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Länderberichte

Estland hat gewählt

von Marion Reckmann, Elisabeth Bauer

Wahlanalyse zu den Ergebnissen des Landes im Kontext der Europawahl 2019

Knapp zwölf Wochen nach den nationalen Parlamentswahlen hat Estland zum vierten Mal seit EU-Beitritt 2004 an der Wahl zum Europäischen Parlament teilgenommen. Am vergangenen Sonntag, den 26. Mai 2019 haben 37.6% der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Insbesondere die Reformpartei und die Sozialdemokraten gehen als Sieger hervor und der pro-europäische Kurs des Landes setzt sich trotz starken Rechtspopulisten fort. Die Wahlergebnisse unterscheiden sich allerdings in einigen Aspekten nicht nur von denen im März, sondern insbesondere von denen in anderen Regionen Europas.

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Die nationalen Ergebnisse im Überblick

Deutlicher Sieger der Wahl ist die Reformpartei (RE), die 26,2% der Stimmen erhalten hat. Diese wird zukünftig Andrus Ansip, bisheriger estnischer EU-Kommissar für den digitalen Binnenmarkt, sowie Urmas Paet als Mitglieder im Europäischen Parlament stellen. Beide schließen sich der liberalen Fraktion ALDE+R im Parlament an. Danach folgt mit 23,3% die Sozialdemokratische Partei (SDE), die ebenfalls zwei Mandate erhält. Die Zentrumspartei wurde von 14,4% gewählt und erhält ebenfalls wie die Estnische Konservative Volkspartei (EKRE), die 12,7% der Stimmen gewonnen hat, ein Mandat. Die Reformpartei hatte bereits bei den Parlamentswahlen im März dominiert, aber trotz Prognosen überrascht das starke Abschneiden der Sozialdemokraten. Die nationalen Oppositionellen gewinnen die Europawahl somit deutlich vor den regierenden Parteien.

Gewinner und Verlierer

Die Sozialdemokraten hatten bereits im Vorfeld der Wahl für viel Aufmerksamkeit gesorgt. So sind zum ersten Mal in der Geschichte Estlands mehr Frauen als Männer für die Partei angetreten. Ausschlaggebend für den Wahlerfolg war jedoch die Fokussierung auf die Spitzenkandidatin Marina Kaljurand, die von 2015 bis 2016 Außenministerin Estlands war. Mit mehr als 65.000 Stimmen hat Kaljurand deutlich die meisten Stimmen für sich gewinnen können und das drittbeste Ergebnis eingefahren, das jemals von einem Kandidaten bei Europawahlen in Estland erreicht worden ist. Das liegt unter anderem daran, dass sie viele Wechselwähler für sich mobilisieren konnte. Sven Mikser wird das zweite Mandat für die Partei ausüben, der sich nur knapp gegen seinen Kontrahenten und ehemaligen Europaabgeordneten Indrek Tarand durchsetzen konnte. Mikser gibt dafür seine Kandidatur um den Posten des Parteivorsitzes auf.

Deutlich zulegen konnte die rechtspopulistische Partei EKRE, die bei der Wahl vor fünf Jahren noch lediglich 4% der Stimmen erhalten hatte und nun einen Anstieg von mehr als 8 Prozentpunkten für sich verbuchen kann. Auch im Vergleich zu den Parlamentswahlen im März konnte die Partei erneut etwas zulegen. Zudem zieht mit Jaak Madison zum ersten Mal ein Abgeordneter für EKRE in das Europaparlament. Es steht noch nicht fest, welcher Fraktion sich Madison anschließen wird. Allerdings ist zu vermuten, dass er die euroskeptischen und populistischen Kräfte unterstützen wird.

