Countdown zu den Europawahlen
Die proeuropäische Opposition setzt auf ein parteiübergreifendes Bündnis, die sog. Europäische Koalition (KE), und präsentiert ihr Programm unter dem Motto „Polens Zukunft – Die große Wahl“ als Ausweg aus dem Dauerkonflikt zwischen Warschau und Brüssel. Das Regierungslager, vertreten durch die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), wiederum hat vor dem Hintergrund ihres Images als europaskeptische Partei und des anhaltenden Konflikts mit der Europäischen Kommission über die Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedsstaat (laufendes Verfahren nach Art. 7 EUV gegen Polen) eine rhetorische Wende vollzogen. Sie hat ihre Zuneigung zur EU entdeckt: „Polen das Herz Europas“ lautet das Leitmotiv ihrer Kampagne. Die PiS hat zu Recht erkannt, dass ein erfolgreicher Wahlkampf nicht „gegen Europa“ geführt werden kann: Die polnische Gesellschaft ist proeuropäisch (ca. 80%) und die Mehrheit der Polen geben an, dass die Mitgliedschaft in der EU dem Land vor allem Vorteile gebracht habe.
Dennoch ist die Beteiligung der Polen bei Wahlen traditionell gering (und generell niedriger als in Deutschland), wovon die Europawahlen die bisher niedrigsten Quoten aufwiesen. In den drei vorherigen EP-Wahlen lagen diese stets unter 25%, lediglich in Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohnern war die Beteiligung mit 33% vergleichsweise stark. Das Mobilisierungspotential ist somit immens und alle Lager setzen vor allem darauf, die Nichtwähler zu mobilisieren. Dieser Versuch, die potentielle, aber auch eigene Wählerschaft jeweils für sich zu gewinnen hat unter anderem zur Folge, dass die Kampagnen von nationalen Themen dominiert werden, da sie den Wählern näher liegen. Zudem werden sie als Testlauf vor den Parlamentswahlen wenige Monate später gesehen.
Die Kernbotschaften der PiS im Überblick
Stärkste Kraft ist Umfragen gemäß die national-konservative Regierungspartei PiS, die sich mit ca. 40% konstant an der Spitze hält und seit 2015 die absolute Mehrheit im Sejm besitzt. Direkt nach den Selbstverwaltungswahlen im Vorjahr eröffnete sie ihre Kampagne: Unter dem o.g. Motto „Polen das Herz Europas“ präsentierte Premierminister Mateusz Morawiecki seine drei Schwerpunkte, die eine Anhebung („Europäisierung“) des Lebensstandards, die Angleichung des Durchschnittslohns an das westeuropäische Lohnniveau und eine
wirtschaftliche Modernisierung Polens versprechen. Damit richtet sich die PiS gezielt an die Mittelschicht – eine Wählergruppe, die eher liberalen Parteien wie die Bürgerplattform (PO) oder Nowoczesna (N) zuneigt und die hohen Sozialausgaben der aktuellen Regierung mit Skepsis betrachtet. Das Programm garantiere eine gerechte soziale Entwicklung und unterstreiche, dass die Regierung das gesamte Land vertrete, so der Premierminister auf dem Parteitag im Dezember. Mit der PiS sei die erste Regierung nach der politischen und wirtschaftlichen Wende an der Macht, die alle Polen an der guten Wirtschaftslage teilhaben lasse.
So setzt die PiS auch auf die Ausweitung der Sozialprogramme: Im Frühjahr dieses Jahres wurden die drei Pfeiler durch die sogenannten „Fünf Punkte Kaczynskis“ ergänzt. Dieses Programm, das Schätzungen zufolge den Haushalt mit 43 Mrd. PLN / 10 Mrd. €zusätzlich belasten soll, umfasst umfangreiche soziale Vorhaben. Damit sollen die 2015 eingeführten populären Maßnahmen ergänzt und die Kernwähler der PiS angesprochen werden. Die fünf Punkte enthalten: eine Ausweitung des Kindergelds (Eltern sollen bereits ab dem ersten Kind einen Zuschuss von 500PLN / 120€ erhalten), die Steuerbefreiung junger Arbeitnehmer bis zum 26. Lebensjahr, die Absenkung der Lohnsteuer für Geringverdiener, die Auszahlung einer einmaligen Zusatzrente für alle Rentenempfänger im Mai sowie der Ausbau des Nahverkehrs auf dem Land. Ob die PiS damit neue Wählergruppen für sich gewinnen kann, ist fraglich. Auch die Finanzierbarkeit der Mehrausgaben wird von Analysten bezweifelt. Zusätzlich besteht die Gefahr, dass sich das Defizit der öffentlichen Kasse in den Jahren 2020-24 auf etwa drei Prozent belaufen und somit gegen die Maastricht-Kriterien verstoßen könnte.
