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Suhrkamp, Otto Müller Verlag, Hanser, Klett-Cotta, Rowohlt, C.H.Beck

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Crisis? What Crisis?

של Prof. Dr. Michael Braun

Auf in den Bücherfrühling mit den KAS-Literaturpreisträgern

Natürlich nimmt die literarische Welt durch das Corona-Geschehen Schaden. Aber sie macht vielfach das Beste daraus. Die Leipziger Buchmesse wirbt für ihr Lesefest Ende Mai „Lasst uns lesen“. Zoom-Lesungen boomen wie die KAS-Reihe studio online. Die Verlage drucken, wenn auch bisweilen verzögert. Die Autoren und Autorinnen schreiben, ganz ohne Katzenjammer, Corona-Briefe wie der KAS-Literaturpreisträger 1999 Burkhard Spinnen oder Pandemie-Erzählungen wie die Preisträgerin von 2019, Husch Josten („Bar jeder Kritik“). Romane landen in den Shortlists – so Anja Kampmanns Energiewende-Roman „Wie hoch die Wasser steigen“, der Ende 2020 für den National Book Award nominiert wurde. Zugleich beschleunigt die Corona-Krise die Marktkonzentration. In Berlin hatten Buchhandlungen auch während des Lockdowns geöffnet: Bücher gelten als „Lebensmittel“. Grund genug also, den traditionellen saisonalen Blick auf die Neuerscheinungen der Literaturpreisträger und -trägerinnen der Konrad-Adenauer-Stiftung zu werfen.

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Hans Pleschinski: Heyse? Heyse!

Nach dem ersten deutschen Literaturnobelpreisträger Paul Heyse ist in München eine Bahnhofsunterführung benannt. Das kann es nicht sein. Hans Pleschinski, der aktuelle Preisträger der Stiftung, lässt drei couragierte Frauen auf einem Spaziergang durch München über Heyse sprechen. Es ist ein freundlicher Abend im März, die Mariensäule leuchtet wie die Lampen der Segways und die Displays der Smartphones, aber rabiat sind die Umgangstöne der Passanten auf dem Marienplatz, im Theater gibt es Performances statt große Dramen, französisch versteht keiner mehr, am Horizont steht Corona: „man wappnet sich gegen eine Krankheit“. Aber keine Sorge, Pleschinski bringt hier keinen kulturpessimistischen Roman an den Start. Es geht um die Vergegenwärtigung eines zu Unrecht vergessenen Dichters im heiter-kultivierten Gespräch. Was da Pleschinski seine Figuren - eine leitende Kommunalpolitikerin, eine Bibliothekarin und eine Autorin - alles aus der Biographie herausholen lässt, ist schon enorm: Heyse war der letzte deutsche Hofpoet in München, zu seiner Zeit ein Bestsellerautor,  „Liebling der Grazien“, wie Fontane schrieb. Seine Dramen waren Schullektüre in Preußen. Er schrieb neben einer Unmenge von Novellen auch das erste Gedicht gegen Tierquälerei, setzte sich für die Emanzipation der Frau ein, rettete einen Loreley-Brunnen vor antisemitischer Zerstörung und förderte andere Autoren durch die Schiller-Stiftung. Doch Pleschinskis Heyse-Leserinnen wissen auch, wie Heyse die Moderne abbremste. Seine Werke kannten keine Seelenabgründe, keine Himmelsstürmereien. „Der Stil elegant, ein paar Tupfer Lokalkolorit, dann das seelische Drama“: Diese Charakteristik in Pleschinskis Roman trifft es wohl genau. Am Ende landen wir mit den gut gelaunten Erzählerinnen in der Luisenstraße 22. Dort steht die Villa von Paul Heyse. Und dort könnte, so wird hinter vorgehaltener Hand gesagt, ein europäisches Kulturzentrum entstehen, mit Theater-, Ausstellungs- und Tagungsraum, Wohnungen für Stipendiaten aus aller Welt und einer 24 Stunden geöffneten Bar. So bringt Hans Pleschinski München und seinen fast vergessenen Nobel-Autor zum Leuchten.

Norbert Gstrein: Wie erzählt man ein Leben?

Norbert Gstrein (Literaturpreis der KAS 2001) ist ein Spezialist für unzuverlässige Biografien. Die Helden, die er seit seinem Debüt „Einer“ in die österreichische Provinz, dann in die Welt schickt, haben viel und zugleich wenig mit ihm gemeinsam. Autofiktionales Erzählen, nennt das die Wissenschaft, aber man kann es auch einfacher haben: Denn ein Leben ist auf vielfache, oft widersprüchliche Weise erzählbar. Auch dem Biografen, den Gstrein seiner neuen Romanfigur an die Seite stellt, fehlt der echte Durchblick. Der Leser wird mit Versionen eines Lebens konfrontiert, das so erfolgreich wie unglücklich ist. „Der zweite Jakob“ (so der Titel des Romans, der auf die Erzählfigur von Gstreins erstem Buch anspielt) ist ein halbwegs berühmter Schauspieler mit Leichen im Keller. Auf einer trunkenen Fahrt durchs Grenzgebiet zwischen Mexiko und Colorado kommt es zu einem Unfalltod, die Tat wird vertuscht und verschwiegen, bis die Tochter durch ihre Nachfragen nach dem schlimmsten, was ihr Vater je getan hat, den Stein ins Rollen bringt. Ist der „zweite Jakob“ ein Psychopath  und Kontrollfreak oder ein reicher Unglücksrabe? Norbert Gstrein erzählt eine Heldenreise von unten, elegant, spannend, stets mit doppeltem Boden.