Für die Regierungspartner zeichnet sich ein anderes Bild ab. Die Ergebnisse der Isamaa haben sich im Vergleich zur vergangenen Europa- und Parlamentswahl nur leicht verschlechtert. Zwar erhält die Partei 10,3% der Stimmen, verliert aber vorerst ihren Mandatsanspruch im Europäischen Parlament, welches in den letzten fünf Jahren von Tunne Kelam ausgeübt wurde. Auf der anderen Seite erhält die Zentrumspartei zwar ein Mandat und entsendet Yana Toom erneut in das EU-Parlament, muss aber herbe Verluste insgesamt hinnehmen. Vor allem für ihre Koalition mit EKRE wird die Partei von der Wählerschaft abgestraft. Insgesamt verliert sie acht Prozentpunkte im Vergleich zur Wahl von vor fünf Jahren. Parteivorsitzender und Ministerpräsident Jüri Ratas zeigt sich dennoch zufrieden mit dem Ergebnis. Allerdings zeigt sich der Frust der Wähler insbesondere im Stammwähler-Bezirk Ida-Viru (Nordosten). Dort hat die Partei lediglich 4.860 Stimmen erhalten, während es 2014 noch 11.646 waren. Dieses Gebiet ist zudem das einzige im Land, in dem die Wahlbeteiligung gesunken ist und zwar von 30% auf 24,3%. In allen anderen Teilen des Landes ist die Beteiligung leicht gestiegen. Am höchsten war sie mit 42.3% in der Hauptstadt Tallinn. Insgesamt liegt sie mit 37% knapp höher als bei der letzten Wahl (2014: 36%). Im Vergleich zu den anderen baltischen Staaten fällt auf, dass die Wahlbeteiligung zwar etwas höher als in Lettland war (33,6%), aber es deutliche Unterschiede zu Litauen gibt, wo 53% der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben haben.

Das Verfahren der Europawahl im Überblick

Weltweit ist die Europawahl mit rund 400 Millionen Wahlberechtigten die zweitgrößte demokratische Wahl nach Indien. Sie erstreckt sich daher über mehrere Tage. Als Erstes war die Bevölkerung in den Niederlanden bereits am Donnerstag, den 23. April, aufgerufen, ihre Stimmen abzugeben. Am nächsten Tag folgten die Tschechische Republik und Irland sowie am dritten Tag Lettland, Malta und die Slowakei. Die restlichen Mitgliedsstaaten wählten abschließend am Sonntag. Die Verkündung der europaweiten Ergebnisse folgte erst spät in der Nacht, da in Italien die Wahllokale bis 23 Uhr geöffnet hatten.

Jeder EU-Mitgliedsstaat erhält eine bestimmte Anzahl von Mandaten im Europäischen Parlament. Insgesamt gibt es dort 751 Sitze, die unter den Mitgliedsstaaten anhand der Bevölkerungsgröße aufgeteilt werden. Estland gehört gemeinsam mit Malta, Luxemburg und Zypern zu den Staaten, die mit sechs Mandaten zu der kleinsten Ländergruppe gehören, während Deutschland mit 96 Mandaten die meisten Abgeordneten entsenden darf. Mit Austritt Großbritanniens aus der EU wird es einige Veränderungen geben, da sich die Größe des Parlamentes auf 705 reduzieren wird. Estland wird infolgedessen ein Mandat mehr erhalten und künftig sieben Vertreter entsenden. Diesen Platz auf der sogenannten Warteliste nimmt Riho Terras, ehemaliger Kommandeur der Estnischen Verteidigungskräfte, ein. Als Vertreter der Isamaa wird er sich der Europäischen Volkspartei anschließen.

Anders als bei den nationalen Parlamentswahlen gibt es in Estland keine 5%-Hürde, um in das Parlament einziehen zu können. Entscheidend ist, ob der Stimmenanteil gemessen an den sechs (bzw. zukünftigen sieben) Mandaten ausreichend ist, um als Partei Anspruch auf einen Sitz zu erheben. Genau wie in Deutschland ist der Gang zur Urne freiwillig und es gibt keine Wahlpflicht. EU-Bürgerinnen und Bürger, die in Estland registriert sind oder wohnen, dürfen dort ebenfalls wählen gehen. 1.600 von diesen haben von dem Recht Gebrauch gemacht. Ein deutlicher Anteil der Stimmen, mehr als 155.000, wurden online mittels E-Voting-Verfahren abgegeben.

Zunehmende Fragmentierung des Europäischen Parlaments

Während in Deutschland und Nordeuropa die Klimapolitik das entscheidende Thema war und häufig die Grünen als Wahlsieger hervorgegangen sind, ist in Estland und vielen weiteren Ländern Osteuropas dies nicht der Fall. Viel eher stehen die Fragen nach wirtschaftlichen Vorteilen der EU für die Mitgliedsstaaten und die Flüchtlingspolitik im Vordergrund. Die Diversität aber auch die Zersplitterung Europas zeigt sich auch an der zunehmenden Fragmentierung des Europäischen Parlamentes.

