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Michal für Kallas

Автор: Oliver Morwinsky, Sveta Pääru

Ein Win-Win für Kallas und Estland

Im Nachgang der Europawahl 2024 sieht sich die estnische Regierung nicht nur nach wie vor mit anhaltenen Diskussionen um ihren Haushalt konfrontiert, sondern ändert auch ihre Spitze. Die amtierende Koalition steht unter Druck. Stocken doch seit vielen Monaten die Gespräche über die genaue Ausgestaltung des Haushaltes unter Einbeziehung neuer Steuern oder einer Erhöhung der bisherigen. Der Wechsel von Kallas nach Brüssel ist eine Win-Win-Situation für Estland und Kallas selbst. Der neue designierte Premierminister ist kein Unbekannter und setzt klare Prioritäten. Am 22. Juli 2024 wurde das neue Kabinett vorgestellt.

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Mit den Wahlen zum Europäischen Parlament am 9. Juni 2024 hat es in Estland politische Bewegung gegeben. Die von der Systematik auf das Europäische Parlament zielenden Wahlen, haben eine direkte nationale Auswirkung zur Folge. Kaja Kallas, seit dem 26. Januar 2021 Premierministerin Estlands, tritt von ihrem Posten zurück. Grund ist ihre Ernennung zur Hohen Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik.

Mitte Juli 2024 reichte Kallas bei Staatspräsident Alar Karis ihren Rücktritt ein, der diesen auch annahm. Laut estnischer Verfassung tritt mit dem/der Premierminister/in auch gleichzeitig das gesamte Kabinett zurück. Dies gilt bis zu einer neuen Regierungsbildung. Bis dahin bleibt – sofern der Präsident dem zustimmt – der/die amtierende/r Premierminister geschäftsführend im Amt.

Am 29. Juni 2024 hat die Reformpartei, der Kallas angehört, den aktuellen Minister für Klimaangelegenheiten, Kristen Michal, als neuen Ministerpräsidenten sowie Parteivorsitzenden vorgeschlagen. Auf dem Parteitag am 8. September soll er zum neuen Vorsitzenden der Reformpartei gewählt werden. Am 22. Juli 2024 wurde Michal als neuer Premierminister vom Parlament mit 64 zu 27 Stimmen bestätigt.

 

Gefallener Kronprinz

Lange Zeit galt Verteidigungsminister Hanno Pevkur als „Kronprinz“ für die Nachfolge von Kallas an Partei- und Regierungsspitze.

In den vergangenen Monaten geriet er (wie auch Kallas) jedoch zunehmen in politische Bedrängnis. Grund hierfür waren Vorwürfe von hochrangigen Vertretern aus dem Verteidigungssektor. Namentlich der oberste Befehlshaber der Verteidigungsstreitkräfte der estnischen Armee, General Martin Herem, hat im Nachgang zu seinem Rücktritt (angekündigt im Januar, vollzogen im Juni 2024), der damals nicht näher begründet wurde, scharfe Kritik geübt. Es ging hierbei um eine Unterfinanzierung der Streitkräfte im Hinblick auf die drohende Gefahr Russlands für die estnische Unabhängigkeit. Konkret wurde die Zahl von 1,6 Milliarden Euro genannt. Zum Vergleich: Der Verteidigungshaushalt für 2024 beträgt lediglich 1,3 Milliarden Euro, was einem Anteil von 3,21 Prozent zum BIP entspricht. Dies unterstreicht die politische Gewichtung dieser Debatten. Doch nicht nur der Leiter der Streitkräfte trat zurück, auch der Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Kusti Salm, reichte im Juni 2024 mit gleicher Begründung seinen Rücktritt ein. Er könne eine solche Entwicklung nicht länger in verantwortlicher Position vertreten. Beide belasteten Verteidigungsminister Pevkur, wie auch Premierministerin Kallas schwer, ihre über lange Zeit vorgetragenen Bedenken und Forderungen nicht angemessen berücksichtigt zu haben.

 

Koalition unter Druck

Bis zum Rücktritt von Kaja Kallas regierte in Tallinn eine Dreier-Koalition aus Reformpartei, Estland 200 und der sozialdemokratischen Partei Estlands. Ein Koalitionsbruch war nicht absehbar, hatten und haben alle drei Parteien kein Interesse an Neuwahlen. Vor allem im Hinblick auf die aktuellen Umfragewerte. Die Reformpartei steht derzeit bei 16,6 Prozent. Dies stellt einen Verlust von knapp 15 Prozent zur letzten Wahl im März 2023 dar. Auch die kleine liberale Partei Estland 200 hat knapp 10 Prozent eingebüßt und liegt aktuell bei mageren 3,2 Prozent. Allein die sozialdemokratische Partei (SDE) ist als aktuell im Aufwind mit 16,5 Prozent (ein Plus von 6,6 Prozent zu März 2023).

