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Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

Länderberichte mal anders

Von Bevormundung zu Teilhabe – Menschen mit Behinderung in Chile

von Hartmut Rank, Lea Osiander

Inklusion weltweit – Aktueller Stand aus Chile

In Chile leben fast 3 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Zwar gab es in den letzten Jahrzehnten merkliche Verbesserungen in Hinsicht auf Inklusion und Teilhabe, dennoch sind in Bereichen wie Eingliederung in den Arbeitsmarkt, Bildung, Zugang zum Gesundheitssystem sowie zum öffentlichen Raum noch deutliche Defizite zu vermerken. Auch die gesellschaftliche Sicht auf Menschen mit Behinderung befindet sich im Wandel.

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Zahlen und Fakten

Will man sich ein Bild über die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung in Chile machen, verschaffen zunächst ein paar Zahlen und Statistiken einen ersten Überblick: Nach einer Studie von 2022 leben 17,6 % der erwachsenen Chileninnen und Chilenen mit einer Behinderung, das sind 2.703.893 Personen. 11,4 % der Bevölkerung leben mit einer schweren Behinderung, und 9,8 % befinden sich in einer von Abhängigkeit geprägten Situation.

Dabei sind Frauen häufiger von einer Behinderung betroffen als Männer: Während 13,1 % der männlichen Bevölkerung mit Behinderung leben, sind es bei den Frauen 21,9 % (Personen außerhalb dieser Kategorien wurden bei der Studie nicht berücksichtigt). Frauen sind damit potenziell doppelt von Diskriminierung und Benachteiligung gefährdet. Ein Faktor für die höhere Betroffenheit von Frauen ist deren höhere Lebenserwartung, die mit einer größeren Wahrscheinlichkeit einhergeht, im Alter eine Behinderung zu erleben. Ein weiterer Faktor ist das zunehmende Lebensalter: Ganze 32,6 % der Menschen über 60 Jahren leben mit Behinderung.

Bevor diese Statistiken Aufschluss über die Situation von Menschen mit Behinderung geben können, soll zunächst der Begriff „Person mit Behinderung“ im chilenischen Kontext näher erläutert werden: Laut chilenischem Recht gilt eine Person als behindert, die aufgrund einer vorübergehenden oder dauerhaften körperlichen, geistigen oder sensorischen Beeinträchtigung in ihrer vollen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eingeschränkt oder behindert ist.

Verschiedene Arten der Behinderungen können unterschieden werden: physische, mentale (darunter intellektuelle und neurologische Entwicklungsstörungen) sowie sensorische Behinderungen (wie Beeinträchtigungen des Seh- oder Hörvermögens).

Nachfolgend wird auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung in verschiedenen Lebensbereichen eingegangen und ermittelt, wo Handlungsbedarf besteht.

 

Rechtlicher Hintergrund

In Chile, einem Land mit ohnehin schon großen sozioökonomischen Ungleichheiten, sind Menschen mit Behinderung besonders armutsgefährdet: Lediglich 43,9 % dieser Gruppe sind erwerbstätig; 41,5 % befinden sich in einem äußerst niedrigen Einkommensspektrum und gelten daher als besonders vulnerabel. Auch diejenigen Menschen mit Behinderung, die erwerbstätig sind, verdienen häufig weniger als Menschen ohne Behinderung.

Ein rechtliches Instrument zur Inklusion und Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderung soll das Gesetz zur Festlegung von Regeln und Standards für die Chancengleichheit und soziale Eingliederung von Menschen mit Behinderungen darstellen, welches im Februar 2010 in Kraft trat und aus welchem auch die genannte Definition stammt. Begrüßenswert ist, dass in diesem Rahmen die SENADIS (Servicio Nacional de la Discapacidad) geschaffen worden ist, auch wenn diese nur über eingeschränkte Ressourcen verfügt. SENADIS verfolgt verschiedene Projekte in den Bereichen Bildung, Gesundheitswesen, Eingliederung in den Arbeitsmarkt, Barrierefreiheit, unabhängige Lebensführung, Recht, Technologie sowie Kultur und Sport. Betroffene kritisieren jedoch die hohen Voraussetzungen, unter denen bei SENADIS eine finanzielle Hilfe beantragt werden kann, und lange Wartezeiten.

 

Arbeit

In Unternehmen ab 100 Beschäftigten ist eine Mindestquote von 1 % für Menschen mit Behinderung vorgesehen. Außerdem wurden in Chile Gesetze zur Bekämpfung von Diskrimination am Arbeitsplatz verabschiedet.

Grundsätzlich haben institutionelle Akteure ein wachsendes Interesse an der Beseitigung von Hindernissen für die volle Teilhabe am Arbeitsmarkt. Im traditionellen, wohlfahrtsbasierten Ansatz sah man die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderung nicht als Problem an, weil man davon ausging, dass diese ohnehin nicht arbeiten könnten. Inzwischen hat sich der Fokus dahingehend gewandelt, dass die Eingliederung der Menschen mit Behinderung als Integration in die Gesellschaft begriffen wird.

Nichtsdestoweniger wird die Inklusion von Menschen mit Behinderung in den chilenischen Arbeitsmarkt erschwert. Hier zu nennen ist die Furcht einiger Arbeitgeber vor Klagen, dem Fehlen von barrierefreien Zugangsmöglichkeiten in der Praxis und fehlender Kenntnis der rechtlichen Rahmenbedingungen und Angebote. Auch in Chile sind sich Arbeitgeber häufig nicht im Klaren über potenzielle eigene Vorteile bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz - darunter eine höhere Produktivität und ein höheres Ansehen in der Gesellschaft.

