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Am 25. März kamen auf dem römischen Kapitol die nunmehr 27 europäischen Staats- und Regierungschefs zusammen, um den 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge und damit einen der wichtigsten Meilensteine in der Geschichte der europäischen Integration zu feiern. Zur gleichen Zeit gingen beim „March of Europe“ u.a. in Rom, London und Berlin zehntausende Menschen auf die Straße, um für die europäische Idee demonstrieren. Auf der anderen Seite gerät die europäische Idee - u.a. vorangetrieben durch die anti-europpäische Rhetorik rechtspopulistischer Parteien - mehr und mehr unter Druck. Bisheriger Höhepunkt ist in diesem Zusammenhang der Austritt Großbritanniens aus der europäischen Staatengemeinschaft durch die Entscheidung des Referendums vom 23. Juni 2016. Eine Frage stand während der Deutsch-Französischen Konferenz in Reims immer wieder im Vordergrund: Ist Europa eine noch immer Erfolgsstory oder steuern wir geradewegs in eine Krise?
„Wir müssen bereit sein, einander zuzuhören“
Dr. Hans-Gert Pöttering, ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments und Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, forderte in seiner Begrüßungsansprache bei der 1. Deutsch-Französischen Literaturkonferenz in Reims eine Rückbesinnung auf die europäische Grundidee. „Wir müssen uns erinnern, was die Einigkeit Europas im Kern bedeuten soll“, sagte der Politiker, der 35 Jahre Mitglied des Europäischen Parlaments und von 2007 bis 2009 dessen Präsident war, in der Maison Notre Dame in Reims. „Wir müssen bereit sein, einander zuzuhören, uns ohne Vorurteile auszutauschen und die europäische Zukunft gemeinsam zu gestalten“, so Pöttering weiter. Die derzeitige Diskussion über die Zukunft der europäischen Politik sieht Pöttering nicht als Krise, sondern vielmehr als Chance zum kritischen Diskurs und zur Erneuerung. Eine wichtige Rolle in der öffentlichen Diskussion spiele vor allem die junge Generation, die Pöttering als „Friedensmittler für Europa“ sehe. Nur wenige Meter von der Kathedrale entfernt, in der Charles de Gaulle und Konrad Adenauer im Juli 1962 den bedeutenden Versöhnungsgottesdienst feierten, erinnerte Hans-Gert Pöttering an die besondere Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich. Diese Freundschaft wurde über viele Jahre hart erarbeitet und sei bis zum heutigen Tag ein wichtiger Motor für die Entwicklung Europas. Die Deutsch-Französische Literaturkonferenz ist für Pöttering eine „kulturelle Begegnung unter Nachbarn“, die mit Reims an einem der bedeutendsten lieux de mémoire deutsch-französischer Geschichte stattfinde. Wie wichtig die Fähigkeit, sich zu erinnern, für die eigene Identität ist, beschrieb Aachens Oberbürgermeister Marcel Phillip in seinem Grußwort im Rathaus von Reims. Aachen und Reims feiern in diesem Jahr bereits das 50. Jubiläum ihrer Städtepartnerschaft. „Der Blick in die Geschichte hilft uns dabei, Bezüge und Verbindungen herzustellen“, sagte Phillip. „Ohne Erinnerung kann das Leben nicht gelingen“, so der CDU-Politiker weiter.