Die konservative Isamaa (EVP) liegt seit Monaten in den Umfragen weit vorne. Im Vergleich zu den letzten Parlamentswahlen hat sie atemberaubende 23(!) Prozent zugelegt und rangiert in den Umfragen derzeit unangefochten mit 31,2 Prozent auf Platz 1. Das ist der höchste Stand seit über fünf Jahren.

Die oppositionelle Zentrumspartei erreicht mit 12,7 Prozent den vierten Platz, gefolgt von der EKRE mit 11,8 Prozent, der außerparlamentarischen Partei „Die Rechte“ mit 5,1 Prozent. In den vergangenen Wochen konnte die Zentrumspartei ihre Position leicht verbessern und liegt nun vor der rückläufigen EKRE. Die Unterstützung der EKRE erreicht den niedrigsten Stand seit 2019.

Die drei Parteien der Regierungskoalition, Reformpartei, Estonia 200 und SDE, erhalten insgesamt 36,3 Prozent der Wählerstimmen, während die Parteien der Opposition 55,5 Prozent auf sich vereinen können.

Michal führte maßgeblich Gespräche mit den Regierungsparteien über neue Schwerpunkte und Impulse. Vertreter der drei Parteien einigten sich Mitte Juli darauf, die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Estlands durch folgende Maßnahmen zu stärken:

  • Entwicklung neuer einheimischer Industrien, wie z.B. der Verteidigungsindustrie;
  • Konzentration auf das ganze Land, nicht nur auf Tallinn und den Landkreis Harju sowie
  • Abbau von Bürokratie und Schaffung von Klarheit für die Unternehmer.

 

Neue Regierung steht

Am 22. Juli hat Michal seine neue Regierung vorgestellt. Obwohl die Koalition bestehen bleibt, gibt es einige Wechsel auf verschiedenen Ministerposten:

Reformpartei (6 Ministerien)

  • Yoko Alender, Klimaministerin (neu für PM Michal) 
  • Erkki Keldo, Minister für Wirtschaft und Industrie (neu; davor lag das Ministerium bei Estland 200)
  • Jürgen Ligi, Finanzminister (neu) 
  • Hanno Pevkur, Verteidigungsminister 
  • Signe Riisalo, Ministerin für Soziale Sicherheit  (neu)
  • Heidy Purga, Kulturministerin

Sozialdemokratische Partei (4 Ministerien)

  • Lauri Läänemets, Innenminister 
  • Piret Hartmann, Ministerin für Regionales und Ländliches
  • Riina Sikkut, Gesundheitsministerin  
  • Vladimir Svet, Minister für Infrastruktur (neuer Posten)

Estland 200 (3 Ministerien)

  • Margus Tsahkna, Außenminister 
  • Kristina Kallas, Ministerin für Bildung und Forschung
  • Lisa Pakosta, Justiz- und Digitalisierungsministerin (neu) 

Für die Sozialdemokraten wurde ein Ministerium neu geschafften (Ministerium für Infrastruktur). In den Schlüsselpositionen des Kabinetts verbleiben Margus Tsahkna als Außenminister und Lauri Läänemets als Innenminister. Der erfahrene Reformpolitiker Jürgen Ligi kehrt auf einen Regierungsposten zurück und übernimmt das Ressort des Finanzministers. Michal ist seit den späten 1990er Jahren in der Reformpartei aktiv, welche die dominierende politische Kraft in Estland darstellt. In Kallas‘ letztem Kabinett, das im April 2023 sein Amt antrat, bekleidete er das Amt des Ministers für Klimafragen. Darüber hinaus war Michal als Parteisekretär der Reformpartei sowie als Mitglied des Stadtrats von Tallinn tätig.

 

Neue Steuer für die Sicherheit

Obgleich sich die Reformpartei, die Sozialdemokratische Partei und Estland 200 noch nicht auf sämtliche Details für eine Fortsetzung der Koalition geeinigt haben, lässt sich bereits jetzt prognostizieren, dass eine neue Steuer eingeführt werden wird, eine sogenannte Sicherheitssteuer.
Sie wird in drei Teilen bis Ende 2028 eingeführt: Ab dem 1. Juli 2025 wird die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte auf 24 Prozent erhöht. Die letzte Erhöhung der Mehrwertsteuer in Estland erfolgte am 1. Januar dieses Jahres: von 20 auf 22 Prozent. Am 1. Januar 2025 wird die Einkommensteuer natürlicher Personen um zwei Prozentpunkte auf 22 Prozent, ein Jahr später sodann auf 24 Prozent erhöht.
Ab dem 1. Januar 2026 wird zudem für die Unternehmen die sogenannte Einkommens-/Gewinnsteuer in Höhe von 2 Prozent eingeführt. Dies impliziert im Wesentlichen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer sowie der Einkommenssteuer. Die Parteien waren sich lange uneinig hinsichtlich der Besteuerung anderer Einkünfte, insbesondere der von Unternehmen. Darüber hinaus haben sich die drei Parteien auf eine zehn-prozentige Kürzung in allen Sektoren verständigt. Dies schließt Kürzungen bei den Renten ebenso wenig ein wie Einschnitte bei den Ausgaben für die nationale Verteidigung. Zudem ist vorgesehen, die zehn-prozentige Kürzung nicht auf einen Schlag, sondern in mehreren Schritten zu implementieren.