Zudem sieht sich die Regierung weiteren Forderungen ausgesetzt, denn zunehmend wollen weitere Gruppen ebenfalls von staatlichen Programmen berücksichtigt werden: 2018 besetzten Eltern von Kindern mit Behinderungen den Sejm und forderten Zuschüsse, um die Pflege ihrer Angehörigen gewährleisten zu können. Im März und April 2019 blockierte die Bauerngewerkschaft AgroUnia für jeweils einen halben Tag den Verkehr in Warschau und verlangte, dass die Regierung die Landwirte mit interventionistischen Maßnahmen wirtschaftlich stärke. Damit geriet die Regierung durch Mitglieder ihrer Kernwählerschaft unter Druck. Gleichzeitig streikten im April 70% aller öffentlich geführten Grundschulen und Gymnasien für drei Wochen, um höhere Löhne für Lehrer und Schulpersonal zu erwirken. Darüber hinaus macht ein Enthüllungsfilm über Kindesmissbrauch und Pädophilie in der Katholischen Kirche derzeit enorme Schlagzeilen: Der Film wurde millionenfach gesehen und zeigt, wie straffällig gewordene und verurteilte Priester von der Kirche über Jahrzehnte gedeckt worden sind. Doch der Schatten, der dadurch auf die Kirche fällt, hat die eng mit der katholischen Kirche verbundene PiS bisher nicht erreicht.
All dies scheint der Popularität der PiS jedenfalls nichts anhaben zu können – im Gegenteil, aller Proteste und Imageschäden ungeachtet bleibt sie in Umfragen führend.
Im Europäischen Parlament gehört die PiS in der aktuellen Legislaturperiode der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) an und könnte mit etwa 20 bis 24 Sitzen rechnen. Bei den Wahlen am kommenden Sonntag werden zwei Faktoren entscheidend sein: Erstens, ob sie in der Lage sein wird, mit dem auf nationale Themen fokussierten Wahlkampf ihre Kernwähler sowie neue Wählergruppen zu mobilisieren. Zweitens muss sie sich dem Vorwurf stellen, die Rolle Polens innerhalb der EU geschwächt zu haben – ein Punkt, der bei Europawahlen naturgemäß nicht unerheblich ist. Denn immerhin 42% der Polen sind der Meinung, dass die konfrontative Politik in Brüssel der Position ihres Landes geschadet habe und nur 27% können eine positive EU-Politik der PiS erkennen. Bei den Selbstverwaltungswahlen griff der Vorwurf des „Polexits“ noch als Warnung der Opposition an die Wähler. Doch der aktuelle Wahlkampf der PiS zeigt, dass sie daraus gelernt hat: So präsentiert sie sich nun offen für Europa und als leuchtendes Vorbild, dem „alle Länder der EU“ folgten und das „ganz Europa inspiriere“ – mit der Absicht, Polen unter PiS als Führungsmacht innerhalb der EU zu positionieren.
Gemeinsam für Europa – die Europäische Koalition
Die Opposition hingegen hält in ihrer Wahlkampagne am Image der PiS als „Polexit“-Partei fest und erklärte den 26. Mai gar zu einem zweiten Referendum über Polens EU-Mitgliedschaft, mit dem Vorwurf, dass die PiS das Land in der EU marginalisiere. Im Gegenzug richtet sie den Fokus mehr auf gesamteuropäische Themen, die für eine stärkere Integration Polens in die EU stehen. Um der PiS das Wasser abzugraben, hat sie sich zu einem parteienübergreifenden Bündnis unter dem Namen „Europäische Koalition“ (Koalicja Europejska, KE) zusammengeschlossen, das aus folgenden Parteien besteht: der Bürgerplattform (PO), der Bauernpartei (PSL), der Sozialdemokarten (SLD), der Nowoczesna und der Grünen. Die Koalition soll einen Synergieeffekt erzeugen, um bei der proportionalen Mandatsverteilung ein besseres Ergebnis zu ermöglichen. Abgesehen von der von allen geteilten Ablehnung der PiS und der dezidiert pro-europäischen Haltung ist dies das einzige verbindende Element – der pragmatische Ansatz, gemeinsam mehr Stimmen zu erzielen, und nicht eine gemeinsame, ideologische oder geteilte weltanschauliche Motivation. Die formelle Zusammenarbeit begann am 1. Februar 2019 mit der Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklärung. Der stärkste Partner in der Koalition ist die PO, deren Mitglieder landesweit 77 von 130 Plätzen der Wahllisten einnehmen.
