, in Farben und Formen findet es seinen Ausdruck, wird Gestalt, erinnert an gemeinsame Herkunft in unseren Vorstellungswelten, erinnert an einen Urgrund unseres Seins. Im Bild ans Licht gebracht, erfolgt ein Erkennen und Wiedererkennen auf einem möglichen gemeinsamen schöpferischen Weg. (Günther Uecker, Kunst als innerer Dialog, in Norbert Lammert (Hg.), Alles nur Theater? Beiträge zur Debatte über Kulturstaat und Bürgergesellschaft, Köln 2004, 429-431, S. 429)
Es gibt eine Werkgruppe von Uecker. Er betitelt sie Das Schweigen der Schrift. Von ihr sagt der Künstler und Kunstwissenschaftler Eugen Gomringer, sie sei „kein Werk für Schnell-Betrachter“ und „Bücher-Blätterer“, eine Eigenschaft, die für alle Werke Ueckers gilt.
Eine Variation dieser Werkgruppe bezieht sich auf zwei überkreuzte Bibelworte. Uecker bezieht sich dabei auf den ersten Vers des Johannesprologs „Im Anfang war das Wort“ (1,1) und überkreuzt ihn mit einem Vers bei Matthäus: „Das Auge ist des Leibes Licht“ (6,22). Im Zentrum steht - was wir alle nicht erst seit dem Faust wissen - das griechische Wort Logos. Schnell und verdinglichend wird dieser Ausdruck mit Wort übersetzt, was aber nicht zutrifft. Die Grundbedeutung heißt, kurz gesagt, Sammeln; gemeint ist das breite Sammeln von Eindrücken und Beobachtungen. Zwar steht diese Bedeutung von Logos in der Nachbarschaft von Rede, Wort, Äußerung, Ausspruch, meint aber zugleich vor allem die Voraussetzung von all dem: das Sammeln von Erfahrungen. Das Wort steht vor dem Wort, es ist die Anstrengung auf dem Weg zum Wort und zur Erkenntnis, es ist ein Handeln gewissermaßen im Steinbruch innerer Anschauung, im differenzierenden Übergang zum begrifflichen Ausdruck, aber eben nur im Übergang, sozusagen vor den Toren des Wissens, wie es die Sprache verhandelt. Im Logos sammelt sich das Gehörte, Gesehene, Betastete, und versammelte sich in einer Art ehrfurchtsvollem Verharren vor dem Geheimnis der Welt, vor dem Ersten, dem Unfassbaren. Vor den Rätseln Mensch und Welt gründet dieser Logos im erwartungsvollen, fragenden Verhalten, im Stillewerden, im Schweigen – mit offenen Ohren und Augen.
In diesen Logos kreuzt Uecker den anderen Vers: Das Auge ist des Leibes Licht. Und er setzt fort: Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib einfältig sein. Uecker spricht hier von der unalphabetischen Präsenz des Bildes, wie es gleichnishaft die frühen Ahnungen des Fragenden über die Augen nicht ins Verstehen, sondern in die seelischen Empfindungen überführt, damit es von dorther das Schaffen und Leben nährt.
Das Kunstwerk beruht auf Anerkennung, die Betrachtung ist eine Herausforderung zum Verweilen <…> Das Bild kann lebensbewahrende Energien im Betrachter auslösen, als Ikone göttliche Gleichnishaftigkeit für irdisches Dasein verkünden, die Schöpfung bejubeln, auch Schrecken bannen und Wahrhaftigkeit offenbaren.<…> Bilder spiegeln sich in der Seele und erwecken unalphabetische Prozesse; Erinnerungen aus der Tiefe des Schlafs in der Dunkelheit – erhellend in der Gegenwart. Das Kunstwerk als Werkzeug menschlicher Ausdruckskraft kann so als ein lebensnotwendiger Dialog verstanden werden, das Werk als Hervorbringung, als sichtbarer Ausdruck dieses Versuchs. Seherisches offenbart sich in den Bildwerken, vergrößert unsere Einsichten, ist lebensnotwendige Teilhabe einer lebendigen Gegenwart. (Uecker in Lammert, a.a.O. S. 430)
Den Berlinern blieb es vorbehalten, das großartige Bühnenbild von Günther Uecker zur Matthäuspassion in der Deutschen Oper zu sehen. In 14 Stationen wurde das Oratorium Bachs zu einer szenischen Prozession. Diese führte über einen Steg, welcher an die Schienen von Auschwitz erinnerte und unausweichlich in den Publikumsraum hineinführte. So baute er in Tüchern und Kreuzfragmenten eine gewaltige Szene, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein- und wieder zurückführte. Im Programmheft schrieb er dazu:
Ein Oratorium als geistliche opera
- ein Versuch = Liturgie wie eine Prozession aufzuführen
Die Verletzung des Menschen durch den Menschen,
ein Geschehen, -
in der Gegenwart aufgeführt
im Vergleich mit den Zerstörungen und Verletzungen der Menschen heute,
mitten unter uns in Europa.
