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Interviews

"Rechtsprechung muss ja nicht in Stein gemeißelt sein."

di Caroline Schmidt, Dr. Annette Ranko

Prof. Daniel Thym im Gespräch über rechtliche Rahmenbedingungen, Grenzen und Möglichkeiten in der Migrationspolitik

Prof. Daniel Thym von der Universität Konstanz beschreibt, wie sich die Rechtsprechung im Asylrecht in Deutschland und der EU seit dem Mauerfall entwickelt und Schutzansprüche ausgeweitet hat. Er zeigt rechtliche Handlungsspielräume auf, warnt aber vor Schnellschüssen.

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1. Wenn es darum geht, Migrationspolitik neu zu gestalten, bringen Expertinnen und Experten häufig an, dass viele der diskutierten Maßnahmen rechtlich nicht möglich seien. Können Sie uns erklären, weshalb diese Antwort so oft kommt?

Das hat zwei Gründe. Erstens konzentriert sich die öffentliche Debatte derzeit beinahe ausschließlich auf das Asylsystem und hier sind die rechtlichen Regeln durchaus kompliziert.

Das ist schade, weil die Asylmigration nur ein Zugangsweg unter vielen ist. Gerade klassische Einwanderungsländer wie Kanada, Australien und die USA legen großen Wert darauf, dass die Einreise vom Staat aktiv gesteuert wird und dabei die Wirtschaftsmigration im Vordergrund steht. Es würde auch in Deutschland helfen, wenn wir viel intensiver über die weniger kontroversen Aspekte sprechen. Dann werden Politik und Gesellschaft die Zukunft als Einwanderungsland endlich positiv sehen. Es geht ja nicht darum, die Grenzen dicht zu machen. Deutschland braucht Einwanderung, allein schon aufgrund des demografischen Wandels. Bei den Fachkräften ist die Politik viel freier als beim Asylsystem. Zweitens dominieren bei der Fluchtmigration häufig Rechtsfragen, weil die deutschen und europäischen Regeln sehr kompliziert sind. Die Politik kann sich nicht ein neues System ausdenken, sondern muss jede Reform in den bestehenden Rechtsrahmen einfügen. Deutsche und europäische Gerichte haben in den letzten 25 Jahren aus den Menschenrechten zahlreiche Vorgaben abgeleitet, die die Handlungsfreiheit einschränken. Für die deutsche Politik kommen dann noch die EU-Asylrichtlinien hinzu, die sehr viel vorgeben.

2. Warum ist die Situation im Bereich der Fluchtmigration so festgefahren? Wieso lahmen die Reformpläne schon so lange und wie können Blockaden aufgebrochen werden?

Ein großes Defizit besteht darin, dass derzeit alle mit den Fingern auf die jeweils anderen zeigen. Einige rechtfertigen die innenpolitische Passivität damit, dass die „europäische Lösung“ wichtiger sei. Andere halten die EU-Reformen für irrelevant, weil der Schlüssel darin liege, mit den Herkunfts- und Transitländern zusammenzuarbeiten. Wieder andere setzen vorrangig auf nationale Maßnahmen. Die Crux ist nun, dass alle teilweise richtig liegen. Die ohnehin schwierige Begrenzung der Asylmigration kann nur dann halbwegs gelingen, wenn nationale, europäische und internationale Maßnahmen ineinandergreifen. Diese Logik des „Entweder-oder“ muss endlich durch ein „Sowohl-als-auch“ abgelöst werden. Exemplarisch zeigt das der Vorschlag, künftig Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern. Damit das funktioniert, muss die Politik erstens ein Land finden, dass solche Zentren aufzunehmen bereit ist und noch dazu sicherstellen, dass dort verlässliche Asylverfahren stattfinden. Das reicht jedoch nicht. Zweitens setzt ein solches Modell zwingend voraus, dass die EU-Asylreform angenommen wird, weil die Anforderungen an sogenannte sichere Drittstaaten bisher sehr hoch sind. Auch dann bleiben die Regeln streng, warum ausgelagerte Asylverfahren vermutlich sogar verlangen, die europäische Gesetzgebung nach der Europawahl jedenfalls punktuell nochmals zu ändern. Drittens müssen die nationalen Behörden in dem Land, das die Asylverfahren auslagert, eine schnelle Vorprüfung hinbekommen, ob es im konkreten Einzelfall zulässig ist, eine Person in ein sicheres Drittland zu schicken. Schnelle Verfahren vor den Behörden und Gerichten gibt es aber beinahe nirgends in Europa. Die Politik muss aufpassen, nicht auf eine vermeintlich perfekte Lösung zu setzen, die sich dann in der Umsetzung als Illusion erweist. So ist das bei beinahe allen Themen: nationale, europäische und internationale Maßnahmen gehören zusammen.