Die Europäische Volkspartei (EVP) ist zwar weiterhin die größte Fraktion und stellt 180 Sitze im Parlament, aber muss deutliche Verluste hinnehmen. Dasselbe gilt für die Sozialdemokraten (S&D), die 146 Mandate erhält. Die liberale ALDE-Fraktion sowie die Grünen aber auch kleinere Gruppierungen und insbesondere euroskeptische Fraktionen haben deutlich zulegen können. In den Fraktionen sind nicht mehr die nationalen Verhältnisse wiedergespiegelt. Beispielsweise werden sowohl die beiden Abgeordneten der Reformpartei, Ansip und Paet, als auch Toom von der Zentrumspartei sich der ALDE-Fraktion im Europäischen Parlament anschließen und die estnischen Interessen vertreten.

Hintergrund: Innenpolitische Landschaft seit Parlamentswahlen turbulent

Innenpolitisch geht es seit den Parlamentswahlen vor knapp drei Monaten turbulent in Estland zu. Obwohl die Reformpartei am meisten Stimmen für sich gewinnen konnte, haben Gespräche zwischen Reform- und Zentrumspartei nicht zu erfolgreichen Koalitionsverhandlungen geführt. Auch der Versuch mit den Sozialdemokraten eine Minderheitsregierung zu stellen, ist nicht erfolgreich gewesen, sodass die Reformpartei als eigentlicher Wahlsieger, sich nun in der Opposition widerfindet. Stattdessen stellt ein Bündnis aus Zentrumspartei, EKRE und Isamaa die Regierung, das in vielen Teilen der Bevölkerung auf Enttäuschung stößt. Die Zusammenarbeit mit der rechtspopulistischen Kraft EKRE hat für viel Diskussion gesorgt. Der EKRE-Politiker Marti Kuusik musste seinen Ministerposten (Minister für IT und Außenhandel) aufgrund von Vorwürfen häuslicher Gewalt bereits einen Tag nach seiner Amtseinführung räumen. Seine lang gesuchte Nachfolgerin Kert Kingo irritierte bereits mit ihrem Versprechen, so wenig wie möglich ins Ausland zu fahren und dort nur die Gespräche nur auf Estnisch führen zu wollen.

Experten beobachten, dass die Europawahl zu nah an den nationalen Wahlen sei, um signifikante Veränderungen in den Wahlentscheidungen der Bevölkerung auf nationaler Ebene festzustellen. Dennoch habe die Europawahl traditionell einen anderen Stellenwert in der Bevölkerung und kann als Bewertung der aktuellen Politik dienen. Inwiefern sich die Wahlpräferenzen der Bevölkerung dauerhaft ändern, wird sich erst in zwei Jahren bei den anstehenden Regionalwahlen zeigen. Dennoch wurde die angespannte innenpolitische Lage auch von Seiten der Kandidaten versucht zu nutzen. Der Spitzenkandidat der Reformpartei Andrus Ansip hat beispielsweise während des Wahlkampfs ein Profil als Protestkandidat gepflegt, um von der Regierung enttäuschte Wähler für sich zu gewinnen.

Ausblick: Pro-europäischer Kurs im Kontext von erstarkten Rechtspopulisten

In diesem Jahr feiert Estland 15 Jahre EU-Mitgliedschaft. Ministerpräsident Jüri Ratas betont zwar, dass die politische Richtung des Landes weiterhin pro-Europa ist, aber wie auch andere Mitgliedsstaaten muss sich Estland mit starken rechtspopulistischen Kräften im Land auseinandersetzen. Insbesondere nun, da die rechtspopulistische EKRE sogar Teil der Regierung ist. Die konstante und in einigen Teilen erhöhte Wahlbeteiligung sowie das starke Abschneiden der pro-europäischen Kräfte zeigen jedoch, dass die estnische Bevölkerung weiterhin hinter der Mitgliedschaft in der EU steht.

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Gabriele Baumann

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Leiterin des Projekts Nordische Länder

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