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Hutongs – das Herz des alten Peking
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An warmen Sommertagen spielt sich das Leben der Menschen in den traditionellen Wohnvierteln Pekings auf der Straße ab. Alte Männer versammeln sich mit ihren chinesischen Schachbrettern im Schatten der Bäume. Neugierige Passanten bleiben stehen, beobachten das Spiel, geben einen guten Ratschlag für den nächsten Zug. Kinder lassen auf der Straße ihre Drachen steigen. Die Frauen sitzen vor der Tür, beobachten die Vorbeigehenden und unterhalten sich. Ein mit Getränkekisten beladenes Dreirad rauscht vorbei. Es stoppt vor dem kleinen Geschäft von Herrn Li, der auf wenigen Quadratmetern Fläche alles verkauft, was man im Alltag benötigt, von Lebensmitteln bis hin zum Nähzeug. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat eine junge Mutter Kisten mit Obst und Gemüse vor ihrem Laden aufgebaut. Mit ihrem Kind auf dem Arm, verhandelt sie hartnäckig den Verkaufspreis für Birnen. Eine mit orangefarbener Warnweste bekleidete Ordnungshelferin schleicht mit Schaufel und Besen durch die Straße und räumt dem Müll auf ihren kleinen Wagen.
Das Hutong ist die traditionelle Art zu wohnen
Hin und wieder lassen sich Touristen in Fahrradrikschas durch diese traditionellen Pekinger Wohnviertel fahren. Sie sind auf der Suche nach dem alten Peking der Hofhäuser und der Hutong-Straßen.
Peking war schon während der Ming-Dynastie (1271-1268) eine symmetrisch angelegte Stadt. Um die Verbotene Stadt als Zentrum herum waren die Wohnviertel angeordnet. Sie waren geprägt von direkt aneinander anschließenden Häusern mit vier Seitenflügeln und einem oder mehreren Innenhöfen. In diesen so genannten Siheyuans lag das Haupthaus im Norden. Der Eingang im Südosten sollte Licht in den Innenhof einfallen lassen. Die kleinen Straßen, welche die Eingänge miteinander verbanden und die Wohnblocks unterteilten, wurden Hutongs genannt. Von den ursprünglich nahezu 6.000 Hutongs sind heute allerdings nur noch ungefähr 600 übrig geblieben.
Schon zu Beginn der Kommunistischen Herrschaft waren den Machthabern die Hutongs ein Dorn im Auge. Als Repräsentanten des Alten wurden die traditionellen Viertel ab 1957 systematisch durch Wohnblöcke aus Fertigteilen ersetzt. Was unter der Planwirtschaft aus finanziellen Gründen nicht vollendet werden konnte, wurde unter der Reform und Öffnungspolitik fortgesetzt. Im Zeichen der Modernisierung der Hauptstadt mussten in den letzten Jahrzehnten viele Hutongs modernen Einkaufszentren und Geschäftsvierteln weichen. Die Bewohner wurden – oftmals unter enormen Druck der Behörden – in neue Wohnviertel am Stadtrand umgesiedelt.
Zwangsumsiedlung für Olympia
Zwischen 1991 und 1999 sollen in Peking ca. 70.000 Menschen jährlich umquartiert worden sein, so die Schweizer Organisation „Centre on Housing and Ecivtions“ (COHRE). In ihrer Studie „One World, Whose Dream?: Housing Right Violations and the Beijing Olympic Games” legt sie dar, dass sich deren Anzahl nochmals mehr als verdoppelt habe, nachdem die Olympischen Spiele an Peking vergeben worden waren. In den letzten Jahren mussten im Zuge von Stadtsanierungsmaßnahmen im Schnitt jeweils 165.000 Menschen ihre Wohnungen und Häuser verlassen. Insgesamt seien zwischen dem Jahr 2000 und dem Beginn der Olympischen Spiele ungefähr 1,5 Millionen Pekinger von Zwangsumsiedlungen betroffen gewesen.
Allein dem Bau der sieben Olympischen Sportstätten sind die Wohnungen von 10.000 Menschen zum Opfer gefallen. Der Landwirt Yang Delu war einer der Bewohner des Wali Dorfes, welches sich ehemals an dem Ort befand, an dem heute der Olympische Park liegt. Wie viele andere Betroffene, zog er im Jahr 2001 in eine Wohnung am Stadtrand. Die Erinnerung an seine frühere Heimat wollte er allerdings aufrecht erhalten. Deshalb sammelte er über Jahre hinweg Gebrauchsgegenstände aus dem Alltag der Bauern des Dorfes; seine Nachbarn unterstützten ihn dabei. Mit seinen 500 Sammlerstücken hat er es geschafft, die Genehmigung für eine Ausstellung auf dem Olympischen Gelände zu bekommen. Seit Ende Juli 2008 können sich die Besucher in dem olympischen Wali Heimatland Museum (Olympic – Wali Native Land Museum) ein Bild davon machen, wie sich das Leben der Landwirte in der Region vor der Ankunft der Olympischen Spiele gestaltet hat.
