Aufzeichnung "Forum 20. Juli 1944" vom 31. August 2021
In seiner Einführung erklärte der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, Professor Norbert Lammert, dass die Beschäftigung mit der Diktatur und dem Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime zu den herausragenden Daueraufgaben der Stiftung gehöre. „Denn die Demokratie ist nicht für immer gesichert, wenn es nicht Frauen und Männer gibt, die sie verteidigen.“ Aus diesem Grund sei auch die Erinnerung an den 20. Juli 1944 fester Bestandteil der Stiftungsarbeit. „Dabei müssen wir uns aber nicht nur am 20. Juli, sondern über das ganze Jahr über die Bedeutung dieses Tages verständigen. Viele halten die deutsche Demokratie für selbstverständlich. Das ist nicht so. Tatsächlich leben wir – mit Blick auf die gesamte deutsche Geschichte und auch weltweit betrachtet – in einem Ausnahmezustand. Es kommt darauf an, dass die Menschen, insbesondere die jungen Menschen Verantwortung für unsere Demokratie übernehmen.“ Der Vorsitzende der Stiftung 20. Juli 1944, Professor Robert von Steinau-Steinrück, erinnerte daran, dass es das Ziel aller Widerstandsgruppen war, Terror und Willkürherrschaft zu beenden und Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen. Dies sei bis heute das Vermächtnis der Widerstandskämpfer und Zukunftsauftrag.
In seinem Vortrag begrüßte es Schuster, dass der 100. Geburtstag von Sophie Scholl in diesem Jahr eine sehr breite Debatte über den Umgang mit den Widerstandskämpfern ausgelöst habe, verurteilte jedoch die Instrumentalisierung der Widerstandskämpfer auf Demonstrationen von Corona-Leugnern und sogenannten Querdenkern: „Gerade von rechtsextremen Kräften werden diese Narrative und Verschwörungsmythen ganz bewusst genutzt, um sich selbst als Opfer darzustellen, die Regelverstöße zu legitimieren und den Nationalsozialismus zu verharmlosen.“
Der jüdische Widerstand, der in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg von der Forschung fast ignoriert wurde, habe heute zwar dieses Nischendasein verloren. Allerdings, so Schuster, gebe es noch immer viele Menschen, die darüber fast nichts wissen. Beispielhaft erinnerte Schuster an die Widerstandsgruppe um den Berliner Juden Herbert Baum, die seit 1933 am illegalen Kampf der KPD gegen den NS-Staat beteiligt war und 1942 einen Brandanschlag auf eine sowjetfeindliche Ausstellung im Berliner Lustgarten ausübte. Wichtig sei aber auch, über den „nationalen Tellerrand“ zu schauen, in die vielen europäischen Länder, die von Deutschland besetzt wurden und in denen Juden zu den Widerstandskämpfern gehörten, so in der französischen Résistance und in Partisanengruppen in verschiedenen besetzen Staaten. Zudem gelte es, insbesondere auch den Widerstand in den Ghettos und Lagern zu würdigen. Hier müssen an erster Stelle der Warschauer Ghetto-Aufstand sowie die Aufstände in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor genannt werden.
Auch wenn die Widerstandsgruppen gegenüber dem NS-Regime nahezu chancenlos gewesen seien, so sei diese Unterlegenheit jedoch für keine Widerstandsgruppe so eklatant gewesen wie für Juden, hob Schuster hervor. „Jeder jüdische Widerstandskämpfer musste zudem mit der Gewissheit leben, dass er mit seinen Aktionen die Ermordung hunderter Juden auslösen könnte und seine Familien in Lebensgefahr brachte“, betonte Schuster. Es sei „erstaunlich und sensationell mutig“, dass in dieser Situation die vollkommen entrechteten, erniedrigten und körperlich entkräfteten Menschen überhaupt die Rebellion gewagt hätten. Dabei planten sie keinen Staatsstreich – sie waren sich über ihre eingeschränkten Möglichkeiten im Klaren –, sondern es sei ihnen um die Wahrung der eigenen Würde gegangen. „Es ging ihnen um die Selbstbehauptung und Gegenwehr gegen die Ideologie der Nazis, Juden das Mensch-Sein abzusprechen.“
Problematisch sah Schuster den Umgang mit dem Judentum im Schulunterricht, wo Juden vor allem als Opfer von Pogromen im Mittelalter und als Opfer der Schoa präsentiert würden. Welchen Beitrag hingegen Juden zum deutschen Geistesleben geleistet haben, die jüdische Religion – all dies komme im Unterricht noch immer zu kurz. Zugleich betonte Schuster, dass kein Mensch als Antisemit geboren würde. Dass sich dennoch uralte antijüdische Stereotype halten, liege daran, dass sie über Generationen weitergegeben werden. Kritisch sah er dabei die Rolle der Sozialen Medien, durch die insbesondere junge Menschen mit rechtsextremen und antisemitischen Inhalten konfrontiert würden. „Darüber müssen wir sie aufklären und dagegen wappnen. Um junge Menschen gegen diese rechten Rattenfänger zu immunisieren, müssen wir ihnen ein stabiles ethisches Gerüst mitgeben“, appellierte Schuster.
