Das Bundesverfassungsgericht sei zwar die „Instanz des letzten Wortes“, so Petra Bahr, Hauptabteilungsleiterin Politik und Beratung. Doch danach sprächen viele weitere: Medien, Wissenschaft und, vor allem, die Politik. Stoff für Diskussionen gab es in 2015 genug. Prof. Dr. Frank Schorkopf fasste die wichtigsten Urteile außerhalb der Panels zusammen: Im Außenverfassungsrecht seien dabei ein Beschluss zur Auslieferung eines Amerikaners nach Italien und die strafrechtliche Aufarbeitung der Luftangriffe bei Kundus interessant gewesen. Und auch das Versammlungsrecht spielte eine Rolle in der Rechtsprechung: Im Juli 2015 gab es eine Entscheidung zum Bierdosenflashmob in Passau, sie zeigte: „Es gibt ein Bedürfnis, die Versammlungsfreiheit in formal privatem, also privatisierten, aber faktisch öffentlichem Raum zu gewährleisten“, so Schorkopf: „Karlsruhe zeigt damit, dass es der Primärfunktion der Versammlungsfreiheit weiterhin Vorrang vor einer vordergründigen Alltagskonfliktvermeidung gibt.“
Föderalismus: Kompetenzen von Bund und Ländern
Prof. Dr. Stephan Rixen und Prof. Dr. Hans-Günter Henneke diskutierten mit Moderatorin Dr. Helene Bubrowski zwei Karlsruher Entscheidungen, die Fragen des Föderalismus betreffen – und zwar an den Beispielen Betreuungsgeld und Ladenöffnungsgesetz. Im Grunde steht bei beiden Themen im Raum, welche Kompetenzen dem Bund und welche den Ländern zustehen. Gerade beim Betreuungsgeld sei fraglich, wie weit die Gesetzgebungskompetenz der öffentlichen Fürsorge gehen könne. Diese habe sich von der Armenfürsorge zu einer „Familienförderkompetenz“ entwickelt – die eigentlich Ländersache sei. Das Bundesverfassungsgericht habe mit seinem Urteil zum Betreuungsgeld geurteilt, es wäre „richtig und wichtig, Pflöcke einzuschlagen für die Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern“, fasste Henneke zusammen.
Kopftuchverbot: Schulfrieden durch den Gesetzgeber
Besonders zur Sache ging es bei der Diskussion um das Kopftuchverbot. 2003 hatte das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass ein Kopftuchverbot an Schulen einer gesetzlichen Grundlage bedarf. Daraufhin erließen acht Bundesländer entsprechende Rechtsvorschriften. Doch 2015 urteilte das Gericht, dass ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte an öffentlichen Schulen nicht mit der Verfassung vereinbar sei. Dr. Andreas Heusch kritisierte die jüngste „Folgenblindheit des Senats“ scharf und mutmaßte, Karlsruhe habe aus „erfahrungsverdünnten Räumen“ heraus entschieden, „wechselhaft und launisch reagiert“ - denn trotz unveränderter Sachlage habe es nun einen anderen Spruch gegeben. Der Senat verkenne den „Lebenssachverhalt“, denn im konservativen Islam sei eine Ungleichheit zwischen Männern und Frauen tief verankert – und das Kopftuch sei ein Symbol genau dafür: „Wenn ein Mädchen bewusst das Kopftuch ablegt, wie wirkt denn dann eine Kopftuch-tragende Lehrerin auf diese gerade emanzipierte Frau?“ Prof. Dr. Matthias Jestaedt entgegnete dem: „Es geht um das bloße Tragen eines Kleidungsstückes.“ Der im Publikum anwesende Prof. Dr. Ralph Alexander Lorz, Kulturminister von Hessen, fand das Urteil ebenfalls problematisch. Zwar gebe es seit dem Urteilsspruch vor etwa einem Jahr keine Probleme, es würde die Situation muslimischer Mädchen aber nicht unbedingt erleichtern. Einig waren sich Heusch und Jestaedt darüber, dass die Schulen damit nicht allein gelassen werden dürfen: „Das Problem entsteht vor Ort und soll nach Möglichkeit nicht dort bleiben“, so Jestaedt. Heusch pflichtete ihm bei: „Der Gesetzgeber muss den Schulfrieden gewährleisten.“
Ruck durch die Besoldungstabelle
Die Besoldungshöhe habe „eine qualitätssichernde Funktion“, so Dr. Carsten Günther: „Auch der am schlechtesten besoldete Beamte muss mehr als ein Sozialhilfeempfänger in der Tasche haben.“ Doch dieser Abstand sei nicht immer gewährleistet, die empfohlenen 15 Prozent werden derzeit nicht einmal bei allen A8-Eingruppierten erreicht. Sollten die Gehälter jedoch angeglichen werden, könne das „einen Ruck durch die Besoldungstabelle geben“, so Günther. Auch die höher Besoldeten müssten dann mehr verdienen. Staatssekretärin Andrea Franke würde sich freuen, wenn die Justiz-Mitarbeiter höhere Gehälter erhielten. Sie sieht jedoch zwei Risiken: Einerseits könnten Stellenkürzungen folgen, wenn pro Kopf mehr Geld ausgegeben werde. Andererseits könnte es zu weniger Verbeamtungen kommen, beispielsweise bei Lehrern.
Der Ausblick auf 2016
Einen Ausblick auf die anstehenden Großverfahren nahm schließlich Prof. Dr. Christian Waldhoff vor: Der Atomausstieg, die Verfassungsmäßigkeit der Kernelement-Brennstoffsteuer und der Schutz des Karfreitags als stiller Feiertag werden unter anderem auf der Agenda stehen. Besonders interessant werden auch die drei angesetzten Verhandlungstage zum NPD-Verbotsverfahren: „Die Eröffnung des Hauptverfahrens durch Ansetzen einer mündlichen Verhandlung bedeutet, dass der Antrag zulässig und dem Senat hinreichend begründet erscheint. Das heißt, ich zitiere einen Gerichtssprecher aus Karlsruhe: ‚Die Wahrheit der beigebrachten Beweismittel unterstellt, ist ein Verbot zu erwarten‘“, prognostizierte Waldhoff.
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