Eine nützliche (und vergnügliche) Rede zur Zukunft Europas
Bereits im Jahr 1801 schrieb Heinrich von Kleist: „Der Deutsche spricht mit Verstand, der Franzose mit Witz. Das Gespräch des erstern ist wie eine Reise zum Nutzen, das Gespräch des andern wie ein Spaziergang zum Vergnügen“. Wer Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert schon einmal live erleben durfte, der weiß, dass Lammert beide Spielarten der Redekunst perfekt beherrscht. Während eines nützlichen Spaziergangs zum Vergnügen (oder einer vergnüglichen Reise zum Nutzen?) zum Thema „Historische Lektionen und aktuelle Herausforderungen der Deutsch-Französischen Freundschaft“ betonte der stellvertretende Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung die Bedeutung einer starken Allianz der ehemaligen „Erbfeinde“ Deutschland und Frankreich für die Entwicklung Europas. In beiden Ländern stehen in diesem Jahr wichtige Wahlen an. Wahlen, die nicht einfach nur über Stimmverhältnisse und Sitze im Parlament entscheiden, sondern auch über die Zukunft der Europas. „Das gemeinsame Vermächtnis von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle steht zur Wahl“, sagte Norbert Lammert vor knapp 250 Zuhörern im Rathaus von Reims. Die beiden Staatsmänner hätten mit dem Versöhnungsgottesdienst 1962 in Reims den Beginn eines neuen Abschnitts in der Beziehung zwischen den Ländern eingeläutet und gezeigt, dass es nicht immer schriftlicher Verträge bedarf, um große Veränderungen herbeizuführen. Manchmal könnten auch Gesten eine solche „prägende historische Wirkung“ erzielen wie der berühmte Gottesdienst vom 8. Juli 1962. Europa wird heute von vielen begehrt, ist aber letztlich zur Einsamkeit verdammt - „eine Festung wider Willen“ wie Mathias Énard, im März 2017 ausgezeichnet mit dem Leipziger Preis zur Europäischen Verständigung, es in seiner Dankesrede beschrieb. Auch wenn wir derzeit vor großen Herausforderungen stünden, seien die Voraussetzungen, diese zu bewältigen, heute besser als je zuvor. „Wenn wir die Probleme heute nicht lösen, dann haben wir es nicht wirklich gewollt“, sagte Lammert. Europa sei die einzige Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung, die auf viele Menschen immer noch beunruhigend oder gar bedrohlich wirke. Doch wer soll die Führungsposition in Europa übernehmen? Deutschland könne diese Schlüsselrolle nicht alleine übernehmen, so der Bundestagspräsident. Nur gemeinsam mit Frankreich könne es gelingen, Europa zukunftsfähig zu gestalten.
Erinnerungskultur, Kulturtransfer, Bürger und Sprache in Europa
Insgesamt drei Sektionen zu den Themen Erinnerungskultur, Kulturtransfer sowie Bürger und Sprache in Europa standen am zweiten Konferenztag in der SciencesPo Reims auf dem Programm. Seit 2010 residiert der Ableger der berühmten Pariser Elitehochschule auf dem ehemaligen Gelände eines Jesuitenkollegs im Zentrum von Reims. Abgerundet wurde das Konferenzprogramm am Samstag durch den vom Leiter des KAS-Auslandsbüros in Frankreich, Dr. Nino Galetti, moderierten Generationendialog zum Thema „Europa am Scheideweg: Blockaden und Perspektiven“ u.a. mit dem Ehrenvorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung und ehemaligen Ministerpräsidenten Prof. Dr. Bernhard Vogel, Prof. Dr. Jean-Marie Valentin, Professor an der Pariser Sorbonne und der Universitaire des France, sowie Studenten aus Frankreich und Deutschland.