3. Migrationspolitik wird nicht nur von rechtlichen Rahmenwerken geprägt, sondern auch von Rechtsprechung. Diese ist dynamisch. Welche Trends in der Rechtsprechung konnte man in den letzten Jahren beobachten? Was bedeutet dies für die Spielräume politischer Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger?

Das kommt darauf an, was Sie unter „den letzten Jahren“ verstehen. Speziell der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ist seit einiger Zeit durchaus vorsichtiger geworden, nachdem er die Schutzansprüche in der Vergangenheit sukzessive ausgeweitet hatte. Zuletzt lehnte er mehrere Vorschläge ab, die Menschenrechte weiter auszuweiten. Frühere Urteile, die Schutzansprüche sukzessive ausgeweitet haben, gelten aber natürlich fort. Diese stammen beinahe alle aus den letzten 30 Jahren und sind damit vergleichsweise jung.

In der Zeit nach dem Mauerfall hatte der Gesetzgeber, also die Politik noch eine Freiheit, die heute nicht mehr besteht. Die damalige Freiheit lag auch daran, dass die Genfer Flüchtlingskonvention sehr allgemein gehalten ist und es kein internationales Gericht gibt, das diese autoritativ auslegt. Die Flüchtlingskonvention gibt also Spielräume, die Australien und die USA für eine Politik nutzen, die in Europa mit seiner Rechtsprechung als menschenrechtswidrig gelten würde. Wenn die deutsche oder europäische Politik dies ändern wollte, müsste sie also „nur“ den Status quo ante aus der Mitte der 1990er-Jahre wiederherstellen. Einfach ist das nicht. Viele Verpflichtungen ergeben sich nämlich nicht nur aus den EGMR-Urteilen, sondern ebenso aus der EU-Grundrechtecharta, den europäischen Asylrichtlinien und den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts. Das alles zu korrigieren, bräuchte sehr lange und kann leicht ganz scheitern. Das heißt aber nicht, dass die Politik passiv zuschauen muss. Es ist legitim, dass nicht nur Flüchtlingsorganisationen auf eine Änderung der Rechtsprechung hinwirken.

4. Haben Sie konkrete Beispiele oder Ideen, an welchen Stellen eine solche Modifizierung denkbar wäre?

Zwei Beispiele sind das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) und die EGMR-Urteile zu Zurückweisungen an den Außengrenzen. Beim AsylbLG erlauben die Urteile des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) es allenfalls in homöopathischen Dosen, die Leistungshöhe generell abzusenken. Allerdings gibt es eine Alternative, denn der Staat darf Fehlverhalten sanktionieren. Hieran anknüpfend könnten die Leistungen um bis zur Hälfte gesenkt werden, wenn eine ausreisepflichtige Person nicht freiwillig ausreist. Dies könnte man sogar dann fortsetzen, wenn eine Duldung erteilt wird, die Ausreise jedoch tatsächlich möglich, rechtlich zulässig und persönlich zumutbar ist. Einen Schritt weiter könnte eine Verfassungsänderung dem BVerfG anraten, die früheren Urteile zu überdenken, wenn sie die Leistungen generell absenken möchte. Rechtsprechung muss ja nicht in Stein gemeißelt sein. Urteile, die 2009 oder 2012 dem Grundgesetz höhere Standards entnahmen, müssen nicht zwangsläufig in alle Ewigkeit fortgelten. Dasselbe gilt für die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Viele der Urteile, die die staatliche Handlungsfreiheit im Asylrecht beschränken, stammen aus den letzten drei Jahrzehnten. Es ist extrem schwierig, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) selbst zu ändern. Weniger eindeutig als bei den Asylbewerberleistungen gibt es jedoch auch in der EGMR-Rechtsprechung einen möglichen Ansatzpunkt, um die Rechtsprechung fortzuentwickeln. Wenn die EU-Staaten großzügige legale Zugangswege für Flüchtlinge und gegebenenfalls auch Arbeitskräfte bereitstellten, könnte dies eventuell strengere Grenzschutzregeln an den Außengrenzen rechtfertigen.

