In wohl wenigen anderen Städten Europas ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts so präsent wie in Warschau. Beinahe an jeder Straßenecke erinnern Tafeln, Denkmäler und Mahnmale oder niedergelegte Blumenkränze an die verbrecherische Besatzungsherrschaft der Deutschen. Im April 1943 hatten sich Jüdinnen und Juden verzweifelt gegen ihre Gefangenschaft, den Terror und die drohende Deportation aufgelehnt; den Aufstand des Warschauer Ghettos schlug die deutsche SS über Wochen hinweg blutig nieder. Anfang August 1944 wiederum lehnte sich die polnische Heimatarmee auf und versuchte, die Besatzer aus Warschau zu vertreiben. Die vor der Stadt liegende Rote Armee schaute den Kämpfen zu und griff nicht ein. Rund zwei Monate dauerte es, bevor die Deutschen den Aufstand niedergeschlagen hatten. Warschau lag in Trümmern.
Die Geschichte ist nicht nur im Warschauer Stadtbild präsent. Seit einiger Zeit prägt sie zunehmend die polnische Innenpolitik und das deutsch-polnische Verhältnis. Die polnische Regierungspartei PiS irritiert die deutsche Seite mit Wiedergutmachungsforderungen, die man für längst ad acta gelegt hielt, und einem – so sehen es zumindest hierzulande viele – aggressiv-deutschfeindlichen Dauerwahlkampf.
Grund genug, um uns mit der Erinnerungskultur Polens intensiver zu befassen und Einschätzungen von Experten zur Lage des Landes und seiner Innenpolitik sowie zur polnischen Sicht auf Deutschland und Europa einzuholen.
Organisiert und getragen vom Bildungsforum Mecklenburg-Vorpommern der Konrad-Adenauer-Stiftung reiste eine 23-köpfige Gruppe vom 20. bis 23. April 2023 in die Hauptstadt unseres östlichen Nachbarn – mit dabei: Kommunalpolitiker aus Mecklenburg-Vorpommern, hiesige Vertreter der Deutsch-Polnischen Gesellschaft und der Politischen Bildung, Lehrer und langjährige Wegbegleiter der Stiftung.
Lesen Sie nachfolgend unseren kurzen Reisebericht...
Hinreise und Auftakt
Nach rund 11-stündiger Fahrt von Greifswald über Pasewalk nach Warschau bot sich noch am ersten Abend die Möglichkeit, Prof. Dr. Waldemar Czachur während eines Tischgesprächs zur Erinnerungskultur in Polen zu befragen. Er ist Sprachwissenschaftler, arbeitet am Institut für Germanistik der Universität Warschau und hat seinen Forschungsschwerpunkt auf politische Diskursanalyse gelegt.
Erinnerungskultur in Europa sei mithin, vielleicht sogar notwendigerweise, gekennzeichnet durch die Konkurrenz der Opfererzählungen, erläuterte Prof. Czachur zu Beginn. In der polnischen Gesellschaft sei der Eindruck durchaus weit verbreitet, dass man in Deutschland das Leid der Polen im Zweiten Weltkrieg nicht angemessen würdige oder überhaupt beachte.
In einer Gesellschaft, in der die kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg so prägend ist wie in Polen, könne eine solche Wahrnehmung den Boden für antideutsche Stimmung und Propaganda bereiten. Prof. Czachur plädierte daher für mehr Verständnis gegenüber der polnischen Sicht, jedoch ohne sich die Reparationsforderungen der aktuellen polnischen Regierung zu eigen zu machen.
Parlament, Botschaft, Auslandsbüro
Am Beginn des ersten Tagesprogramms stand ein Besuch im Sejm, dem Herz der polnischen Demokratie.
Dort erwartete uns mit Marek Krząkała ein Abgeordneter der oppositionellen Bürgerplattform. Als stellvertretender Vorsitzender der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe setzt er sich für die Kooperation und Verständigung beider Länder ein.
In einem rund 45-minütigen intensiven Gespräch skizzierte Krząkała die Lage der Opposition. Er bestätigte den Eindruck, dass die PiS mit einer deutschfeindlichen Rhetorik z.T. durchaus mit Erfolg auf Stimmenfang gehe. Der aktuellen Regierung stünden überdies, kritisierte der liberale Oppositionspolitiker, durch tiefgreifende Eingriffe in die Medienlandschaft breite Kanäle zur Verfügung, um Propaganda zu streuen. Sollte die Opposition die im Herbst anstehenden Wahlen gewinnen, so Krząkała, werde man auch die Medienlandschaft neu sortieren müssen.
Natürlich haben wir es uns nicht nehmen lassen, anschließend den Sejm zu besichtigen. Aus deutscher Sicht ungewohnt: Das Gebäude versteckt sich zwischen Bäumen und Häusern. Gleich mehrfach hörte man aus der Gruppe die Frage, wo denn das Parlament eigentlich sei. Dass es sich nicht unmittelbar zu erkennen gibt, hat wiederum mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Randstellung des Parlaments in kommunistischer Zeit zu tun. Im hinteren Teil des Gebäudes führten die Deutschen während der Besatzungszeit Hinrichtungen durch. 1945 lagen große Teile des Komplexes in Trümmern. Immer wieder wurde und wird das Gebäude umfassend erweitert.