Prof. Dr. Friedhelm Marx, Leiter des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, beschrieb in seinem Vortrag über die Darstellung des Ersten Weltkriegs in der Literatur Deutschlands und Frankreichs am Beispiel von Erich Maria Remarque, Gabriel Chevallier oder Ernst Jünger ,wie sich deren Werke von Versuchen „das Undarstellbare darzustellen“ zu Zeugnissen der transnationalen Erinnerungskultur entwickelt haben. In ihren Werken „Im Westen nichts Neues“, „La peur“ und „In Stahlgewittern“ berichteten die Autoren über ihre ganz persönlichen Erfahrungen während und nach Ende des Ersten Weltkrieges, über die Monotonie des Kriegsalltags, die allgegenwärtige Angst sowie über das Gefühl der Orientierungslosigkeit. Sie schrieben, um sich „von den Erinnerungen zu befreien“ oder (wie im Vorwort von Remarques „Im Westen nichts Neues“ geschildert) um ein Mahnmal zu schaffen, das „kommenden Generationen das wahre Bild des furchtbarsten Krieges lebendig hält“. Prof. Dr. Oliver Jahraus, Department für Germanistik, Komparatistik, Nordistik und Deutsch als Fremdsprache an Ludwig-Maximilians-Universität München, betonte in seinem Vortrag über die Frankreichbilder in der deutschen Gegenwartsliteratur, dass der Aufbruch der ersten Autoren in Richtung Frankreich bereits Ende des 18. Jahrhunderts seinen Anfang nahm. Mit der Reise nach Westen und durch den Einfluss der französischen Kultur habe die deutsche Literatur eine ganz neue Qualität erfahren. „In Frankreich erschließt dich der deutschen Literatur die Moderne“, sagte Jahraus. Die deutsche Literatur verdanke den Franzosen unheimlich viel. „Die deutsche Literaturwissenschaft wie wir sie heute kennen, wäre ohne den Einfluss Frankreichs nicht möglich gewesen“, so der Sprachwissenschaftler vor 100 Zuhörern in der SciencesPo Reims.
In Zeiten, in denen Europa „oftmals sprachlos erscheint“, müssen wir daran arbeiten, dass sich Europa wieder besser versteht, forderte Annegret Kramp-Karrenbauer. Die Ministerpräsidentin des Saarlands gewährte in ihrem Vortrag zum Thema „Sprache als Medium der Begegnung“ Einblick in den saarländischen Modellversuch, die französische Sprache als „Nachbarschaftssprache“ zu etablieren. Mit ihrer Frankreich-Strategie will die CDU-Politikerin einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die kulturelle Hürden zwischen Deutschland und Frankreich zu überwinden und die Kommunikation in der Grenzregion zu verbessern. „Im Saarland gehört Schengen zum Alltag“, so die Ministerpräsidentin. Vor allem Einzelhandel und Industrie profitieren von den offenen Grenzen. Mehrere tausend Menschen in der Grenzregion pendeln täglich zwischen Deutschland und Frankreich. Durch bilingualen Sprachunterricht in Kindergarten und Grundschule sowie eine bessere Ausbildung von Lehrern und Erziehern soll bis zum Jahr 2043 eine Mehrsprachigkeit im Saarland erreicht werden. Kramp-Karrenbauer betonte schließlich, wie wichtig gerade die Grenzregionen für den Zusammenhalt innerhalb Europas seien. Bei der „Patchworkdecke Europas“ komme weniger auf die Qualität der einzelnen Flicken, sondern vielmehr auf die Stabilität der Nähte an, so die Ministerpräsidentin.
Doch wie ist es um die Beschaffenheit der „Patchworkdecke Europa“ wirklich bestellt? „Die Einigung Europas hängt entscheidend vom Deutsch-Französischen Verhältnis ab“, stellte Prof. Dr. Gilbert Merlio, Sorbonne IV Paris, in seinem Vortrag zum Thema „Gefährung Europas: Politische und kulturelle Herausforderungen“ fest. Ob es sich bei der Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich nun um eine Liebes- oder eher um eine Vernunftehe handelt, vermochte Merlio nicht zu entscheiden. Auf jeden Fall sei die Beziehung zwischen den beiden Nationen von hohem Symbolwert für die Zukunft Europas. Die Realität sehr jedoch so aus, dass das heutige Europa „einen nicht mehr Träumen bringe“, so Merlio. Die Rückkehr zum Nationalismus als Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung hält Gilbert Merlio jedoch für den falschen Weg. „Es ist eine Illusion zu glauben, dass die Nationen alleine den globalen Herausforderungen gewachsen sind“, sagte er verbunden mit einem Appell für mehr europäische Solidarität anstelle von Rivalität zwischen den einzelnen Staaten. Um Europa zusammenzuhalten und die aktuellen Krisen zu lösen, sind enorme Kraftanstrengen gefragt: von den Entscheidern in der Politik aber auch von der Bevölkerung. Gerade jetzt müssten wir Engagement zeigen und klar Stellung gegen Rassismus und Populismus beziehen, forderte Dr. Jürgen Linden, ehemaliger Bürgermeister Aachens und heute Vorsitzender des Karlspreis-Direktoriums. Europa sei eine Werkgemeinschaft und darüber hinaus „ein gemeinsam geteiltes Schicksal“. Die europäische Vielfalt und die Möglichkeit, Freundschaften und Beziehungen über Landesgrenzen hinweg zu pflegen, seien ein großer Gewinn für uns alle. Jetzt gelte es, für Europa und die gemeinsamen Werte einzutreten und z.B. durch Aktionen wie „Pulse of Europe“ diejenigen zu überzeugen, die „zweifeln und Angst haben“, so Linden.
