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REUTERS/Ricardo Moraes

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Die Corona-Krise in Brasilien

нь Anja Czymmeck, Kevin Oswald

Von der „gripezinha“ zur Katastrophe?

Während Staatspräsident Jair Bolsonaro ein schwaches Krisenmanagement zum politischen Verhängnis werden könnte, wächst im bevölkerungsreichsten Land Lateinamerikas die Angst vor dem wirtschaftlichen Kollaps und schweren sozialen Verwerfungen. Trotz Gerüchten über eine Entmachtung des Präsidenten hinter den Kulissen ist er jedoch noch im Amt und genießt in weiten Teilen der Bevölkerung Rückhalt.

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Lange hatte Jair Messias Bolsonaro die Covid-19-Pandemie verharmlost und das neuartige Corona-Virus als „kleine Grippe“ heruntergespielt. Obwohl der brasilianische Präsident angesichts rapide steigender Infektionszahlen (13.717 Infizierte, 667 Tote, Stand 08.04.2020) inzwischen eingelenkt hat und unlängst von der „größten Herausforderung unserer Generation“ sprach, wächst der Druck auf den seit über einem Jahr amtierenden Bolsonaro.              

Insbesondere in den bevölkerungsreichen und wirtschaftsstarken Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro, die besonders viele Krankheits- und die Mehrzahl der knapp 700 Todesfälle im Land zu verzeichnen haben, bricht sich der Unmut der Bevölkerung seit Mitte März Bahn. Dieser zeigt sich, wenn sich abends Menschen auf ihren Balkonen versammeln, um mit den in Lateinamerika typischen „panelaços“, also dem lautstarken Aufeinanderschlagen von Pfannen und Töpfen, ihrem Protest gegen das aus ihrer Sicht mangelhafte Krisenmanagement des Präsidenten Ausdruck zu verleihen – trotz verhängter Ausgangsbeschränkungen.

Eben solche hatten die Gouverneure der meisten brasilianischen Bundesstaaten zum Schutz der Bevölkerung nämlich bereits nach Bekanntwerden der ersten aus Europa importierten Covid-19-Fälle verhängt und sich damit über die Anweisungen aus Brasilia hinweggesetzt. Die offene Illoyalität der einflussreichen Gouverneure scheint Bolsonaro nun ebenso zuzusetzen wie der schwelende Streit mit seinem Gesundheitsminister. Luis Henrique Mandetta, von Beruf Arzt und der Partei Democratas zugehörig, warnte vor einem potentiellen Zusammenbruch des brasilianischen Gesundheitssystems Ende April und gilt als Verfechter konsequenter Isolationsmaßnahmen.

Bolsonaro widersprach den Warnungen des Gesundheitsministers und verspottete diesen wie auch die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation. Mandetta stellte sich daraufhin öffentlich gegen den Präsidenten und gewann den internen Machtkampf. Bolsonaro hat die Drohung, ihn zu entlassen, vorerst nicht wahrgemacht. Brasilianische Medien berichten, dass sich die Militärs im Kabinett Bolsonaro ebenso wie einflussreiche Minister in Person von Sergio Moro (Justiz) und Paulo Guedes (Wirtschaft) sowie Vizepräsident Hamilton Mourao auf Mandettas Seite stellten. 

Trotz alledem ist es verfrüht zu sagen, dass Bolsonaro dadurch vollständig isoliert sei. Sein Lager könnte beispielsweise wieder Auftrieb erhalten, wenn die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie in dem krisengeplagten Land durchschlagen und vor allem die zahlenmäßig große Masse der Bevölkerung treffen, die ohne nennenswerte Rücklagen auf tägliche Einnahmen dringend angewiesen ist. So verweisen diverse Statistiken darauf, dass bis zu 40 % der erwerbstätigen Brasilianer informell beschäftigt sind, d. h. weder einen Arbeitsvertrag haben noch über irgendeine Form sozialer Absicherung verfügen. Trotz zugesagter staatlicher Unterstützung von 600 Reais pro Monat, die in dieser Woche angelaufen ist, wäre eine Verlängerung des „lockdown“ für sie möglicherweise ebenso fatal wie eine massive Ausbreitung des Virus. Dies gilt ganz besonders für die dicht besiedelten Armenviertel der brasilianischen Millionenstädte, wo das Virus sich jetzt in besorgniserregender Weise verbreitet und die Menschen keine Möglichkeit haben, sich in ihrer prekären Wohnsituation davor zu schützen.

