„Die unruhigen Studenten testen mit ihren Forderungen und Aktionen unser politisches System.“ (Wulf Schönbohm / Jürgen Bernd Runge / Peter Radunski: Die herausgeforderte Demokratie. Deutschlands Studenten zwischen Reform und Revolution, Mainz 1968, S. 99; Seitenzahlen im Text beziehen sich hierauf).
Mit diesem Satz ließen Anfang 1968 drei Aktivisten aus dem Umfeld des Berliner Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) aufhorchen. Sie hielten eine radikale Verteufelung der studentischen Proteste durch viele „Altvordere“ in der CDU für demokratietheoretisch falsch, pragmatisch unklug und politisch kontraproduktiv. Denn die radikale Minderheit der linken „68er“ im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) zwinge der gemäßigten Mehrheit eine Diskussion darüber auf, wie es um die „Leistungsfähigkeit und den Bestand der politischen Ordnung“ in der Bundesrepublik bestellt sei: „Die studentische Herausforderung muss angenommen werden“, schrieben sie den „etablierten“ Kräften der Bonner Republik ins Stammbuch.
Die studentische „Herausforderung der Demokratie“ anzunehmen, war die intellektuelle Leitlinie einer Publikation des RCDS-Bundesvorsitzenden im kritischen Jahr 1967/68 Wulf Schönbohm, der in den 1970erund 1980er-Jahren als Vertrauter von Heiner Geißler eine tragende Rolle als Reformer in der Bonner CDU-Geschäftsstelle einnehmen sollte; des Berliner RCDS-Vorsitzenden Jürgen-Bernd Runge, der ein Jahr später zur FDP wechselte und sich in den 1970er-Jahren von der Staatssicherheit anwerben ließ; sowie des späteren CDU-Bundesgeschäftsführers Peter Radunski, der sich unter Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler einen Namen als Modernisierer der CDU-Wahlkämpfe machen sollte. Mit ihrer Publikation Die herausgeforderte Demokratie leisteten sie einen weitgehend vergessenen, rückblickend jedoch bemerkenswert hellsichtigen Beitrag zur zeitgenössischen Einordnung der außerparlamentarischen Revolte von „1968“.
Zwar lehnten Schönbohm, Runge und Radunski die Ziele des SDS einhellig ab. Dessen letztlich „unwissenschaftliche und kenntnislose Argumentation“ (S. 70) sowie rechtsstaatlich bedenkliche Methoden würden berechtigten Forderungen der Studierenden ihre Legitimität und Durchschlagskraft rauben. Dennoch zollten sie dem gleichaltrigen „Rädelsführer“ des antiautoritären Flügels des SDS, Rudi Dutschke, zähneknirschenden Respekt. Zum ersten Mal überhaupt sei es Studenten gelungen, „aus dem Sandkasten der Studentenpolitik in die politische Öffentlichkeit einzudringen“ (S. 14).
Protest als Indikator des Wandels
Die herausgeforderte Demokratie kann fünfzig Jahre nach der Veröffentlichung Anfang 1968 zur Lektüre empfohlen werden, weil der schmale Band einen differenzierten Blick auf „1968 und die Folgen“ ermöglicht. Dieser war lange durch wechselseitig gepflegte Mythen verstellt. Entweder wurde die Studentenbewegung von deren Verteidigern zur heroischen Vorhut gesellschaftlicher Emanzipation, kultureller Aufbrüche und einer fundamentalen Demokratisierung der Bundesrepublik stilisiert oder sie wurde von ihren Gegnern als Vorstufe des RAF-Terrorismus und gesellschaftlicher Fehlentwicklungen verteufelt. Beide Sichtweisen sind nicht allein polemisch übertrieben, sondern grundlegend falsch. Sie beruhen auf einem veralteten, mechanistischen Bild der Wirkungen von Protestbewegungen.
Schönbohm, Runge und Radunski hatten intuitiv erfasst, wovon die historische Protestforschung inzwischen durchgängig ausgeht: Protestbewegungen wirken indirekt. Sie können nur in einer Gesellschaft durchdringen, die bereits reif für Reformen ist. Hierbei artikulieren sie Defizite, fordern Politik, Gesellschaft und Kultur mit irritierenden Reden und Handlungen heraus. Sie verfehlen dabei durchgängig ihre intendierten Ziele. Dennoch ist Protest ein zentraler Indikator des Wandels. Er legt in der Zuspitzung der Kritik latente soziale Konflikte offen, macht gesellschaftliche Bruchlinien sichtbar, verweist auf kulturelle Dissonanzen. Protest, so brachte es der Soziologe Niklas Luhmann auf den Punkt, „negiert die Gesamtverantwortung“ (Niklas Luhmann: Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, hrsg. und eingeleitet von Kai-Uwe Hellman, Frankfurt am Main 1996, S. 205). Daher ist es um seine Lösungskompetenz schlecht bestellt. Doch zwingt er uns regelmäßig Diskussionen darüber auf, was uns in unserer Gesellschaft wichtig ist.
Die gesellschaftlichen Wirkungen von Protest lassen sich daher erst abschätzen, wenn wir die Reaktionen der „etablierten Gegenseite“ in die Analyse einbeziehen. Diese wird durch sozialen Protest zu Reaktionen provoziert, womit weniger eine medial verbreitete, theatralische Aufregung des Establishments gemeint ist, die die eigene Klientel antagonistisch mobilisieren will. Vielmehr zwang die Studentenbewegung der politischen Klasse eine Debatte darüber auf, was sie unter Demokratie verstehen wollte. „Ist unsere Ordnung fähig, sich gegen Extremisten zu verteidigen?“, wie Schönbohm, Runge und Radunski fragten. Zugleich wirkte 1968 in die etablierten Parteien hinein, wenn in den 1970er-Jahren die CDU zunächst unter Rainer Barzel und dann unter Helmut Kohl große Anstrengungen unternahm, sich zu modernisieren. Die akademischen 68er des RCDS hatten konzeptionell wichtigen Anteil daran (so auch Schönbohms eigene Sicht als „Parteihistoriker“. Vgl. Wulf Schönbohm: Die CDU wird moderne Volkspartei. Selbstverständnis, Mitglieder, Organisation und Apparat 1950–1980, Stuttgart 1985, S. 99 f.; vgl. hierzu vor allem Frank Bösch: Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart 2002, S. 97 f.; 101 ff.)