 

Wechsel nach Brüssel ist ein Win-Win

Mit der letzten Parlamentswahl in Estland im März 2023 begannen für Kallas und ihre Partei die Probleme. Legte man im Wahlkampf gerade besonderen Wert auf die Tatsache, dass es zu keinen neuen Steuern oder Steuererhöhungen kommen werden. Im Hinblick auf die steigenden Ausgaben für Verteidigung und weitere wirtschaftspolitische Notwendigkeiten (u.a. verbesserte Finanzierung des Bildungssektors), wurde nach der Wahl jedoch schnell klar, dass sich diese Position nicht halten lassen würde. Schnell wurde die neue Koalition als „Koalition der Lügner“ bezeichnet. Die Diskussion, welche Steuern kommen und wie hoch diese seien sollen, zieht sich bis heute. Dies hat zu einer nachhaltigen Schädigung der Reformpartei und ihrer Verlässlichkeit geführt. Dies perlte auch an der Person Kallas nicht ab.

Hinzu kam ihr persönlicher Skandal im Sommer 2023. Kallas‘ Mann, dem Unternehmer Arvo Hallik wurde vorgeworfen mit seiner Beteiligung an dem Unternehmen „Stark Logistics“ bzw. einem ganzen Firmengeflecht auch eineinhalb Jahre nach Kriegs-ausbruch in der Ukraine, nicht nur Geschäftsbeziehungen nach Russland aufrechterhalten. Einen besonderen Beigeschmack erlangte dies durch die ansonsten so harte Haltung Kallas‘ gegenüber Russland. Die Tatsache, dass sie Hallik im Jahr 2022 ein Darlehen über 350.000 Euro gegeben hatte, verhinderte die Exkulpation. Die darauffolgende Krisenkommunikation war alles anderes als hilfreich. Die Ministerpräsidentin stritt zunächst ab, dass sie mit ihrem Mann darüber gesprochen habe, räumte dann jedoch schrittweise Fehler ein. Einen Rücktritt stritt sie stets ab, mit dem Hinweis, dass durch dieses Gebaren keine Sanktionen verletzt worden wären. Der politische Flurschaden war jedoch angerichtet.

Seither hat sich die Reputation Kallas‘ im Inland nicht mehr verbessert. Daher kann ein Wechsel in die europäische Spitzendiplomatie sowohl als Gewinn für Kallas (raus aus innenpolitischen Querelen) wie auch für Estland (prominentes Gesicht mit starker Haltung für das Land) gesehen werden.

 

Fazit

Die Ausrufung der neuen Regierung ist ein Moment des Durchatmens für Estland. War die bisherige innenpolitische Lage (Stillstand in Steuerfragen, Blockierung der Regierung durch die Opposition im Parlament, Steigerung der Umfragewerte für die Rechtspopulisten) alles andere als positiv. Mit der Berufung von Tsahkna, Läänemets und Ligi, setzt Michal auf bewährte und erfahrene Köpfe. Insbesondere die Berufung von Ligi als Finanzminister soll Ruhe in die aufgeregten Debatten rund um den Haushalt und Steuerfragen bringen.

Dass nun alles mit der neuen Regierung anders respektive besser wird, steht freilich noch in den Sternen. Jedoch lassen die bisherigen Debatten und Verhandlungen den Eindruck zu, dass pragmatische Lösungen für die aktuellen Probleme gefunden werden sollen.

Viel wird jetzt auf – schnell erhoffte – Ergebnisse ankommen. Die Opposition ist gestärkt. Vor allem in Form von Isamaa. Viel Zeit bleibt Michal also nicht, die Menschen davon zu überzeugen, dass ein Wechsel an der Spitze eine grundlegende Änderung zum Positiven bedeutet. Dass die rechtsnationale EKRE-Partei bei den letzten Europawahlen nur den vierten Platz (14,8 Prozent; Isamaa auf dem ersten Platz mit 21,5 Prozent) belegen konnte, ist ein gutes Zeichen. Dies darf aber nicht zum Ausruhen einladen. Die Zustimmung zu Estland 200 nimmt zusätzlich sukzessive ab. Ob mit ihr nochmal eine Regierung (als Juniorpartner) zu bilden seien wird, ist derzeit eher fraglich.

Für die Opposition, insbesondere Isamaa, bedeutet das: Abwarten, genau beobachten und mit handfesten Konzepten die Regierung unter Druck setzen (anstatt mit Blockaden zu agieren). Dann besteht Hoffnung, dass die astronomisch hohen Umfragewerden von Isamaa auch bei Regierungsbeteiligung nicht drastisch dem zuletzt negativen Vorbild der Reformpartei folgen.

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Leiter des Auslandsbüros Baltische Staaten

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