Länderberichte
Noch vor wenigen Jahren war Brasilien eine Demokratie in ruhigem Fahrwasser. Infolge des Rohstoff-Booms hatten die Brasilianer jahrelang einen sozialen (allerdings auf den Konsum begrenzten) Aufstieg genießen dürfen. Brasiliens wachsende wirtschaftspolitische und als Mitglied von G20 und BRICS auch geostrategische Bedeutung beschrieb der Economist 2009 mit den Worten „Brazil takes off“. Gemeint war das steigende Ansehen und Gewicht des Landes auf internationaler Bühne.
Innerhalb einer einzigen Legislaturperiode, von 2014-2018, wurde das allseits hochgejubelte Land wieder geerdet. Der Lava-Jato-Korruptionsskandal, die schwerste Wirtschaftskrise der brasilianischen Geschichte, die vielerorts eskalierende Sicherheitslage, die Amtsenthebung der vormaligen Staatspräsidentin Dilma Rousseff, das Erstarken populistischer und radikaler Kräfte bei gleichzeitig immer aggressiverer Ablehnung der aktuellen Regierung, der damit einhergehende Absturz des derzeitigen Staatspräsidenten Michel Temer in den Meinungsumfragen und zuletzt die Hinrichtung der Stadträtin Marielle Franco auf offener Straße in Rio de Janeiro erschüttern Brasilien in seinen Grundfesten. Besonders groß war das internationale Medieninteresse allerdings, als am 7. April 2018 ausgerechnet der mit dem Aufstieg Brasiliens assoziierte ehemalige Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva eine Haftstrafe von 12 Jahren und einem Monat antreten musste.
2018 werden neben dem Staatspräsidenten auch der Kongress sowie alle Gouverneure und Abgeordneten der Parlamente in den Bundesstaaten gewählt. Ein halbes Jahr vor der Wahl versäumt es die Politik jedoch weitgehend, der Wählerschaft ein konkretes politisches Angebot zu machen bzw. Lösungsvorschläge für diejenigen Probleme vorzulegen, welche die Bevölkerung am meisten umtreiben. Stattdessen sorgen sich die meisten Politiker nach wie vor und allem voran um ihre Absicherung gegenüber drohender Strafverfolgung. Auch die Judikative ist inzwischen auf dem besten Wege, ihre Autorität und Glaubwürdigkeit zu verspielen. Sie war bislang ein Stabilitätsanker und hatte sich vor allem um die konsequente Aufdeckung und Verfolgung des größten Korruptionsnetzwerkes Brasiliens – bekannt unter dem Namen Lava Jato (dt. Autowäsche) - verdient gemacht.
Die Judikative – Brasiliens Hoffnungsträgerin?
Dafür wird die dritte Gewalt von vielen Brasilianern, die die bisherigen Verhältnisse mehr als satt haben, nach wie vor als Heldin gefeiert. Auch aus dem Ausland erntet sie Anerkennung. Durch das mutige Auftreten der Lava-Jato-Task-Force wurden zahlreiche Politiker wie z.B. der ehemalige Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro, Sergio Cabral (MDB), strafrechtlich verfolgt, zu 87 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt und sogar verhaftet. In dem oben erwähnten Fall des ehemaligen Staatspräsidenten Lula gab die Justiz allerdings nur ein bedingt gutes Bild ab.
Entsprechend dem seit 2016 rechtlich üblichen Weg ist es Lula aus dem Gefängnis heraus möglich, weitere Rechtsmittel in dritter und vierter Instanz einzulegen. Einen trotz dieser gewöhnlichen Praxis durch die Verteidigung Lulas hervorgebrachten Antrag auf Haftverschonung hatte das Oberste Bundesgericht mit sechs zu fünf Stimmen am 4. April abgelehnt. Die Entscheidung leitet das Ende der Straffreiheit auf höchster Ebene ein und bedeutet eine wichtige Zäsur: Gesetze gelten jetzt offenbar gleichermaßen für einfache Bürger wie für ehemalige Präsidenten. Dies ist eigentlich eine gute Nachricht für den brasilianischen Rechtsstaat.