Anschließend wurde unsere Reisegruppe in der Deutschen Botschaft empfangen, die übrigens nur einen Steinwurf vom Parlament entfernt liegt. Hier hat man uns nicht nur über Arbeit und Tätigkeit des Botschaftspersonals aufgeklärt, sondern auch über die interessante Geschichte des Viertels und des Gebäudes: bewusst schlicht gehalten, erkennbar eingebettet in das malerische Grün der Umgebung, sollte die Vertretung Deutschlands in Polen vor dem Hintergrund der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von politischer Zurückhaltung zeugen. Die feierliche Grundsteinlegung am 30. August 2005 erfolgte durch die Präsidenten Aleksander Kwasniewski und Horst Köhler.
Schon seit dem November 1989 - die erste Auslandsvertretung der Konrad-Adenauer-Stiftung, die im ehemaligen Ostblock eröffnet wurde - ist unsere Stiftung in Warschau präsent. Heute befinden sich die Büro- und Tagungsräume in einer hübschen kleinen Villa im südlichen Teil der Stadt. Hier begrüßte uns der Leiter David Gregosz, der uns über die politische Situation in Polen und das Arbeitsklima in Warschau berichtete. Anschließend näherten wir uns in drei thematisch sehr unterschiedlich gelagerten Gesprächen der Mentalität und Lage in Polen.
Politische Gespräche: Ökonomie, Migration, Europa
Auch wenn die Geschichte in der politischen Kultur Polens eine so bedeutende Rolle spielt, sollte man daraus unter keinen Umständen schließen, dass die Vergangenheit den Weg in die Zukunft blockiert. Im Gegenteil: Leo Mausbach sprach über die hohe Leistungs- und Zukunftsfähigkeit der polnischen Wirtschaft. In der Liste der wichtigsten Handelspartner Deutschlands rangiert unser östlicher Nachbar mittlerweile auf Platz 5, vor Ländern wie Österreich, Italien oder Großbritannien. In Sachen Technologie und Digitalisierung schreitet das Land mittlerweile voran, wovon wir uns in Warschau selbst überzeugen konnten. Polen kann ein Wirtschaftswachstum von rund 7 Prozent (2021) vorweisen. Indes: Es gibt Probleme, insbesondere mit der jüngst galoppierenden Inflation im Zuge des Russland-Ukraine-Krieges.
Migration ist ein zentrales Thema in der polnischen Innenpolitik. An der Grenze zu Belarus hat Polen 2022 einen breiten Zaun errichtet, um die zwischenzeitlich massive und von der belarussischen Regierung bewusst forcierte illegale Migration abzuwehren. Die PiS ist zudem bekannt dafür, die europäische Migrationspolitik immer wieder scharf zu kritisieren. In das Thema führte Holger Fabian Sahl ein. Er ist Vertreter und Sprecher der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache, Frontex. Deren Sitz liegt seit der Gründung 2004 in Warschau. Sahl räumte populäre Fehlannahmen über Frontex aus dem Weg. Auch betonte er, dass die Agentur nicht das leisten können werde, was sich viele Laien von ihr erwarten – die umfassende Begrenzung illegaler Migration. Dazu bedürfte es eines Konsenses und der gemeinsamen Strategie der Mitgliedstaaten.
In einem Gespräch mit Prof. Dr. Małgorzata Bonikowska widmeten wir uns der polnischen Sicht auf Europa. Sie ist eine der angesehensten Politikwissenschaftlerinnen des Landes und hat sich auf Internationale Beziehungen spezialisiert. Polen sei ein überaus EU-freundliches Land, unterstrich Prof. Bonikowska vorab, und sehe seine Zukunft in der Gemeinschaft. Allerdings: Polens Selbstbewusstsein und Bedürfnis nach echter Mitsprache wachse. Prof. Bonikowska bemühte die verbreitete, mitunter abgegriffene Metapher von der europäischen Staatengemeinschaft als Familie, jedoch mit einem provokanten Kniff. Wie in jeder Familie gäbe es nämlich auch hier alte Kräfte der Beharrung und eben die Jüngeren, die – mitunter auch pubertierend – ihr Recht und ihre Mitsprache durchzusetzen versuchen.
Die osteuropäischen Länder seien selbstbewusster und agiler geworden. Die Interessen Osteuropas müssten in Berlin und Brüssel gehört und ernstgenommen werden. Osteuropa dürfe nicht den Eindruck erhalten, im Westen ignoriert zu werden. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine, so Prof. Bonikowska, sei doch allen klar geworden, dass es zwischen Europa und Russland keine „neutrale Pufferzone“ geben könne.
Nochmal: Vergangenheit und Erinnerungspolitik
Der intensiven Programmtag endete mit einer Führung durch die Warschauer Altstadt. Diese wunderbaren Orte hätten viel mehr Zeit verdient als wir ihnen einräumen konnten.