Auch Na Heli erinnert sich nostalgisch an seine alte Heimat im Wali-Dorf. Wie viele andere ist seine Familie im Jahr 2001 in einen andern Stadtteil umgezogen. An der Stelle, an dem er früher gelebt hat, wurde das “Vogelnest“ gebaut. Täglich kommt er an seinen früheren Wohnort zurück. Er hat hier Arbeit gefunden bei einer Firma, die Serviceleistungen für die fast 10.000 Arbeiter der Arena erbracht hat. Sein Leben als Bauer hat er aufgeben. „Ich bin gleichzeitig traurig und glücklich“ sagte er in einem Interview mit der China Daily. Aber „die Spiele sind jetzt für immer Teil meines Lebens“.
Mit Komfort hat das Leben in den Hutongs wenig zu tun
Auch jenseits der Olympischen Sprotstätten wurde der Abriss von alten Wohngebieten in den zentralen Bezirken Pekings vorangetrieben. Die Häuser entsprachen dort oft nicht im Geringsten dem idyllischen Bild, das ausländische Besucher sich vom traditionellen China machen.
Aus Platzmangel begann man in den 60er Jahren die Innenhöfe der Hutongs als Wohnraum zu nutzen. Überall wurden kleine Zimmer angebaut, in denen die Menschen auf engstem Raum wohnten. Die ehemals ausladenden Höfe verwandelten sich in ein Labyrinth winziger Gassen, um welche sich ein Netz kleiner Kammern strickte. Oftmals boten diese lediglich Platz für einen kleinen Tisch und ein Bett.
Viele der alten Hofhäuser sind mittlerweile baufällig und nicht einmal mit fließendem Wasser versorgt. Zur Körperpflege geht man in öffentliche Waschräume und auch die WCs werden gemeinschaftlich benutzt. Da die Häuser kaum isoliert sind und es keine Heizung gibt, ist es in den Wohnungen im Sommer glühend heiß und im Winter eisig kalt. So ist es kein Wunder, dass sich viele Bewohner nach einer modernen Wohnung mit Zentralheizung und Klimaanlage sehnen.
Diese ist für die meisten aber unerschwinglich, zumindest in einer ähnlich zentralen Lage, wie die Hutongs sich befinden. Wenn die Häuser zwangsgeräumt und abgerissen werden, erhalten die Betroffenen zwar meist eine Kompensation. Diese spiegelt in der Regel jedoch nicht den wahren Wert des Grundstücks wieder und reicht bei Weitem nicht aus, um eine gut gelegene neue Wohnung zu kaufen. Viele sind gezwungen, in billige Unterkünfte am Stadtrand umzuziehen und müssen lange Wege zu ihrem Arbeitsplatz in Kauf nehmen. Weil die Entschädigung nicht einmal die Mietkosten für eine neue Wohnung abdeckt, führt die Umsiedlung bei ca. 20% der Betroffenen sogar zur Verarmung, so das COHRE. Der Prostest der Bevölkerung richtet sich deshalb häufig nicht gegen den Abriss des alten Lebensraums an sich, sondern vor allem gegen die geringen Ausgleichszahlungen.
Anerkennung der Hutongs als Kulturerbe
Nachdem jahrelang unzählbare Hauswände von dem in roter Schrift geschriebenen Zeichen „chai“ für „Abriss“ gekennzeichnete waren, erweist sich derzeit ein T-Shirt mit der Aufschrift „bu chai“, „nicht abreißen“, als modischer Renner. Zusehends wird den Pekingern klar, dass die Hutongs einen Teil der Stadtgeschichte darstellen und als Kulturerbe erhalten werden sollten. Ein Großteil der verbliebenen Hutongs in der Innenstadt wurde mittlerweile unter Denkmalschutz gestellt, eine Vielzahl der alten Siheyuans wird renoviert.
