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Bücher ohne Messe

de Prof. Dr. Michael Braun

Neue Bücher der KAS-Literaturpreisträger

Die Corona-Situation bestimmt die literarische Welt. Die Frankfurter Herbstbuchmesse ist verzwergt, der größte Teil findet in digitalen Lese-Formaten und in B2B-Meetings (zwischen Business-Unternehmen) statt. Gleichwohl schreiben die Autoren weiter, die Verlage drucken, die Buchhandlungen verkaufen, die Schriftsteller bekommen Preise – so die mit einem EHF-Stipendium der KAS geförderte Anna Katharina Hahn den Buchpreis 2020 der Stiftung Ravensburger Verlag für ihren Familienroman „Aus und davon“ (Klett-Cotta). Und im digitalen Zeitalter gibt es, wie Gerhard Lauer festhält („Lesen im digitalen Zeitalter“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2020), „mehr Leser und mehr Formen des Lesens“ als je zuvor. Zeit also, die Neuerscheinungen der Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung zu mustern – und zu lesen.

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Burkhard Spinnen: Schreiben in Corona-Zeiten

Was ändert sich für einen Schriftsteller während einer Pandemie? Wie weit lässt er Covid-19 an seinen werdenden Romanhelden herankommen? Burkhard Spinnen (Literaturpreis der KAS 1999) hat darauf mit zwei Ideen reagiert. Seit dem Lockdown erscheinen auf seiner Homepage Woche für Woche „Corona-Briefe“, kurze Essays über eigene Erfahrungen mit der Arbeit am nächsten Roman, über social distancing, über Pandemie-Gewinner, Corona-Partys, Billigfleisch und die Redefigur von der 'Krise als Chance'. Spinnen schreibt mit offenen Augen und mit verantwortungsethischer Haltung. Und er gibt Denkanstöße. Sein zweites Projekt ist ein „Emblembuch der abgewünschten Dinge“. Mit der Künstlerin Anastasiya Nesterova hat er dazu aufgerufen, ihm Dinge zu melden, die man nicht mehr braucht, vom Wegwerfkugelschreiber über den Verbrennungsmotor bis zur Venedig-Kreuzfahrt. Ein Versuch, kleine Entbehrlichkeiten in das Paket künftiger großer Verbote zu schmuggeln. Für Spinnen, der in seinem neuen Kinderbuch „Fipps, Vanessa und die Koofmichs“ (Schöffling Verlag) wiederum (nach seinem politischen Roman „Rückwind“) das Bundeskanzleramt als Handlungsort gewählt hat, bedeutet das Ausfallen von Autorenlesungen ein „Schwinden der literarischen Kultur“. Ein Impfstoff dagegen ist das Lesen: Mehr hier

Angst als Nothelfer: Ralf Rothmanns neue Erzählungen

Angst ist eine natürliche Reaktion auf Notsituationen, sie kann Vorsorge sein oder ein probates Verteidigungsmittel. Bis „an die Zähne mit Angst bewaffnet“, heißt es in einem Gedicht von Ralf Rothmann. „Fear is a man's best friend“ ist das Motto seines neuen Prosa-Bandes „Hotel der Schlaflosen“ (Suhrkamp Verlag). Die elf Geschichten führen ins Berlin der Gegenwart, ins Ruhrgebiet von Rothmanns Kindheit und ins stalinistische Russland. Es sind Stories über versehrte Figuren mit spiegelverkehrten Hoffnungen und unterdrückten Lebens-, Alters- und Krankheitsängsten. Rothmann lässt diese Figuren nicht allein in ihrem Elend, er schildert sie ebenso empathisch wie realistisch, doch er garantiert nicht für wohlfeile Glücksschlüsse. Wohl aber gibt er feinsinnige Hinweise auf Zusammenhänge zwischen Ereignis und Erleben. In der ersten Geschichte „Wir im Schilf“ probt ein Geschwisterduett für ein Konzert. Der Violine der, wie sich herausstellt, todkranken Schwester reißt eine Saite. Eine Ersatzsaite hat sie nicht dabei, die wurde ihr am Flughafen von der Security abgenommen. Während ihr Leben in die Binsen geht, bleibt die Musik als Trost. Ralf Rothmann, Literaturpreisträger 2008, schreibt poetische Prosa, existenzdicht und lebensgenau.