„Sich einzumischen, statt wegzuschauen, ist für mich das Erbe des Widerstands“, erklärte Schuster. Es sei wichtig, Haltung zu entwickeln, gegen den „Mainstream“ in einer Gruppe demokratische Werte zu verteidigen und insbesondere auch in alltäglichen Situationen Zivilcourage zu zeigen. „Wir werden dafür nicht belangt. Wir machen uns nicht strafbar. Erst recht riskiert dafür niemand sein Leben. Doch genau hier müssen wir anfangen. Denn wir haben immer eine Wahl.“
An der anschließenden, von der Journalistin Shelly Kupferberg moderierten Podiumsdiskussion beteiligten sich neben Schuster die stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte, Professor Andrea Löw, und der Bonner Historiker Professor Ulrich Schlie. Dabei wurde die Frage diskutiert, weshalb der jüdische Widerstand noch immer so wenig bekannt ist. „Die Forschung ist inzwischen sehr weit, insbesondere in Osteuropa, dennoch kommt dieses breite Wissen in der Öffentlichkeit noch nicht an“, bestätigte Löw und unterstützte Schusters Forderung, Juden nicht als Opfer, sondern als aktiv handelnde Menschen zu zeigen.
In der Diskussion mit dem Publikum merkte ein Geschichtslehrer an, dass der Unterrichtsgestaltung oft sehr enge Grenzen gesetzt seien, um die Thematik umfassend zu behandeln. Zum einen gebe es zwar eine Fülle an wissenschaftlichen Publikationen, die aber für den Schulunterricht nicht geeignet seien. Zum anderen wurde Kritik am Rahmenlehrplan für die Berliner Schulen geübt: „Das 19. Jahrhundert wurde dort fast komplett rausgestrichen – ohne diese Grundlage können aber die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts nicht erklärt werden.“
Auch die Frage, wie weit der Begriff Widerstand zu fassen sei, beschäftigte die Diskussionsrunde. Während sich Schlie gegen einen beliebigen Widerstandsbegriff wandte, erklärte Löw, dass sie selbst den Begriff sehr breit auslege und nicht nur bewaffnete Aktionen als Widerstand begreife. Auch die Dokumentation des Lebens in den Ghettos und Lagern, die Einrichtung von Schulen oder das Schmuggeln von Lebensmitteln zähle für sie klar zum Widerstand, denn all diese Aktionen wandten sich gegen das Ziel der Nationalsozialisten, Juden ihre Würde zu nehmen, sie zu vernichten und die Erinnerung an sie auszulöschen.
Zu der Frage, welche Motivation die nicht-jüdischen Widerstandsgruppen antrieb und welche Rolle dabei die Schoa spielte, erklärte Schlie, dass bei allen Widerstandsgruppen die „moralische Empörung“ ein wesentliches Element gewesen sei, dass es aber auch in den nicht-jüdischen Widerstandskreisen problematische Persönlichkeiten mit antisemitischen Tendenzen gegeben habe. Zudem sei der Weg in den Widerstand für viele sehr schwierig gewesen. Als Beispiel nannte Schlie Claus Schenk Graf von Stauffenberg, für den lange Zeit die Pflichterfüllung zentral gewesen sei und der sich erst spät zum Widerstand entschlossen habe. Wichtig, so Schlie, sei aber das Resultat, der Mut und die Zivilcourage, die alle Widerständler ausgezeichnet habe.
Hinweis: Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden vor Veranstaltungsbeginn gemäß der 3G-Regel überprüft.
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