Bedauerlich ist allerdings, wie die Entscheidung des Obersten Bundesgerichts zustande kam. Der positiven Entscheidung waren mehrere stundenlange Schlammschlachten der höchsten Richter vorausgegangen, welche zur besten Sendezeit live im Fernsehen übertragen wurden. Statt durch rechtliche Argumentation und würdiges Verhalten glänzte die Mehrheit der elf Richter vor allem durch öffentlichkeitswirksame Selbstinszenierung und den respektlosen Umgang untereinander. Die Richter brüllten sich an und beleidigten sich vor laufenden Kameras.
Leider sind solche Auftritte kein Einzelfall, sondern nur die Spitze des Eisberges. Schon seit Jahren lässt sich in Brasilien die Tendenz beobachten, dass Oberste Richter in verschiedenen Fragen immer mehr einen öffentlichen Standpunkt einnehmen und dadurch Meinungsmacher sind; gleichzeitig rückt das Juristische in den Hintergrund. Von richterlicher Zurückhaltung ist wenig zu sehen. Darüber hinaus üben die Richter in aller Öffentlichkeit Kritik aneinander. So attestierte beispielsweise Richter Gilmar Mendes am Tag nach der Entscheidung zur Inhaftierung Lulas der Präsidentin des Bundesgerichts, Carmen Lucia, zur „Verschlechterung“ Brasiliens beizutragen. Artikel 36 III der Lei Orgânica da Magistratura Nacional verbietet es Richtern eigentlich, zu laufenden Verfahren öffentlich Stellung zu nehmen. Indem Oberste Richter als Meinungsmacher agieren und die Stimmung im Land weiter anheizen, wird die Würde der Judikative in Mitleidenschaft gezogen. Amt und Institution werden als persönliche Plattform instrumentalisiert. Durch ein solches Verhalten bringt sich die Judikative selbst in Misskredit. Die Anlässe und Beispiele sind zahlreich. 81% der Brasilianer zweifeln inzwischen an der Handlungsfähigkeit der Justiz.
Im Wettlauf mit der Zeit gegen die Exekutive
Die Justiz gerät auch in Misskredit, weil viele Brasilianer kein Verständnis dafür haben, dass viele andere korrupte Politiker noch immer auf freiem Fuß sind. Doch das könnte sich bald ändern. Bis zum 7. April mussten Mandatsträger der Exekutive ihr Amt niederlegen, um im Oktober für ein anderes politisches Amt kandidieren zu dürfen. Zehn der 29 Bundesminister und sechs der 27 Gouverneure auf Ebene der Bundesstaaten sind zurückgetreten und haben auf diese Weise die Vorzüge des foro privilegiado verloren, nach welchem sich nur höhere gerichtliche Instanzen der strafrechtlichen Untersuchung von Amtsträgern annehmen dürfen. Bis zum 1. Januar 2019 laufen sie nun mit der engagierten Task Force um die Wette. Erst dann würden sie bei erfolgter Wiederwahl erneut Zugang zum foro erlangen. Um ihre Wiederwahl bangen auch mindestens 23 Senatoren sowie unzählige Abgeordnete, denen andernfalls die Lava-Jato Ermittler dauerhaft im Nacken sitzen. Vor diesem Panorama rücken die politische Erneuerung sowie die Gestaltung von Inhalten in weite Ferne.
Nach der Amtsübernahme im August 2016 hat der bis dato Vize-Präsident Temer eine Reihe von unbeliebten Reformen durchgesetzt. Um das Haushaltsdefizit, das während der Regierungszeit der Arbeiterpartei (PT) auf über 10% gewachsen war, in den Griff zu bekommen, entließ die Regierung Temer Staatsbedienstete, erließ Privatisierungsprogramme und führte eine auf zwanzig Jahre angelegte Ausgabenobergrenze für Staatsausgaben ein. Um der hohen Arbeitslosigkeit von 13,1% zu begegnen und die Wettbewerbsfähigkeit Brasiliens zu erhöhen, setzte Temer im August 2017 eine umstrittene Arbeitsmarktreform durch. Weil seine erneute Kandidatur aufgrund illegaler Wahlkampffinanzierung 2014 lange so gut wie unmöglich schien und seine Beliebtheitswerte im unteren einstelligen Bereich liegen, galt er als der richtige Mann für unbeliebte Reformen. Seit Jahresbeginn lässt sich jedoch eine 180-Grad-Wende beobachten. Die Regierung macht mit populären Maßnahmen und Aktionismus zu Lasten dringend benötigter Reformen von sich reden.