Lebensansichten: Thomas Hürlimanns „Abendspaziergang mit dem Kater“

Katzen sind Orientierungsgenies, Wesen der Dämmerung, schmusige Raubtiere, also widersprüchliche Wesen, die in der Bibel keinen Platz fanden. Thomas Hürlimann hat sie in seinem „Abendspaziergang mit dem Kater“ (S. Fischer) zur Literatur gebracht (wie übrigens auch seine Kollegin Kerstin Hensel in ihrem kulinarisch-philosophischen Buch „Schmoren im Paradies“). Das Buch von Hürlimann, dem Preisträger der Stiftung 1997, kreist um Herkunft (Klosterschule) und Werdegang (theatrale Sendung), um seinen zeitweiligen Passionsweg (mit einer Krebserkrankung) und, immer wieder, um die eigene Schreibposition, die man am besten mit tröstlicher Heiterkeit und geduldigem Schauen umschreiben kann. Die Kapitel im „Abendspaziergang“, die stets durch eine Katerepisode eingeleitet werden, sammeln bereits publizierte Werk-Perlen wie den Messdieneraufstand in der Klosterkirche und die Philosophie der absteigenden Treppe. Am Ende von Hürlimanns Lebenswegekunde steht ein berührender Nachruf auf den früh verstorbenen Bruder Matthias, der angesichts seiner Krankheit zum Tode in sein Tagebuch schrieb: „Die Frage der Dauer wird nebensächlich.“ Und ganz am Ende des „Abendspaziergangs“ verwandelt sich der Erzähler selbst in eine „Katerpersönlichkeit“, aber gibt zu bedenken: „Gestiefelte Kater gibt’s nur im Märchen“. Wenn das keine lohnende Einladung zu einem Lesespaziergang ist!

Macht, Missbrauch, Widerstand: Petra Morsbachs Leitfaden für ethische Stresstests

„Der Elefant im Zimmer“ ist die deutsche Übersetzung einer englischen Redewendung: über etwas hinwegzusehen, das doch unleugbar mächtig da ist. Wie die Macht. Petra Morsbach, Preisträgerin der Stiftung 2007, hat sie sich in ihrem Essay „Der Elefant im Zimmer“ (Penguin Verlag) vorgeknöpft. Sie untersucht drei Fälle von Machtmissbrauch und die Möglichkeiten des Widerstands. Es geht um Sex und Kindesmissbrauch (im Fall eines hohen österreichischen Klerikers), um Macht und Amtsmissbrauch (im Fall einer bayerischen Landesministerin), um Kultur und Exklusion. Hier berichtet Petra Morsbach über einen selbsterlebten Fall aus der Bayerischen Akademie der Schönen Künste; Stein des Anstosses war ihr von der Akademieleitung abgelehnter Vorschlag, Norbert Gstrein, KAS-Literaturpreisträger 2001, zu einer Lesung einzuladen. Aber Schlüssellochperspektive und Aufklärungshysterie sind Petra Morsbachs Sache nicht, Klarnamen lässt sie weitgehend aus. Es geht ihr um die Frage, wie man sich unter ethischem Stress verhält und was die Sprache der Macht über den Sprecher, der sie beansprucht, aussagt. So kommen subtile Einsichten über Pilatus-Attitüden und die Beugsamkeit des Menschen zustande. Sie sind hochaktuell in Zeiten von #MeToo-Debatten und einer Staatsautorität, die zwischen Virologie und Ökonomie balanciert. Eine überaus klarsichtige und auch nützliche Lektüre: Am Ende steht ein Katalog mit Handlungsempfehlungen angesichts Machtmissbrauch.