Martin Mosebach: Wo endet die Macht?

Der 1951 geborene Martin Mosebach (KAS-Preisträger 2013) hat das Bürgertum in der Literatur zu neuen Ehren gebracht. Das gelingt durch die beinahe musikalische Kunst des Autors, von der guten Gesellschaft mit Ironie und Weltzweifel zu erzählen. Seine Figuren sind Mutbürger mit Unternehmungsgeist, naturtalentierte „Weltherrscher im Verborgenen“. So ein Machtmensch ist „Krass“, der Titelheld mit dem sprechenden Namen in dem neuen Roman, den der Autor sich und seinen Lesern zum 70. Geburtstag geschenkt hat. Ralph Krass ist ein Waffen- und Drogenhändler. Aber wichtiger ist der Habitus, der hinter seinen Tagesgeschäften steht. Wir sehen einen Bürgerkönig ohne Selbstzweifel, der global reist und großzügig genießt, der herrscht, aber nicht regiert. Dafür hält er sich Angestellte. Jüngel ist einer von ihnen: ein unterwürfiger Kunsthistoriker. Aus seiner Sicht betreten wir die Szene und hören, wie nah manchmal die Macht am Wahn und das Privileg an der Peinlichkeit wohnt, was die Mächtigen vermögen, wo ihr Regiment endet und welche Tücken ihr Lebenswerk durchkreuzen können. Davon erzählt Martin Mosebach, frei von Kapitalkritik oder Bekehrungseifer. Ein Roman, geistreich und mit staunendem Realismus erzählt, ein intellektuelles Vergnügen, eine Einladung zum nachdenkenden Lesen.

Louis Begley: Warum ist es nie zu spät für einen Neuanfang?

Der 1933 geborene, in New York lebende Schriftsteller Louis Begley (Literaturpreis der KAS 2000) hat sich mit seinem autobiographisch grundierten Roman „War Time Lies“ einen Namen gemacht und eine Reihe von Romanen aus den Komfortzonen der Gesellschaft folgen lassen, von denen die „Schmidt“-Romane auch verfilmt wurden. An diese domestic fiction knüpft er, nach einem Intermezzo mit drei Polit-Thrillern, mit seinem neuen Roman an, den Christa Krüger abermals aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzt hat: „Hugo Gardners neues Leben“ beginnt mit dem Anruf von dessen Anwalt. Gardners Frau, die food books schreibt, will sich scheiden lassen. Auch die Tocher distanziert sich vom Vater. Was soll er nun, in der Mitte seines neunten Lebensjahrzehnts tun? Weiter Bücher über amerikanische Präsidenten schreiben? Sein Landhaus auf Long Island und die Wohnung in Carnegie Hill, Manhattan genießen? Begley traut seiner Figur einen Neuanfang zu: natürlich in Paris, wo er eine Affäre aus früheren Jahren wiederentfacht. Das mündet in eine bittersüße Symphonie aus Lebensfreude, Altersbeschwerden und Bewusstsein von Alter. Louis Begley erzählt geschmeidig, weltläufig, voller Esprit von Neuanfang und Lebenswenden.

Daniel Kehlmann: Was kann ein Algorithmus besser als wir?

Daniel Kehlmann (Preisträger 2006) ist ein Autor spielfreudiger Experimente. Im Februar 2020 flog er von seinem Wohnort New York nach Kalifornien. Eine österreichische Institution hatte ihn ins Silicon Valley eingeladen, um gemeinsam etwas mit einer Künstlichen Intelligenz zu schreiben. Das geschah mithilfe eines Algorithmus, den eine Cloud-Computing Firma entwickelt hatte. Kehlmann ließ sich nur zu gerne auf das Abenteuer ein, fand im Valley alles so farbig, jung, kreativ, blitzgescheit vor, wie er es aus Fernsehserien kannte, und lieferte sich mit dem Algorithmus, den sein Erfinder sinnigerweise CTRL getauft hatte, einen beherzten Wettstreit: Geschichten entstanden im Wechsel von Kehlmanns Eingaben und CTRLs Repliken, bizarre Heldenreisen und absurde Dramenszenen, die allerdings an einem bestimmten Punkt abbrachen: mehr Kafka als Dickens. Kehlmann interessieren in seinem Essay „Mein Algorithmus und ich“, der als Stuttgarter Zukunftsrede am 9. Februar 2021 gehalten wurde, aber weitaus mehr als die Grundlagen von Meta-Wörterbüchern, die Gespenster des Transhumanismus oder die Kälte von Algorithmen. Sind statistische Voraussagewahrscheinlichkeiten der künstlerischen Einbildungskraft überlegen? Wie gut kann eine Künstliche Intelligenz Geschichten erfinden und Erzählfäden weiterspinnen? Und wenn sie das gut macht, ersetzt sie dann womöglich den Autor? Dann wäre Daniel Kehlmann wenigstens der erste, der das wüsste.