In der Nachfolge eines Geschehens
in der Mitte unserer Zeit.
14 Leidensstationen Jesu
als Kreuzfragmente,
gebrochene verwickelte verbundene Pfähle über die Bühne gefahren.
Die Chöre in zerschossenen Häuserkonstruktionen
erscheinen wie singende Klagemauern.
Ein unausweichlicher Weg, eine Schiene
führt auf die Bühne, in eine Vieldimensionalität
einander kreuzender und durchdringender Raumgefüge.
Der Nägel gibt es viel im Werk von Uecker, aber sie stehen nicht zentral, das Nageln aber sehr wohl. Er nagelt uns die Fragen nach uns selbst und nach der Zukunft unserer Welt fest ins Bewusstsein. Vor allem aber nagelt er seine permanente Klage über die Verletzungen, die der Mensch dem Menschen zufügt, in unser Herz, in unseren Kopf und in unser Gewissen. Er hämmert sie beschwörend in unsere geistigen Kräfte, die des Geistes, des Denkens, des Planens, des Entwerfens und Fragens. Aus einer hoch entwickelten, künstlerisch-formal gestalteten, dialektisch bewegten Sprache und Formwelt heraus greift er über alle Grenzziehungen von Sprache, Kultur und Glaube hinaus und hält sie uns vor die Augen.
Einer dieser Hammerschläge hängt hier in der Konrad-Adenauer-Stiftung in unserer Mitte: Es ist das Textbild, das Uecker vor zwölf Jahren demütig kniend in seinem Brief an Peking unter dem Eindruck schrecklicher Ereignisse niedergeschrieben hat, um ihn in Vorsicht und Angst verschlüsselt auf die Reise zu schicken, aus dem tiefen Logos-Grund des Bildes hinaus an den Adressaten. Es scheint, dass dieser Brief in diesem Jahr in Peking ankommen kann, wenn Uecker es dort ausstellen wird. Niedergeschrieben ist auf dem verwischten Tuch das große Erbe unseres letzten Jahrhunderts, die Menschenrechte. Einstmals kurz aufgehängt, dann abgehängt und des Landes verwiesen, hängen diese Zeilen jetzt auf dem Weg gen Osten, hier in unserer Mitte, sozusagen als letzte Station auf dem Weg zurück nach Peking, wo sie am 21. Juni d.J. gezeigt werden. Betrachten wir den erhabenen Inhalt, das geistige Erbe eines düsteren Jahrhunderts, das uns und anderen dieser Künstler vor Augen hält:
Resolution 217 der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948:
Präambel der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte:
„Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet,
-da die Verkennung und Missachtung der Menschenrechte u Akten der Barbarei führten, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben, und da die Schaffung einer Welt verkündet worden ist, in der den Menschen, frei von Furcht und Not, Rede- und Glaubensfreiheit zuteil wird, als das höchste Bestreben der Menschheit
-da es wesentlich ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung als letztem Mittel gezwungen wird,
-da des wesentlich ist, die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen zu fördern,
-da die Volker der Vereinten Nationen in der Satzung ihren Glauben an die grundlegenden Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau erneut bekräftigt und beschlossen haben, den sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen bei größerer Freiheit zu fördern,
-da die Mitgliedsstaaten sich verpflichtet haben, in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen die allgemeinen Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durchzusetzen,
-da eine gemeinsame Auffassung über diese Recht und Freiheiten von größter Wichtigkeit für die volle Erfüllung dieser Verpflichtung ist,
-darum verkündet die Generalversammlung die vorliegende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
Sie verkündet sie als das von allen Völker und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal, damit jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich dies Erklärung stets gegenwärtig halten;
sie verkündet sie, damit sie sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern
sie verkündet sie, damit sie durch fortschreitende Maßnahmen im nationalen und internationalen Bereich ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Verwirklichung gewährleisten,
und zwar bei der Bevölkerung sowohl der Mitgliedstaaten wie der ihrer Oberhoheit unterstehenden Gebiete.“
Ich danke Ihnen!