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Das Kapitol - Geburtsort Europas
Ein Stadtspaziergang
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Über Michelangelos Treppe mit den flachen Stufen gehen wir auf das Kapitol. Links grüßt uns die kleine Statue des Cola di Rienzo, der Richard Wagner zu seiner Oper „Rienzi, der letzte der Tribunen“ inspirierte. Dann stehen wir auf dem Platz vor ihm, Kaiser Mark Aurel hoch zu Pferd. Mit erhobener Hand spricht er zu uns:
„Keinen Ekel empfinden, nicht den Mut verlieren, nicht aus Verdruss aufgeben, wenn es dir nicht vollständig gelingt, alles nach richtigen Grundsätzen auszuführen. Wenn etwas misslungen ist, fang wieder von neuem an und sei zufrieden, wenn das meiste von dem, was du tust, eines Menschen würdig ist“
(Selbstbetrachtungen)
Mark Aurel (121-180) ist bis heute der eigentliche Protagonist der Platzanlage, seit ihn Michelangelo Buonarroti im Jahr 1538 auf diesen Sockel stellte. Die heutige Reiterstatue ist von 2005, eine getreue Kopie des Originals, das nebenan im Museum steht. Mark Aurel war erst 17 Jahre alt, als Kaiser Hadrian ihn zum Nachfolger wollte, aber er war noch zu jung und wurde erst mit 40 Jahren zum Kaiser ernannt. Aus der Sicht der Nachwelt war er aufgrund seiner persönlichen Qualitäten ein quasi perfekter Herrscher, ein Vorbildkaiser des „buon governo“. Mark Aurel hinterließ eine Art Tagebuch, das er in den letzten zehn Jahren seines Lebens geschrieben hatte, die „Selbstbetrachtungen“. In Form von Aphorismen sprechen sie von der ernsthaften Sorge der Verantwortung eines Herrschers, von der Beziehung des Menschen zu den Göttern und sie zeugen von großem Interesse an Natur und kosmischer Ordnung. Die „Selbstbetrachtungen“ sind in viele Sprachen übersetzt und werden bis heute gelesen.
Im 20. Jahrhundert wurde das Kapitol Schauplatz eines bedeutenden und aufregenden Ereignisses für die Geschichte Europas. Ein großer Saal im ‚Konservatoren Palast‘, heute Kapitolinische Museen, diente bis zum 18. Jahrhundert juristischen Funktionen der Stadtverwaltung. In diesem Raum unterzeichneten 1957 die Vertreter der ersten sechs Mitgliedsländer: Italien, Frankreich, Deutschland, Luxemburg, Belgien und Holland die ‚Europäische Wirtschaftsgemeinschaft‘ EWG, die sogn. ‚Römischen Verträge’.
Waren die Regierungschefs dieser Länder auf dem kapitolinischen Platz schon Kaiser Mark Aurel begegnet, so trat ihnen auf dem Weg in den besagten Saal im großen Innenhof der Kaiser Konstantin entgegen. Das war der Kaiser, der erstmals mit dem Christentum im Römischen Imperium eine starke religiöse Identität schuf und den Sitz der Hauptstadt von Rom nach Konstantinopel verlegte. Von der einst kolossalen Sitzstatue des Kaisers sind nur der Kopf, eine Hand und die Füße erhalten. Sein visionärer Blick geht weit über die Menschen hinweg in göttliche Sphären.
Die Gründungsväter der EWG kamen für den Vertragsabschluss in der prächtigen ‚Sala degli Orazi e Curiazi’ zusammen. Die Wandmalereien erzählen die Geschichte der legendären Gründung Roms im 8. Jahrhundert v.C. und der Anfänge des römischen Imperiums. Ihre monumentale bühnenhafte Inszenierung verweist auf den Einfluss von Raffaels Fresken in den Vatikanischen Museen und der Villa Farnesina. Die Wandbilder aus dem späten 16. Jahrhundert lassen sich in zeitlicher Reihenfolge lesen. Vorhang auf.
- Erste Szene: Vor aufgehender Sonne wird die mythologische Gründung Roms mit der Wölfin und den Zwillingen zur göttlichen Vorsehung.
- Zweite Szene: Romulus und Remus, die ihre Siedlung auf dem Palatin mit einer Furche eingrenzen und dann in Streit geraten, wer von ihnen die Leitung übernehmen wird.
- Dritte Szene: Der legendäre König Numa Pompilius führt den Kult der Vestalinnen ein, deren Aufgabe es war, das ewige Feuer zu hüten, ein aus Griechenland übernommener archaischer Kult
- Vierte Szene: Romulus und seine Männer rauben die schönen Sabinerinnen vom Quirinal.
- Fünfte Szene: Der entscheidende Endkampf im 7. Jahrhundert v.C . in Form eines Duells zwischen Orazi- Römern und Curiazi- Latinern an der Via Appia Antica. Im Bild spielt sich dieser Kampf auf höherer, tugendhafter Ebene ab, es siegen die Römer (der franz. Maler J.L. David nahm 1884 dieses heroische Thema in seinem vorrevolutionären Gemälde ‚Der Schwur der Horazier’ zum Vorbild).
- Sechste Szene: Der Kampf der Römer um die Vorherrschaft der etruskischen Stadt Veio im 4. Jahrhundert v.C.
Mit diesen Bildern der Gründung Roms vor Augen unterzeichneten die Regierungschefs der EU-Gründungsländer am 25. März 1957 die ersten Verträge eines ökonomisch vereinten Europa. Erneut wurden in diesem Raum am 29.Oktober 2004 die erweiterten „Römischen Verträge“ der inzwischen 25 europäischen Länder besiegelt. Somit bleibt die Gründung der ‚Europäischen Union‘ mit der Geschichte des Kapitols verbunden und steht vielleicht auch unter dem Schutz des römischen Philosophen-Kaisers Mark Aurel. Beim Verlassen des Kapitols winkt der Kaiser ihnen ermutigend zu: „Hebe die Augen, schau in den Himmel und alles erscheint dir einfacher und weniger schwer“(Betrachtungen).
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Literatur
- Mark Aurel. Selbstbetrachtungen