 

Bolsonaro als Corona-Leugner


Seit dem Bekanntwerden der ersten Fälle außerhalb Chinas hatte Brasiliens Staatspräsident die Epidemie konsequent kleingeredet und die weltweit getroffenen Maßnahmen als Hysterie bezeichnet. So lag er auch auf einer Linie mit Donald Trump, den Bolsonaro am ersten Märzwochenende mit einer Delegation in Mar-a-Lago, Florida besuchte. Nur wenige Tage später wurde jedoch bekannt, dass Bolsonaros Kommunikationssekretär, Fabio Wajngarten, positiv auf das Covid-19-Virus getestet worden war. Doch Bolsonaro blieb seiner Linie weiterhin treu: Nachdem sein Sohn eine angebliche Infektion des Präsidenten dementiert und die für die Falschmeldung verantwortlichen Medien heftig attackiert hatte, zeigte sich auch Bolsonaro kurz darauf wieder in der Öffentlichkeit. Am 15. März schüttelte der Präsident die Hände von Hunderten seiner Anhänger, welche vor dem Palácio do Planalto gegen den Kongress demonstrierten.

Als „Attentat auf die öffentliche Gesundheit“ bezeichnete Rodrigo Maia, der Präsident eben jenes Kongresses, das sorg- und verantwortungslose Verhalten, welches insbesondere auch in São Paulo für Unverständnis sorgte. Bereits am 26. Februar war dort vonseiten des brasilianischen Gesundheitsministeriums der erste Coronavirus-Fall in Brasilien und damit in Südamerika gemeldet worden. Es handelte sich um einen 61-jährigen Mann, der sich bei einem Europa-Aufenthalt in der stark betroffenen Lombardei angesteckt haben soll. Bis Mitte März waren die Fallzahlen in Brasilien bereits auf etwa 200 angestiegen, wobei der Bundesstaat São Paulo am stärksten betroffen war und bis heute das Zentrum der Epidemie in Brasilien ist. Jetzt melden die brasilianischen Medien kontinuierliche Steigerungen der Fallzahlen, in der vergangenen Woche sogar um 290 %. Ein Abklingen der Epidemie scheint noch lange nicht in Sicht, ganz im Gegenteil.

 

Maßnahmen der Bundesstaaten



Trotz der Haltung des Präsidenten ergriffen die Bundesstaaten sehr schnell graduell restriktive Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. In Städten wie São Paulo und Rio de Janeiro sowie dem Distrito Federal kam das öffentliche Leben binnen weniger Tage quasi zum Erliegen. Kindergärten, Schulen und Universitäten wurden geschlossen, Veranstaltungen abgesagt, Restaurants und Cafés dürfen seitdem nur noch liefern. Zudem weisen die Gouverneure die Bevölkerung an, „isolamento social“ (soziale Isolation) als Gebot der Stunde ernst zu nehmen, Menschenansammlungen zu vermeiden und sofern möglich auf Telearbeit umzustellen. Polizisten kontrollieren die Einhaltung der Vorgaben und patrouillieren gar auf der weltberühmten Flaniermeile Copacabana, deren Strände mittlerweile nahezu komplett verwaist sind.              

Am 27. bzw. 30. März erfolgten in São Paulo und Rio de Janeiro abermalige Verschärfungen der Ausgangsbeschränkungen, welche vorerst bis Ostern gelten sollen. Bis zum 13. April sind die Bewohner der beiden Metropolen dazu verpflichtet, zu Hause zu bleiben. Außerdem haben lediglich Lebensmittelläden und Apotheken weiterhin geöffnet, alle nicht essentiellen Geschäftsaktivitäten wurden eingestellt. In Rio de Janeiro meldeten Radiosender, dass mithilfe von Telefonanbietern über Handydaten die Einhaltung des Versammlungsverbots überwacht werden soll.