Das gemeinsame Wahlprogramm der KE ist thematisch breit wie allgemein formuliert und wurde in 10 Punkten zusammengefasst, von denen der wichtigste die Betonung der führenden Rolle Polens innerhalb der EU ist. Die weiteren Punkte beziehen sich auf die Umsetzung gemeinsamer europäischer Initiativen im Bereich der Energie-, Umwelt- und Sicherheitspolitik, der Gesundheitsvorsorge (insbesondere in der Vorbeugung und Behandlung von Krebserkrankungen), die Stärkung der polnischen Landwirtschaft im Rahmen der EU sowie die Verbesserung von Job-Chancen junger Menschen und der Infrastruktur des Personenverkehrs.
Die üppigen Sozialversprechen der Regierung setzt die Opposition unter Druck, hier nachzuziehen, obwohl sie bisher zur fiskalischen Zurückhaltung mahnte und die hohen Zusatzposten im Haushalt als nicht finanzierbar kritisierte. Letztendlich bekannten sich die PO und andere Oppositionsparteien zur Beibehaltung der Sozialprogramme und der PO Vorsitzende, Grzegorz Schetyna, machte die Anhebung des Lebensstandards in Polen zu einem seiner Hauptziele für das Jahr 2019.
Ob diese Zusicherung in den Augen der Wählerschaft als glaubwürdig erscheint, ist offen. Auch das in der Vergangenheit wichtigste Argument für die Opposition, die guten Beziehungen zu den europäischen Nachbarn zu pflegen und Polen im Zentrum der EU zu verankern, wird in den Umfragen bisher nicht honoriert. Derzeit erhält die vereinigte, proeuropäische Koalition 36%. Damit liegt die KE zwar nicht weit von der PiS, doch als parteiübergreifendes Bündnis wird sich diese relative Stärke nicht im Europäischen Parlament widerspiegeln, denn die Kandidaten werden sich in unterschiedlichen Fraktionen wiederfinden. Prognosen zeigen, dass die KE mit ähnlich vielen Sitzen rechnen kann, wie die PiS, die sich jedoch auf drei oder vier Fraktionen verteilen können. Stärkste Kraft mit wahrscheinlich mehr als zehn Mandaten könnten die Vertreter der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) PO und PSL werden, gefolgt vom Bündnis der Demokratischen Linken (SLD), die Mitglied der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament sind. Ob die Grünen (Die Grünen/Europäische Freie Allianz) oder die Nowoczesna (Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, ALDE) ein Mandat erringen, ist nicht vorhersehbar.
Wie für die PiS wird auch für die KE am Sonntag entscheidend sein, ihre Wähler zu mobilisieren. Eine Kundgebung der KE mit Donald Tusk am 18. Mai, vermochte nach Schätzungen des Warschauer Rathauses etwa 45.000 Personen auf die Straße zu bringen (die Polizei gab allerdings nur 7.000 Teilnehmer an). Für die zweite Jahreshälfte – und somit die nationalen Parlamentswahlen – wird zudem von Bedeutung sein, ob es die KE und ihre Mitglieder schaffen, positive Programme und Inhalte zu entwickeln, die über eine Anti-
Haltung gegenüber der PiS hinausgehen. Ebenso wird es wichtig sein, Einigkeit zu signalisieren und sich nicht untereinander zu bekämpfen – ist doch die Schwäche und Zerstrittenheit der Opposition eine der bisher größten Stärken der PiS gewesen.