 

Bildung

Für Kinder mit Behinderung ist in Chile ein besonderer Bildungsweg vorgesehen, je nach Art und Grad der Behinderung. Einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus dem Jahr 2017 zufolge, zeigt Chile eindeutige Bemühungen, die Ressourcen auf gefährdete Schülerinnen und Schüler zu konzentrieren, einschließlich auf solche mit einer Behinderung.

In der Praxis bestehen jedoch noch weitere Herausforderungen für die Inklusion und zielgruppengerechte Bildung von Schulkindern mit Behinderung: So gibt es nach wie vor ein nur knappes Angebot an Bildungsmöglichkeiten und eine geringe Integration von Schülerinnen und Schülern in reguläre Klassen. Vielen Lehrkräften an regulären Schulen fehlt die erforderliche Ausbildung für die Arbeit mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Darüber hinaus ist anzumerken, dass Lehrkräfte an Sonderschulen weniger Geld verdienen als diejenigen, die an Regelschulen unterrichten. Zudem werden die Bedürfnisse von Schulkindern nicht immer richtig diagnostiziert, was dazu führt, dass sie nicht mit den erforderlichen Ressourcen ausgestattet werden können.

2016 hatten 46,9 % der Menschen mit Behinderung nur einen Grundschulabschluss; im Jahr 2005 besuchten lediglich 6,6 % der jungen Menschen mit Behinderung eine Universität und noch weniger beendeten ihr Studium mit einem Abschluss.

 

Gesundheitsversorgung

Was die Gesundheitsvorsorge betrifft, so werden Menschen mit Behinderung deutlich benachteiligt: Den Ergebnissen einer Studie von 2016 zufolge haben Menschen mit Behinderung Probleme, Gesundheitseinrichtungen zu erreichen, eine ärztliche Sprechstunde und Behandlung zu erhalten sowie die Gesundheitsdienstleistungen zu bezahlen. Innerhalb der Gruppe sind wiederum Frauen stärker benachteiligt als Männer. Ein weiteres Problem ist, dass viele Einrichtungen kein programmatisches Konzept für das Altern von Menschen mit Behinderung haben.

 

Barrierefreiheit

Während Fortschritte beim barrierearmen bzw. -freien Zugang zu öffentlichen Gebäuden verzeichnet werden können, allen voran in der chilenischen Hauptstadt Santiago, welche im regionalen Vergleich deutlich barrierefreier ist als andere Großstädte, bleibt die Zugänglichkeit von Verkehrsmitteln häufig eine große Herausforderung.

Ein Beispiel dafür ist der Fall von Jeanette Sandoval, einer Rollstuhlfahrerin, welche 2018 gegen ein kommunales Transportunternehmen (Metro) in Santiago de Chile geklagt hat: Die Klägerin befand sich im Mai 2016 in der Metro, als diese wegen eines möglichen Sprengsatzes evakuiert werden musste. Allerdings war der Treppenlift - die von der Metro installierte Zugangsvorrichtung für Menschen mit Behinderung - in einem so schlechten Zustand, dass die Klägerin nicht evakuiert werden konnte und während des Vorfallsin der Metrostation verblieb. Das Oberste Gericht Chiles urteilte zugunsten der Klägerin, dass es sich hier um eine willkürliche Diskriminierung durch das Unternehmen handelte und hat der Klägerin Recht zugesprochen.

Auch sprachliche und kommunikative Barrieren können zu Herausforderungen für Menschen mit Behinderung werden. Das bereits genannte Gesetz „zur Chancengleichheit und Eingliederung“ legt fest, dass Notfallinformationen im Fernsehen in Gebärdensprache gedolmetscht oder mit Untertiteln gesendet werden müssen.

 

Gesellschaftliche Perspektive

Die Wahrnehmung der Schwierigkeiten, welchen Menschen mit Behinderung im Alltag ausgesetzt sind, ist in der chilenischen Gesellschaft vorhanden. Dazu trägt u. a. die Wohltätigkeitsveranstaltung „Teletón“ bei. Dieser Spendenmarathon, der vom größten staatlichen Fernsehsender jährlich im Dezember veranstaltet und ausgestrahlt wird, sammelt Spenden für Kinder mit Behinderung. Neben finanziellen Aspekten trägt dieser Brauch zur Sichtbarkeit der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung bei.

Es bleibt zu hoffen, dass das Thema „Menschen mit Behinderung“ auch jenseits solcher auf Aufmerksamkeit ausgelegter Formate nicht aus dem Fokus der Gesellschaft gerät, und Betroffene zukünftig stärker integriert und gleichgestellt werden. Abschließend sei anzumerken, dass der chilenische Staat seiner gesetzlichen Pflicht zur Rehabilitation von Menschen mit Behinderung nachkommen sollte, statt diese an private Einrichtungen zu delegieren.

 

Fazit

Es lässt sich feststellen, dass Chile schon einige wichtige Schritte auf dem Weg zur Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderung vollzogen hat. Ein übergreifendes Problem bleiben die oft unzureichenden Kenntnisse der Anspruchsberechtigten über ihre Rechte. Ferner muss in Chile ein Umdenken des gesellschaftlichen Umgangs mit Menschen mit Behinderung stattfinden: diese sollten nicht länger Objekte von Mitleid sein, sondern als Menschen mit Rechten und dem Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe angesehen werden.

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Kontakt

Hartmut Rank

Hartmut Rank

Leiter des Rechtsstaatsprogramms Lateinamerika und Repräsentant des Länderprogramms Kolumbien 

hartmut.rank@kas.de +57 601 7430947 ext. 210
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Barbara Bergmann

Barbara Bergmann bild

Referentin für Inklusionsfragen in der Europäischen und Internationalen Zusammenarbeit

Barbara.Bergmann@kas.de +49 30 26996-3528 +49 30 26996-53528

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