Im Vorfeld der Olympischen Spiele hat die chinesische Regierung vermehrt Maßnahmen ergriffen, um die Instandsetzung ihrer kulturell wichtigen Stätten voranzutreiben. Allein im Jahr 2008 stellte sie 120 Millionen Yuan (etwa 12 Mio. Euro) für Sanierungsarbeiten zur Verfügung. Diese sollten unter anderem der Erneuerung von 44 Hutongs und 1.474 Hofhäusern zu Gute kommen. Insgesamt hat die Regierung in den vergangenen acht Jahren 1,2 Milliarden Yuan (etwa 120 Mio. Euro) für die Renovierung der Kulturdenkmäler in Peking ausgegeben.
Vor allem in Zentrum der Stadt, rund um die wichtigsten Sehenswürdigkeiten, wurden im großen Stil Fassaden erneuert und oftmals mit kunstvoll bemalten Holzschnitzereien verziert. Im Fokus der Bemühungen stand dabei die Qianmen Dajie, die Straße, welche vom Tiananmen nach Süden führt. Die ehemals lebhafte Einkaufsstraße mit tausenden Läden wurde einer 9,2 Mrd. Yuan (etwa 920 Mio. Euro) teuren Totalsanierung unterworfen. Zahlreiche der alten und baufälligen Häuser wurden abgerissen und im Stil des Peking der 20er Jahre wieder aufgebaut. Mit ihrer prunkvollen Häuserfront, den pompösen Straßenlaternen und sogar einer antiken Straßenbahn, präsentiert sich die Qianmen Dajie nun als eine Art Freilichtmuseum des alten Peking. Als neue Touristenattraktion zieht sie täglich tausende von Besuchern an.
Für viele der Ladenbesitzer war der Umbau jedoch ein großes Verlustgeschäft. Nicht wenige waren gezwungen ihre Läden und Häuser zum Abriss freizugeben und wegzuziehen. Die übrigen mussten ihr Geschäft für mehr als zwei Jahre schließen. Noch ist unklar, ob sie schwarze Zahlen schreiben werden. Die Miete für die kleinen Läden ist teuer. In die momentan noch nicht fertig gestellten und leer stehenden Läden werden wahrscheinlich Edelboutiquen oder überteuerte Souvenierläden einziehen. Bevölkert wird der ehemals von chinesischen Kunden geprägt Distrikt mehr und mehr von ausländischen Touristen. Die Renovierung wird dem Viertel zwar wieder zum Glanz eines berühmten Einkaufsviertels verhelfen. Allerdings ist das ursprüngliche Flair des Gebiets verloren gegangen.
Die Qianmendajie ist nicht das einzige Beispiel für eine Sanierung, die den chinesischen Anwohnern eher zum Nachteil gereicht. So notwendig die Instandhaltung der Hutongs ist, sie ist auch teuer. Die Hofhäuser, die nach der Renovierung alle Annehmlichkeiten des modernen Lebens bieten, werden deshalb meist von Ausländern oder extrem wohlhabenden Chinesen bewohnt.
Aber es gibt auch Beispiele für eine gelungene Erneuerung von alten Wohnvierteln. Eines davon ist die Nanlouguxiang, eine mehr als 800 Jahre alter Hutong-Straße unweit des Glockenturms. Mit zahlreichen ehemaligen Residenzen von Prinzen und mächtigen Eunuchen zählt sie auch zu den wichtigen Kulturdenkmälern der Stadt und wurde ab dem Jahr 2006 renoviert. Im gesamten Gebiet wurden die Fassaden erneuert, die Straßen neu gepflastert und die Toiletten renoviert. In kleinen Läden verkaufen nun Modedesigner ihre selbst entworfenen Kleider und ihren Schmuck. Die zu gemütlichen Cafés umgebauten alten Hofhäuser bieten einen Treffpunkt für Künstler und trendbewusste Chinesen. Touristen, denen das nahe gelegene Bar- und Restaurantgebiet um den Houhai-See zu lärmend ist, finden hier einen Platz um zu verweilen. Trotz des Umbaus und dem verstärkten Fokus auf Angebote für ausländische Touristen hat diese Straße den ursprünglichen Charme einer Hutong bewahrt. Tagsüber sieht man immer noch alte Männer auf ihren Hockern vor den Eingängen sitzen. Man kann ein Kind beobachten, das sich einen Tisch auf die Straße stellt und seine Hausaufgaben macht. Das kaputte Fahrrad wird nach wie vor an einer auf ein Dreirad aufgebauten mobilen Werkstatt repariert. Hier bleibt die Straße als öffentlicher Raum erhalten und ist weiterhin das Zentrum des Lebens der Pekinger in diesem Stadtteil.
Sabrina Eisenbarth, 12. August 2008