Dialog der Generationen
Für die junge Generation ist es schwer, sich ein Europa ohne Grenzkontrollen, eine gemeinsame Währung oder anhaltenden Frieden vorzustellen. Ein Erasmusjahr in Frankreich, Praktikum in Brüssel oder ohne Reisepass übers Wochenende nach Barcelona fliegen - all das ist für die jungen Europäer heute selbstverständlich. Laut einer YouGov-Umfrage waren vor dem Brexit-Referendum 72 Prozent der 18- bis 24-Jährigen für einen Verbleib Großbritanniens in der EU. Dennoch haben nur 36% der Wähler dieser Altersgruppe am Tag der Abstimmung den Weg zum örtlichen Wahllokal überhaupt angetreten. Lukas Greven, Student der RWTH Aachen, fordert im Generationendialog zum Abschluss des zweiten Konferenztages ein klares Bekenntnis der jungen Generation zu Europa. „Der Frieden, den wir in Europa seit mehr als fünfzig Jahren haben, ist unser wertvollstes Gut“, so der Aachener in der abschließenden Podiumsdiskussion. Bewegungen wie der „Pulse of Europe“ seien besonders wichtig, um ein Zeichen zu setzen und den Populisten mit ihrer Rhetorik der Angst entgegenzutreten. Der Austritt Großbritanniens aus der europäischen Staatengemeinschaft war „ein großer Verlust für uns alle“, betonte auch der Ehrenvorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, Prof. Dr. Bernhard Vogel. Dennoch glaubt der ehemalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Thüringen an die Zukunftsfähigkeit Europas. Auch wenn es an einigen Stellen an Vertrauen und Handlungsfähigkeit mangele: „Wir dürfen Europa nicht in Frage stellen“, sagte Vogel im Generationendialog. Er warb dafür, die derzeitige Umbruchstimmung stattdessen für eine Erneuerung Europas zu nutzen. „Es ist Zeit für eine revitalisierende Reform“, so der CDU-Politiker. Rechtspopulisten und Radikale erhalten in der öffentlichen Diskussion und den Medien derzeit viel zu viel Raum. Statt nur darüber zu klagen, was in Europa alles falsch laufe und sich um die Zukunft zu sorgen, müsse Politik und Gesellschaft daran arbeiten, Europa so zu gestalten, dass Rechtspopulisten und Radikale keine Grundlage mehr haben. „Die Mehrheit muss endlich aufwachen“ und sich klar zu Europa bekennen, forderte Vogel abschließend.
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Anlässlich des 100. Jahrestages der Schlacht von Verdun enthüllten Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident François Hollande am 30. Mai 2016 eine Gedenktafel mit der Inschrift: "Deutsche wie Franzosen wünschten sich, dass ihr Opfer nicht in Vergessenheit gerät. Lieber Besucher, verstehe und erinnere dich an diese gemeinsame Geschichte."
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