5. Im Kontext der aktuell geltenden rechtlichen Verpflichtungen: Wie kann es politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern Ihrer Einschätzung nach gelingen, Asylpolitik wirksam zu gestalten?

Die Politik befindet sich in einer kommunikativen Zwickmühle. Sie muss einerseits dem Eindruck entgegentreten, dass der Staat die Kontrolle verloren habe, ohne andererseits vorzugaukeln, es gebe einfache Lösungen. Das funktioniert nur, wenn sie sichtbare „Kontrollsignale“ mit einer Sachpolitik verbindet, die im Windschatten der Symbole die Situation halbwegs unter Kontrolle bringt, indem sie nationale, europäische und internationale Maßnahmen intelligent kombiniert. Dass dies gelingen kann, zeigen der deutsche Asylkompromiss von 1992/93 und die Flüchtlingskrise von 2015/16. Man darf diese beiden Ereignisse nur nicht dahin missverstehen, als ob es den einen Schalter gäbe, den man umlegen müsste, damit die Herausforderung gemeistert ist. Genau das passiert derzeit aber sehr häufig. Die Erinnerung an den deutschen Asylkompromiss und die letzte Flüchtlingskrise ist durchaus einseitig. In beiden Fällen wirkten nämlich sehr viele Maßnahmen zusammen, die erst in der Summe die erhoffte Steuerungswirkung erbrachten. Nur ein Beispiel: Die EU-Türkei-Erklärung erreichte nur deshalb einen Rückgang, weil zuvor bereits die Balkanroute schrittweise geschlossen worden war. Manche Leserinnen und Leser erinnern sich vielleicht an die fürchterlichen Bilder, die das Lager in der griechischen Stadt Idomeni weltweit verbreitete. Hinzu kamen dann noch viele weitere Faktoren. Genau das braucht es auch heute: eine Kombination sichtbarer Vorhaben, mit denen die Politik ihre Handlungsfähigkeit kommuniziert, mit zahlreichen Einzelmaßnahmen auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene.

6. Wir beobachten derzeit, dass in Politik und Gesellschaft um erweiterte Handlungsspielräume zur Regulierung von Migration gerungen wird. In welche migrationspolitische Zukunft führt uns das? Welche Szenarien sehen Sie?

Ich sehe zwei Szenarien. Die negative Variante lautet, dass die demokratische Mitte das verbreitete Gefühl nicht beseitigt, dass der Staat jedenfalls teilweise die Kontrolle verloren habe, weil er die notwendigen Reformen entweder scheut oder diese sich als zu kompliziert erweisen. Der aktuelle Eindruck eines Kontrollverlusts verschwindet nur, wenn die Zugangszahlen sinken und, unabhängig von den Zahlen, die Bevölkerung den Eindruck hat, dass der Staat mitbestimmt, wer einreist und wer bleiben darf. Wenn das nicht gelingt, wird die demokratische Mitte in einen Abwärtsstrudel eines fortgesetzten Steuerungsversagens gerissen. In einigen europäischen Ländern ist das bereits passiert, und die Situation in den Vereinigten Staaten ist ganz ähnlich. Ich hoffe daher inbrünstig, dass die zweite Variante eintritt. Diese setzt voraus, die Asylzuwanderung auf dem skizzierten Weg in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken. Wenn das gelingt, wird die Bevölkerung all die positiven Seiten von Zuwanderung sehr viel intensiver wahrnehmen. Das gilt gerade auch für Bürgerliche und Konservative, die sich bis heute damit schwertun, dass Deutschland längst ein Einwanderungsland geworden ist. Im öffentlichen Diskurs hat das zur Konsequenz, dass linke und progressive Kreise weiterhin die Deutungshoheit darüber besitzen, was es heißt, ein Einwanderungsland zu sein. Bereits das Beispiel der USA, Kanadas und Australiens zeigt jedoch, dass dies falsch ist. Einwanderungsländer haben ja keine offenen Grenzen. Auch über das kollektive Selbstbild kann man leidenschaftlich streiten. Ich wünsche mir eine bürgerliche Alternative zur multikulturellen Beliebigkeit, die sich nicht darin erschöpft, dass alles so bleiben soll, wie es war.

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Caroline Schmidt

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Referentin Flucht und Migration

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