 

Kehrtwende Bolsonaros und wirtschaftliche Unterstützungsmaßnahmen der Regierung



Angesichts zunehmender Kritik am laxen Krisenmanagement und sinkender Zustimmungswerte im Vergleich zu den entschlossen handelnden Gouverneuren und Bürgermeistern, aber auch um die sich abzeichnenden wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzufedern, erfolgte in der letzten Märzwoche schließlich die Kehrtwende der Regierung Bolsonaro. Erst am 19. März und damit deutlich später als in anderen Staaten Lateinamerikas war von Brasilia ein Einreisestopp für Bürger besonders von der Epidemie betroffener Länder wie Italien, Deutschland, China, Japan und Südkorea verhängt worden. Die Schließung aller Landgrenzen zu den Nachbarländern folgte wenig später.

Wirtschaftsminister Paulo Guedes verkündete ein Hilfspaket für die brasilianische Wirtschaft in Höhe von 40 Milliarden Reais (etwa 7 Milliarden Euro). Kleine und mittlere Unternehmen sollen während der Krise auf Entlassungen verzichten, im Gegenzug will die Regierung mit Krediten helfen, mindestens zwei Monatslöhne von über 10 Millionen Beschäftigten der betroffenen Firmen zu bezahlen. Freiberufler erhalten nun eine Art Notfallgeld in Form einer Einmalzahlung von 600 Reais. Auch das brasilianische Gesundheitssystem soll eine Finanzspritze in Milliardenhöhe erhalten.

 

Drohende Überlastung des brasilianischen Gesundheitssystems



Nach wie vor droht eine Überlastung des brasilianischen Gesundheitssystems, da davon auszugehen ist, dass Brasilien im Vergleich zu Deutschland und anderen europäischen Ländern bezüglich der Ausbreitungsentwicklung von Covid-19 einige Wochen hinterher ist. Zudem vermuten Experten angesichts geringer Testkapazitäten eine hohe Dunkelziffer an Infizierten. Da die brasilianische Bevölkerung sehr jung ist, wird auch vermutet, dass der Krankheitsverlauf bei vielen Patienten als eher mild einzustufen ist und das Virus in manchen Fällen sogar gänzlich unerkannt bleibt. Dafür spricht der sprunghafte Anstieg der Neuinfektionen in den letzten Tagen.

Spätestens nachdem vor gut einer Woche der erste Corona-Fall in einer Favela – der Cidade de Deus in Rio de Janeiro – bekannt wurde, gilt die massenhafte Ausbreitung des Virus in den dicht besiedelten Armenvierteln als Schreckensszenario. Allein in Rio gibt es über hundert Favelas mit prekären Hygienebedingungen und teils nicht vorhandener Gesundheitsversorgung. Die Überwachung der strikten Isolationsmaßnahmen übernehmen in diesen keineswegs regelfreien Räumen nun nicht Polizei und Militär, sondern vielmehr Drogenbosse und Gangs.

Auch von staatlicher Seite aus werden mittlerweile alle Ressourcen mobilisiert, um sich für den bevorstehenden Höhepunkt der Pandemie zu wappnen. Insbesondere die Arbeit des Gesundheitsministeriums unter Leitung des Arztes Luis Henrique Mandetta ist hierbei hervorzuheben, ebenso wie schnelle und unbürokratische Maßnahmen der Städte und Bundesstaaten. So wurde das Pacaembu-Stadion in Sao Paulo innerhalb weniger Tage in ein Feldlazarett mit 2000 Betten umfunktioniert. Und auch in Rio bereitet man sich auf das Schlimmste vor, dort wurden bereits Behandlungszelte im berühmten Maracanã -Stadion aufgebaut und auch das Sambodrom könnte in naher Zukunft als Not-Hospital fungieren.