Marica Bodrožić: Was macht Rilkes Panther mit der Pandemie?

Im Lockdown vom März 2020 hatte Marica Bodrožić (KAS-Preisträgerin 2015) eine Blitzidee. Jeden Abend um 20:00 Uhr las sie auf ihrem Balkon Rilkes Gedicht „Der Panther“ (1903): Die erste Strophe „Sein Blick ist vom Vorübergehen der Stäbe / so müd geworden, dass er nichts mehr hält. / Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt.“ war wie eine Tagesschau nach innen. Von diesem „Innenmaß der Dinge“ erzählt ihr neues Buch „Pantherzeit“. Es ist das tagebuchartige Protokoll eines eingeschränkten Lebensradius. Der Ehemann, die kleine Tochter, das Gärtnern, Lektüren, Einfälle, Kosmetisches –  dieses private Panorama in der Pandemie wird ausgeweitet und vertieft zu einer Reflexion von philosophischer, ja religiöser Kraft, die seelische Blockaden lösen kann. Marica Bodrožić entdeckt, wie das Poetische in der Religion am Werk ist, welche Verbindung mit der Welt uns Luft und Atem zuweisen, weshalb die „Möglichkeit einer neuen Zukunft“ der „Maschinenwärme“ der alten Zeit vorzuziehen ist, inwiefern der „Versuch zu schützen“ eine großartige Solidar-Unternehmung der alarmierten Menschheit ist. Wenn die Zoos geschlossen sind, dann sind wir die eingesperrten Panther. Kein Grund aber zu ermüden! Marica Bodrožićs Buch ist ein Panthersprung in eine neue Zeit.

Und die Lyrik? Cees Nootebooms „Abschied“

Als Cees Nooteboom nach einem Krankenhausaufenthalt im Frühjahr 2020 durch die leeren Straßen von München ging, fiel ihm ein Poster ins Auge, auf dem geschrieben stand „beginnt hier das Jenseits“. Das klingt melancholisch und  ist auch der Grundton der Gedichte, die der Preisträger der Stiftung (2010) in seinem neuen Lyrikband austrägt. Sind es letzte  Grüße wie seinerzeit „Langmut“ von Walter Kempowski (Preisträger 1994)? Es ist die Erinnerung, die den Dichter an die Welt, und die Formstrenge, die ihn ans Schreiben bindet. Drei Teile mit je 11 Gedichten zu dreimal vier Versen mit einer Verswaise, das ist eine danteske Ordnung. In ihr behauptet das Leben als Hohelied seinen Platz, aber auch als Kriegsgedächtnis (1944 starb Nootebooms Vater beim Bombardement von Den Haag), als „Nacht und Nebel“ (das erinnert an Resnais' gleichnamigen Holocaust-Dokumentarfilm von 1955). Nootebooms Gedichte erkunden, welchen Platz Shakespeares Erzbösewicht Richard III. und die rätselhaften Vorsokratiker im Gedicht haben, wie viele Rätsel einer überhaupt ertragen kann, was Gedichte ohne Leser noch wert sind – und warum das Gespräch sich im hohen Alter (Nooteboom ist Jahrgang 1933) aufs Sehen zurückzieht. Eine Meditation über Vergänglichkeit, eine Elegie ohne Kummer, eine nachdenkliche Selbstbetrachtung, bereichert durch Kopfporträts von Max Neumann und den niederländischen  Originaltext (übersetzt von Ard Posthuma).

  • Louis Begley: Hugh Gardners neues Leben. Roman. Berlin: Suhrkamp, 2021.
  • Marica Bodrožić: Pantherzeit. Vom Innenmaß der Dinge. Salzburg: Otto Müller Verlag, 2021.
  • Norbert Gstrein: Der zweite Jakob. Roman. München: Hanser, 2021.
  • Husch Josten: Bar jeder Kritik. In: die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik. Hrsg. von Andreas Erb und Christof Hamann. Göttingen: Wallstein, 2020, S. 170-174.
  • Daniel Kehlmann: Mein Algorithmus und ich. Stuttgarter Zukunftsrede. Stuttgart: Klett-Cotta, 2021.
  • Martin Mosebach: Krass. Roman. Hamburg: Rowohlt, 2021.
  • Hans Pleschinski: Am Götterbaum. Roman. München: Beck, 2021

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Prof. Dr. Michael Braun

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