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"Wir wollen die Öffentlichkeit über das Phänomen von Kindesmisshandlungen aufklären"

Michael Tsokos und Saskia Etzold werfen Ämtern und Juristen Lücken im System vor

Jedes Jahr sterben in Deutschland laut polizeilicher Kriminalstatistik 160 Kinder an Misshandlungen. Eine erschreckende Zahl, die seit Jahren konstant ist. Michael Tsokos, Leiter der Rechtsmedizin der Berliner Charité und die Fachärztin Saskia Etzold wollen auf diese Misstände in deutschen Familien mit ihrem Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ aufmerksam machen und stellten bei der Veranstaltung der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung ihre Lösungsansätze vor.

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Nahrungsverweigerung, seelische Grausamkeiten oder Schütteltrauma – all diese Formen der aktiven Vernachlässigungen und körperlichen Gewalt sind dem Rechtsmediziner Tsokos in den vergangenen Jahren in der Klinik begegnet. 200.000 Kinder werden nach Expertenangaben Opfer von Misshandlungen. „Wir schaffen es jedes Jahr die Zahl der Verkehrstoten zu reduzieren, aber es ist frustrierend, dass sich die Zahl der jährlich getöteten Kinder durch Misshandlung nicht verringert.“ Besonders der Fall Jessica 2004 in Hamburg habe Tsokos erschüttert. Das siebenjährige Mädchen wurde von der Polizei tot in der Wohnung der Familie aufgefunden. Es habe den Knochenbau einer Dreijährigen gehabt, sei stark dehydriert und unterernährt gewesen. Im anschließenden Gerichtsverfahren wurden die Eltern wegen Mordes verurteilt, was in dem Zusammenhang erstmalig in Deutschland gewesen sei. „Hier haben Jugendamt und Behörden völlig versagt“, zieht Tsokos das Fazit. Er nahm das Schicksal zum Anlass, das aktuelle Buch zu schreiben.

Spätfolgen und Projekte

Auch die Fachärztin Etzold kennt viele Fälle dieser Art und verweist besonders auf das Schütteltrauma. Laut einer Prognose sterben 20 Prozenten der Kinder an den dadurch verursachten schweren Hirnschäden. Ein Teil der Überlebenden hätten mit Spätfolgen wie Sehstörungen und chronischen Krankheiten zu kämpfen. Tsokos und Etzold fordern ein umfassenderes Opferentschädigungsgesetz, da Krankenkassen häufig die Kosten für Therapien nicht dauerhaft übernähmen. Als ein Erfolgsmodell nannte Etzold die kürzlich eröffnete Gewaltschutzambulanz der Charité. Dort könnten sich Betroffene kostenfrei untersuchen lassen. Wenn es zu einem Prozess käme, könnte über die festgestellten Beweismittel der Gewaltschutzambulanz die Tat bewiesen werden.

Systemrelevante Lösungsansätze

Mit ihrer Streitschrift wollen die beiden Mediziner nicht nur auf die Missstände in deutschen Kinderzimmern hinweisen, sondern auch Lösungsansätze bieten. Sie stellen viele Forderungen für den Schutz der Kinder auf. Unter anderem plädieren die beiden Mediziner für eine Fachaufsicht über Jugendämter. „Wir brauchen eine Kontrolle der Kontrolleure“, sagt Tsokos. Bisher seien die Jugendämter keiner Hierarchie untergeordnet. In dem Zusammenhang müsse auch die Fallzahl pro Mitarbeiter reduziert werden. „Der Staat muss mehr Geld für Personal zu Verfügung stellen“, so der Rechtsmediziner. Er bedauert, dass es bundesweit bei Jugendhilfen oder Jugendämtern keine einheitlichen Qualitätsstandards gebe. Darüber hinaus fehle es in Jugendämtern, unter Staatsanwälten und Richtern oft an Kenntnissen. „Damit Misshandlung richtig erkannt wird, muss es rechtsmedizinische Schulungen für alle Verantwortlichen geben“, fordert Tsokos. Etzold nimmt auch die Politik und die Gesellschaft in die Pflicht. „Wir müssen uns als Gesellschaft positionieren und reagieren“, sagt die Fachärztin. Es müsse mehr Mut zum Handeln geben, so Etzold. Tsokos sieht einen ersten Schritt in die richtige Richtung in Nordrhein-Westfalen. Dort solle ein Gesetz initiiert werden, dass es Kinderärzten erlaubt, untereinander Patientendaten auszutauschen. Dieses Informationssystem sei der richtige Weg zur Verhinderung von Kindesmisshandlungen. „Es liegt noch ein langer Weg für die Umsetzung der Lösungsansätze vor uns, aber die Gesellschaft darf Gewalt gegen Kinder nicht dulden und muss handeln.“

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Berlin Deutschland