Unmittelbar vor den entscheidenden Verhandlungen gab der Präsident Mitte Februar die für die Bekämpfung des Haushaltsdefizits zentrale Rentenreform auf, indem er infolge vermeintlich besonders gewaltsamer Karnevalstage im Bundesstaat Rio de Janeiro per Dekret eine Militärintervention bis Jahresende anordnete. Wenige Tage später schuf er ein neues Ministerium für öffentliche Sicherheit. Die Bundesintervention bedeutete das Ende der Rentenreform, weil die Verfassung Änderungen derselben während einer Intervention des Bundes in einem der 27 Gliedstaaten verbietet. Für die Reform der Rente wäre jedoch eine Verfassungsänderung nötig geworden. Hätte Temer das Militär durch den in der Vergangenheit üblichen Weg, durch die sogenannte Garantia da Lei e da Ordem (GLO), nach Rio de Janeiro geschickt, wäre eine Verfassungsänderung zur Verabschiedung der Reform weiterhin möglich gewesen. Warum hat der Präsident also nicht den Weg gewählt, mit dem sich beide Projekte – Rente und Intervention – hätten verbinden lassen? Die Antwort ist simpel: Der Präsident hätte sich auf kaum eine elegantere Art der aufgrund der fehlenden Mehrheit zum Scheitern verdammten Reform entledigen können. Durch diesen Schachzug konnte er die drohende Niederlage gesichtswahrend – doch zu Lasten des Haushaltsdefizits und somit des Landes - abwenden und gleichzeitig das populäre Thema Sicherheit besetzen. Die Wahl des medial sehr präsenten Rio de Janeiro als Einsatzort für das Militär, obwohl andere Bundesstaaten nochmals höhere Gewaltzahlen aufweisen, deutet darauf hin, dass der unbeliebte Präsident bessere Zustimmungswerte bei den Brasilianern sucht. Beobachter sagen dem 77-jährigen seit Anordnung der Intervention nach, er beabsichtige eine erneute Kandidatur für das Präsi-dentenamt. Auch ihn schützt vor den Er-mittlern nur seine Immunität.
Die Legislative spielt Bäumchen wechsle dich zum Zwecke des Machterhalts
Bewegung kam in den Kongress im März anlässlich der Janela (dt. Fenster). In die-sem Zeitfenster von 30 Tagen war es den Volksvertretern erlaubt, die Partei zu wechseln ohne dabei ihr Mandat zu verlieren. Der Parteiwechsel von Politikern stellt in Brasilien einen regel-rechten Handel dar. Dabei wird die Ware „Anzahl der Parteimitglieder“ gegen „finanzielle Unterstützung“ für die Kandidaten seitens der um die Mitglieder werbenden Parteien getauscht. Es kam mitunter zur Zahlung regelrechter Ablösesummen. Am meisten Zuwachs erhielten in diesem Jahr die konservativliberalen Democratas. Stellten sie vor der Janela noch 31 Abgeordnete, waren es danach 43. Die stärksten Nettoverluste verzeichneten Temers konservative MDB (Partido do Movimento Democrático do Brasil, bislang: PMDB) und die sozialdemokratische PSB (Partido Socialista Brasileiro). Insgesamt wechselten über 80 der 513 Abgeordneten, also rund 16%, die Partei. Die Motivation der Parteien bei der Werbung neuer Mitglieder folgt auch der Logik des Geldes: Je mehr Mitglieder eine Partei hat, desto mehr Geld steht ihr aus dem Wahl- und dem Parteifond zu. Je größer der finanzielle Spielraum, desto höher fällt die finanzielle Unterstützung einer Partei an ihre Kandidaten aus. Da es sich um die ersten nationalen Wahlen handelt, bei denen Firmenspenden an Parteien verboten sind, war die Janela für Parteien und Mitglieder in diesem Jahr von besonderer Bedeutung.
Die Praxis der Janela verdeutlicht eindrucksvoll, dass programmatische Grundsatzfragen nicht notwendigerweise an erster Stelle stehen und wie personenzentriert das demokratische System Brasiliens ist. Die Finanzierung des eigenen teuren Wahlkampfes zu sichern, der einen einzelnen Abgeordneten umgerechnet rund 600.000 Euro kosten kann, hat im Vergleich zu inhaltlichen Fragen häufig Priorität.