Patrick Roths Arbeit an der Religion

Patrick Roths (Preisträger 2003) Schreiben umkreist Grenz- und Verwandlungserfahrungen, Psychologie und Religion, Film und Mythos. Sein neuer Band „Gottesquartett“ (Wallstein Verlag) besteht aus einem Rahmen und den vier titelgebenden Erzählungen. Im Rahmen fliegt ein deutscher Schriftsteller, der nach fast vierzig Jahren in Los Angeles nach Deutschland zurückgekehrt ist, mit seinem neuen Manuskript im November 2019 nochmals nach L.A. Dort ist eine gute Freundin gestorben, eine Psychotherapeutin. Der Autor hat eine kleine Gedenkrede für sie geschrieben. Doch die Trauerfeier fällt aus. Wildfires, unkontrollierbare Waldbrände, bedrohen die Wohngebiete. Der Autor, in dem wir getrost Patrick Roth erkennen können, und drei Freunde lesen sich die Erzählungen des „Gottesquartetts“ an vier Tagen reihum vor, auf einer Terrasse am Meer. Leitfiguren der Geschichten sind der Prophet Samuel, der als vielleicht erster Therapeut die religiöse Quintessenz der Seele entdeckt, der Patriarch Abraham, der junge David und Saulus-Paulus, aber auch Hitchcock und Michelle Pfeiffer, Hölderlin und Kafka. Patrick Roths Erzählungen zeigen, wie und wobei uns die Kunst des Erzählens und Erinnerns hilft. Sie sind Arbeit an der Religion, in ihnen, so schreibt Rüdiger Safranski (KAS-Preisträger 2014), „brennt der Mythos“ noch.

"Glücksritter": Michael Kleebergs eindringliche Vaterrecherche

Das Glück beim Schopfe packen kann man nur, wenn man ihm ins Gesicht blickt statt ihm hinterherzulaufen. Deshalb hatte die antike Glücksgöttin Fortuna eine Stirnlocke. Michael Kleeberg, Preisträger der Stiftung 2016, schreibt in "Glücksritter" (Galiani Berlin) über seinen Vater, dem es zeitlebens nicht gelang, das Glück am Schopf zu erwischen, weil er nach und nach Opfer von Kriegsunschuldsideologie, Geschäftsruin, Vorschussbetrug, schließlich einer jähen Krebserkrankung wurde. Doch so tragisch Kleeberg davon erzählt, wie nach jedem Pechfall der Anspruch auf Glück stieg, so zornfrei, ja geradezu nobel ist sein Porträt des Vaters als eines tröstlichen, lehrreichen, spannenden Geschichtenerzählers. Für den Sohn, der sich damit in der Vaterrecherche miterzählt und sich als "Selbstdenker und Selbsthenker" im Vater miterkennt, wird dieser so zur "Kippfigur" (Erhard Schütz). Ein berührendes, sehr differenziertes Familienbuch! Michael Kleeberg liest auf dem blauen Sofa, das diesmal nicht in Frankfurt auf der Buchmesse, sondern in Berlin steht, Livestream unter: www.das-blaue-sofa.de

Schriftsteller der Einheit: Nachruf auf Günter de Bruyn

Als die Mauer fiel, stand Günter de Bruyn zwischen „Jubelschreien, Trauergesängen“ (so heißt sein Essayband von 1991). Er bekannte sich zu einer Position der deutschen Kulturnation, die sich der Freiheit und des Friedens freuen, aber ihre Vergangenheit weder vergessen noch verdammen noch beschönigen sollte. Einen „Schriftsteller der deutschen Einheit“, so hat Wolfgang Schäuble, damals Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 1996 bei seiner Laudatio im Weimarer Nationaltheater den Autor genannt, als er dort den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung erhielt: für seine autobiographischen, essayistischen und erzählenden Werke, die – so die Begründung für den Preis – „mit leiser Deutlichkeit, mit Menschenfreundlichkeit und Humor der Freiheit das Wort“ geben. Am Tag nach dem Tag der Deutschen Einheit 2020 ist der am 1.11.1926 in Berlin geborene Schriftsteller Günter de Bruyn gestorben. Ein Nachruf findet sich online

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Prof. Dr. Michael Braun

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Referent Literatur

michael.braun@kas.de +49 30 26996-2544

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