Neue Herausforderer
Doch auch neue Bündnisse und Parteigründungen treten an. Die medial größte Aufmerksamkeit hat Wiosna (der Frühling) erfahren – eine progressive, links-liberale und pro-europäische politische Partei in Polen, die im Februar 2019 vom ehemaligen Bürgermeister von Słupsk, Robert Biedroń, gegründet worden ist. Die Partei ist eine neuartige Erscheinung auf der polnischen politischen Bühne und besetzt eine Lücke, die im linken Spektrum nach den Parlamentswahlen 2015 entstanden ist. In Umfragen liegt sie bei ca. 8%. Ihr Erfolg liegt in der Betonung eines „dritten Weges“, nach dem Biedroń erklärtermaßen sucht, mit dem er sich über die Spaltung von Politik und Gesellschaft in PiS und anti-PiS hinwegsetzen und den innerpolnischen Graben überbrücken möchte. In der Bevölkerung, der Polarisierungen müde, scheint dies einen Anklang zu finden, dem auch die offen gelebte Homosexualität des Parteivorsitzenden im diesbezüglich überwiegend konservativ-katholischen Land keinen Abbruch tut.
Im Frühjahr 2019 stellte die Partei ein eigenes Wahlkomitee für die Europawahlen auf, obwohl Publizisten und Oppositionspolitiker (u.a. Grzegorz Schetyna) erwarteten, sie würde sich der Europäischen Koalition anschließen. Wiosna jedoch nutzt die Europawahl, um sich als selbstständiger politischer Akteur zu profilieren und als Testballon für die Parlamentswahlen im Oktober. Welcher Fraktion sich Wiosna im Europäischen Parlament anschließen wird, ließ der Parteivorsitzende offen. Ins Spiel brachte er die Liberalen, Sozialdemokraten und die Grünen. Während des Wahlkampfs deklarierte er zudem, Frans Timmermans (SPE) als Kandidaten für den Vorsitz der Europäischen Kommission zu unterstützen. Timmermans selbst war bereits drei Mal in Polen und unterstützte mit seinen Auftritten den Wahlkampf von Wiosna. Das Leitthema der gemeinsamen Pressekonferenzen war die Frage der Rechtsstaatlichkeit in Polen.
Als Antwort auf die Europäische Koalition schloss sich das euroskeptische Wahlbündnis Konfederacja (Konföderation) im Frühjahr zusammen. Diese Koalition besteht aus populistischen Parteien und schillernden Persönlichkeiten, die unterschiedliche Milieus vertreten. Populärstes Mitglied ist Janusz Korwin-Mikke, MdEP. Das Bündnis vereinigt libertäre, nationalistische, monarchistische und ultrareligiöse Strömungen und zieht überwiegend junge, männliche Wähler und Wechselwähler an. Neuesten Umfragen gemäß könnte die Konfederacja die 5%-Hürde überschreiten. Sollte dieser Fall eintreten, würde sie vor allem der PiS Stimmen streitig machen.
Beide neuen Gründungen, die links-progressive Wiosna und die rechtsextreme Koalition Konfederacja, die von bis zu einem Fünftel der Wähler als Alternative zu den großen Parteien oder Bündnissen wahrgenommen werden, könnten entscheidend auf das Ergebnis der PiS und KE einwirken, wenn sie jeweils einige Mandate erringen. Sie gelten als unverbraucht, wobei die Erfahrung in Polen zeigt, dass neue Kräfte oftmals sehr kurzlebig sind und das politische Geschehen im Land oder der EU kaum prägend mitbestimmen.
Entscheidungsfaktor Wahlbeteiligung
Für alle Parteien bleibt festzustellen: Die diesjährige Europawahl wird als Schicksalswahl mit Signalwirkung verstanden. Und alle haben aufgerüstet - nicht nur rhetorisch, sondern auch personell: Anders als in Deutschland gibt es in Polen keine geschlossenen nationalen Listen und die 52 Mandate, die polnischen Abgeordneten im Europäischen Parlament nach dem Brexit (bisher 51) zustehen, werden über offene regionale Listen per Verhältniswahlen ermittelt. Die Erstplatzierten in den 13 regionalen Wahlkreisen, die sogenannten Jedynki (Einser), nehmen vor Ort so etwas wie die Rolle des Spitzenkandidaten ein. Es verwundert daher nicht, dass die beiden großen Herausforderer ehemalige Premierminister, Minister oder Prominente und Personen des öffentlichen Lebens nominiert haben. Sie sollen das Gesicht der Parteien vor Ort sein und als Lokomotiven die Wählerschaft hinter sich vereinen.
Doch wer sich am Sonntag behaupten wird, hängt von der Wahlbeteiligung ab. In Umfragen deutet sich an, dass diese Rekordwerte erreichen und die beiden größten Listen, PiS und KE, sich bis zum Schluss ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern könnten.
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