 

Auswirkungen auf Wirtschaft und Staatshaushalt


Am Beispiel Rio de Janeiros wird aber auch deutlich, was Brasilien an wirtschaftlichen Corona-Schäden noch ins Haus stehen könnte. Die Verantwortlichen befürchten aufgrund der Abhängigkeit der Stadt von den von der Pandemie am meisten betroffenen Wirtschaftssektoren Tourismus, Handel und Ölförderung einen beispiellosen Wirtschaftseinbruch.

Erschwerend hinzu kommt für Brasilien, dass sich die in den letzten Jahren rasant gestiegene Abhängigkeit von Importen aus China nun als folgenschwer erweist. Der Produktionsrückgang im Reich der Mitte zu Jahresbeginn hatte der mit Lieferengpässen konfrontierten brasilianischen Industrie bereits zu Beginn der weltweiten Pandemiewelle zugesetzt, mit der raschen Ausbreitung der Krankheit im Land selbst scheint die Rezession nun unausweichlich.

Problematisch ist auch, dass Investoren auf globaler Ebene Geldsummen in bisher ungekanntem Ausmaß aus Schwellenländern abziehen, was innerhalb weniger Wochen zu einer massiven Abwertung der brasilianischen Landeswährung Real geführt hat. Seit Jahresbeginn hat der Real einen über 20%-igen Wertverlust zum Euro zu verzeichnen und steht nun bei einem Allzeittief von 5,70 Reais als Gegenwert zu einem Euro. Nicht wenige fürchten, dass die Folgen der Gesundheitskrise somit auch als Brandbeschleuniger Brasiliens auf dem Weg in die Überschuldung wirken könnten.

 

Fazit und Ausblick

 

Während das Ausmaß der Corona-Krise für Brasilien noch gar nicht abzusehen ist und ein potentieller Kollaps des Gesundheitssektors als unsichtbares Damokles-Schwert über dem Land schwebt, stellt sich bereits jetzt die Frage, wie dramatisch die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie sein werden. Bereits jetzt gibt ein Viertel der Brasilianer an, sich nicht an die Ausgangsbeschränkungen zu halten, wobei aufgrund der weit verbreiteten informellen Arbeit davon auszugehen ist, dass dies oft aus schierer Not heraus geschieht. 76 % befürworten – Stand jetzt – die Isolationsmaßnahmen, doch die Stimmung könnte bei wachsender wirtschaftlicher Not schnell kippen.

Präsident Bolsonaro scheint durch sein verspätetes und bisher schwaches Krisenmanagement sowie die Alleingänge der Bundesstaaten angeschlagen, wohingegen sich Gouverneure wie João Doria (São Paulo) und Wilson Witzel (Rio de Janeiro) steigender Beliebtheitswerte erfreuen können. Gleichzeitig sprechen sich laut einer aktuellen Umfrage von Datafolha lediglich 37 % der Befragten für einen Rücktritt des Präsidenten aus, wohingegen eine knappe Mehrheit von 52 % der Meinung ist, dass Bolsonaro alle Voraussetzungen erfüllt, um die Regierungsgeschäfte und somit das Land durch die Corona-Krise zu führen. So die Umfragen der letzten Tage, aber ob dies tatsächlich so bleibt, wird sich in den nächsten Wochen zeigen.

In den letzten Tagen machte in lateinamerikanischen Medien das Gerücht die Runde, dass es bereits eine Entmachtung des Präsidenten durch die Militärs gegeben habe und diese den Stabschef General Walter Souza Braga Netto als „operationalen Präsidenten“ eingesetzt haben. Fest steht, dass Bolsonaro in den ersten Monaten seiner Amtszeit und in dieser aktuellen Krise viele Fehler begangen hat, die ihm zum Verhängnis werden könnten. Noch ist der Präsident jedoch im Amt und genießt in weiten Teilen der Bevölkerung Rückhalt.

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Anja Czymmeck

Anja Czymmeck

Leiterin des Auslandsbüros Frankreich

anja.czymmeck@kas.de +33 156 69 15 00

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