Fazit und Ausblick
Angesichts all dessen überrascht es kaum, dass gerade einmal 13% der Brasilianer mit der Demokratie zufrieden sind. Dies ist der niedrigste Wert in ganz Lateinamerika. Das Vertrauen der Brasilianer in die Institutionen Judikative, Exekutive und Legislative liegt bei 24%, 6% und 7%. Müde und desillusioniert von den täglichen Schlagzeilen über Korruption, Amtsmissbrauch, persönliche Vorteilsnahme und unwürdiges Verhalten sind die Brasilianer empfänglich für die Botschaften evangelikaler und populistischer Heilsversprecher. In den Umfragen für den ersten Wahlgang liegt der homophobe, frauenfeindliche und rassistische Evangelikale Jair Bolsonaro (Partido Social Liberal, PSL) mit 15% hinter dem inhaftierten Lula (31%) auf Platz zwei. Mit der Glorifizierung des Militärs ist Bolsonaro nicht allein. Fast 20% der Brasilianer würden einen Militär-streich den Wahlen im Oktober vor-ziehen. Das Militär genießt von allen Institutionen mit 56% das größte Vertrauen der Brasilianer.
Sowohl der erste als auch der zweite Wahlgang am 7. und 28. Oktober werden davon geprägt sein, ob der inhaftierte ehemalige Staatspräsident kandidieren darf. Neueste Umfragen sehen Bolsonaro im ersten Wahlgang mit 17% vor der ehemaligen Umweltministerin Marina Silva (15%), wenn Lula nicht antreten darf. Neben Lula ist Marina Silva die einzige Kandidatin, der Bolsonaro derzeit in einem zweiten Wahlgang unterlegen wäre. Hinter Bolsonaro und Silva liegen momentan Ciro Gomes von der PDT (Partido Democrático Trabalhista, dem linken Spektrum zuzuordnen) und der ehemalige Oberste Richter Joaquim Barbosa (PSB) mit jeweils 9%. Es folgt der Mitte-Kandidat Geraldo Alckmin von der PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira) mit 7%. Dies ist jedoch nicht mehr als eine Momentaufnahme. Bis zum 15. August müssen sich Kandidaten registrieren. Über die Zulässigkeit der Kandidatur entscheidet bis zum 17. September das Oberste Wahlgericht.
Evangelikale wie Bolsonaro inszenieren sich derweil weiter als Retter des Volkes. Dort, wo sich der Staat längst zurückgezogen hat, versprechen sie Besserung und nutzen somit das in den Armensiedlungen entstandene Vakuum zu ihren Gunsten. Doch auch über die Grenzen der Favelas hinaus „kümmern“ sie sich um die von der Elite vergessenen Brasilianer. Mit seinem Slogan im Wahlkampf 2016 ‚Es ist Zeit, sich um die Menschen zu kümmern‘ traf Marcelo Crivella, Bischof der Universellen Kirche des Königreichs Gottes, nach den sportlichen Großereignissen Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und Olympia 2016 den Nerv der Zeit. Viele Brasilianer fühlten sich von der Politik vergessen. Heute ist Crivella Bürgermeister von Rio de Janeiro, der zweitgrößten Stadt des Landes. Die Evangelikalen sind sehr gut organisiert, z.B. in der überparteilichen Fraktion Bancada Evangélica im Kongress. Bereits jetzt beeinflussen sie maßgeblich zahlreiche Lebensbereiche. Die Kürzung der finanziellen Unterstützung für Rios traditionsreiche Karnevalsvereine, die die Evangelikalen als Teufelswerk betrachten, die Beeinflussung von Lehr- und Bildungsplänen oder die wieder auf der Agenda stehende Debatte um ein absolutes Abtreibungsverbot zählen dazu.
Bereits bei den Kommunalwahlen 2016 traten landesweit 250 evangelikale Kandidaten für die Posten der Bürgermeister und Gemeinderäte an. Es ist wahrscheinlich, dass diese Zahl bei den Superwahlen im Herbst wachsen wird. Die drei Gewalten täten gut daran, ihre Problemlösungsfähigkeit in den zentralen Bereichen Sicherheit, Bildung und Gesundheit zu beweisen. Nicht zuletzt wären die Parteien des Zentrums gut beraten, sich zügig auf einen gemeinsamen Kandidaten zu verständigen, um die radikalen Ränder der größten Demokratie Südamerikas bei den Wahlen m öglichst klein zu halten.
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