Rasch vorbei ging es am eindrucksvollen Denkmal des Warschauer Aufstandes vor dem opulenten Gebäude des Obersten Gerichts: massive Betonträger, die mutig vorwärts preschende Soldaten zu erschlagen drohen. Vorbei auch an einem mit Blumen gesäumten Mahnmal, das an das Massaker von Katyn erinnert. Entlang der mittelalterlichen, aus zwei Mauerreihen errichteten Warschauer Stadtmauer, dann hinein auf den ältesten, nach dem Krieg wieder aufgebauten Platz der Stadt. In der Mitte steht die Skulptur einer Meerjungfrau, die auch an anderen Ecken und Orten in Warschau ihren Platz hat, und die sich natürlich im Stadtwappen findet – sie geht auf eine Zeit zurück, als Warschau noch eine Fischersiedler war. Mitunter tritt sie als Kriegerin auf.
Und nur ein paar Hundert Meter weiter thront Nike in bronzener Gestalt nahe einer Hauptverkehrsstraße: die griechische Siegesgöttin, die hier den Triumph Warschaus über die deutsche Besatzung verkörpert. Man könnte so viel sehen und sagen…
Prof. Dr. Jan Barcz, den wir am zweiten Tag unserer Bildungsreise hörten, verknüpfte in seinem Vortrag auf imposante Weise Geschichte, Erinnerungspolitik und europäisches Recht. Der Rechtswissenschaftler hat den Lehrstuhl für Völker- und EU-Recht an der Universität Warschau inne und gilt als einer der profiliertesten Wissenschaftler seiner Zunft. Von 1995 bis 2000 war er polnischer Botschafter in Österreich.
In seinem Vortrag widmete sich Prof. Barcz den Reparationsforderungen der polnischen Regierung gegenüber Deutschland. Dabei zog er eine lange Linie durch die jüngere Geschichte der Aussöhnung und materiellen Entschädigung. Zugleich ließ es keinen Zweifel daran, was er von der Politik der PiS hält. Die Argumentation hinter den polnischen Forderungen wies er entschieden zurück: rechtlich gesehen seien alle Fragen abschließend geklärt.
Jetzt wurde es Zeit, uns von den Warschauer Kollegen zu verabschieden, die uns das Vortragsprogramm zusammengestellt und die Gesprächspartner vermittelt hatten. Der letzte Programmpunkt: Ein Besuch des Warschauer Museums zur Geschichte der polnischen Juden. Der Name POLIN bezieht sich auf eine Legende über die Ankunft der ersten Juden in Polen. Mehr als eintausend Jahre umfasst diese Geschichte, wovon die beeindruckende Dauerausstellung erzählt. Das 2006 erbaute Gebäude, dessen Eingang sich wie ein Riss durch die Architektur zieht, symbolisiert den Bruch und tiefen Einschnitt, den der Holocaust in der Geschichte der Juden bedeutete und verursachte.
Wilhelm von Humboldt nannte als „erste und unerlässliche Bedingung“ der Bildung die Freiheit. Und so wäre es wohl keine gute oder vollkommende Bildungsreise gewesen, hätten wir uns am Ende eines intensiven und dicht gedrängten Programms nicht in die Freiheit und Autonomie gewagt. In kleinen Grüppchen erkundeten wir also Warschaus Gassen und Straßen, Ecken und Plätze auf eigene Faust.
Bilanz
Ein zweitägiges Programm wird nicht alle Fragen klären können. Und manchmal werden sogar mehr neue Fragen aufgeworfen als alte beantwortet. Dass es kaum politische Debatten ohne Geschichte gibt, erschließt sich leicht. Wie tief politische und geschichtliche Fragen gerade in der Diplomatie und auf internationalem Parkett miteinander verwoben sind, versteht man jedoch besser, wenn man sich vor Ort und auf anderem Boden auf die Sichtweise des Gegenübers einlässt.
Warschau ist eine Stadt, welche Beobachter – gerade, wenn sie Deutsche sind – regelrecht zwingt, sich auf sie einzulassen.
Das ist nicht unbedingt angenehm.
In Deutschland sind wir es gewohnt, und es ist ja auch bequem, die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands mit Abkürzungen, Akronymen und Bezeichnungen zu versehen: SS, SA, Sicherheitsdienst, Gestapo, Wehrmacht und so weiter. Auf den Gedenktafeln in Warschau lesen wir schlicht „Germans“ (Deutsche). Für unseren östlichen Nachbarn ist der politisch-historische Horizont des 20. Jahrhunderts, in dem Deutsche Leid und Tod verbreiteten, real und politisch präsent. Das soll nicht heißen, etwa die Entschädigungsforderungen der aktuellen polnischen Regierung oder antideutsche Stimmungsmache der PiS akzeptieren zu müssen. Deutsch-polnische Verständigung heißt aber, sensibel und im Bewusstsein der Geschichte zu reagieren, gerade dann, wenn Positionen zurückgewiesen werden müssen.