Unbehagen an Demokratie und Gesellschaft
Schönbohm, Runge und Radunski stehen stellvertretend für eine Kohorte akademischer 68er in der CDU, deren Grunderfahrung der Aufstieg der Neuen Linken war, denen die Verteidiger der liberalen Demokratie im studentischen Umfeld oft hilflos gegenüber standen, weil es gerade im universitären Bereich tatsächlich Reformbedarf gab. Da die politischen Institutionen nicht in der Lage seien, diese Missstände an den Universitäten zu beseitigen, würde die Kritik an den Verhältnissen an den Universitäten auf das parlamentarische Regierungssystem insgesamt übertragen (S. 96). In diese Lücke stoße der SDS.
Schönbohm, Runge und Radunski wie auch der in Bonn promovierende Politikwissenschaftler Gerd Langguth, ab 1970 Bundesvorsitzender des RCDS, wollten erklären, warum viele Studierende „den großen öffentlichen Erfolg der Führer der gegenwärtigen Protestbewegung“ mit Sympathie betrachteten, obwohl sie die radikalen Thesen Dutschkes eigentlich nicht teilten. „Das studentische Unbehagen an der Entwicklung der Bundesrepublik“ könne man nicht einfach mit kommunistischer Unterwanderung abtun. Adenauers Rezepte und alte Feindbilder hätten sich überlebt. Die Studenten kritisierten zu Recht eine fehlende Transparenz des politischen Betriebes. Und sie sahen neben einem allgemeinen Unbehagen an der repräsentativen Demokratie und der Wohlstandsgesellschaft eine gravierende Unfähigkeit der Universitäten, sich selbst zu reformieren.
Der RCDS machte sich mit der Verflachung der Hierarchien in den Hochschulen letztlich Forderungen der Bildungsreformer der 1960er-Jahre zu eigen, die sowohl in SPD- als auch CDU-geführten Bundesländern den „Feind“ eher unter den etablierten Ordinarien als unter den Studenten vermuteten. Nicht zuletzt der amtierende Bundeskanzler und CDU-Vorsitzende, Kurt Georg Kiesinger, als Stuttgarter Ministerpräsident einer der großen Hochschulgründer der 1960erJahre, hatte die Studentenproteste ausdrücklich begrüßt, weil diese der reformfreudigen Landesregierung bei ihrem Kampf mit den Beharrungskräften an den Universitäten halfen. Direkt nach den „Osterunruhen“ 1968 gab der Kanzler in einem Interview zu Protokoll, dass er durchaus mit der studentischen „Gegenwehr gegen das unmenschliche Element in dieser modernen, technologischen Welt“ sympathisiere, wenn er auch deren bilderstürmerische Haltung ablehne (zit. nach Philipp Gassert: Kurt Georg Kiesinger, 1904–1988. Kanzler zwischen den Zeiten, Stuttgart 2006, S. 622).
Anfang 1968 gründete der RCDS mit seinem Anspruch, produktiv auf die Herausforderung von „1968“ zu reagieren, unter Schönbohms Ägide die Zeitschrift Die Sonde. Indes richteten sich die Energien der „anderen 68er“ zunehmend auf die CDU selbst. Sie sahen die etablierten Parteien in der Pflicht, über mehr als Kandidatenaufstellungen für Wahlen zu diskutieren. „Innerparteilicher Streit“, entgegneten sie den Altvorderen, sei gut für die CDU, weil er ihr helfe, ihre Programmatik und ihr Profil zu entwickeln. Da die Union seit 1969 im Bund in der Opposition war, bot sich besser als in Zeiten der Regierungsverantwortung die Chance wie auch die Notwendigkeit, ihre Strukturen zu modernisieren und sich innenpolitisch auf die Reform und Konsolidierung der Sozialen Marktwirtschaft zu konzentrieren.
Innerparteilicher Reformimpuls
Anders als die gleichaltrigen Aktivisten im SDS forderten die akademischen 68er des RCDS keine Revolution, sondern Reformen. Sie arbeiteten sich mit ihrer Kritik der fehlenden Transparenz an den politischen Strukturen der Bundesrepublik auch am inneren Zustand der CDU ab: „Hausbackene Selbstzufriedenheit, Honoratiorendenken und sachpolitische Kurzsichtigkeit müssen für die CDU Nebenerscheinungen werden“ (zit. nach Peter J. Grafe: Schwarze Visionen. Die Modernisierung der CDU, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 14).
Was als Kritik an der relativen Sprachlosigkeit der Union zum Thema „1968“ begonnen hatte, setzte sich als innerparteilicher Reformimpuls fort. Dieser hatte schon 1967/68 unter Kiesinger mit den auf Partizipation angelegten Beratungen für das Berliner Programm 1968 begonnen, war dann aber unter Barzel und vor allem von Kohl mit Biedenkopf und Geißler als Generalsekretären vorangetrieben worden.
Wie sich der Ursprungsimpuls der „anderen 68er“ des RCDS, auf die „Herausforderung der Demokratie“ durch „1968“ produktiv Antworten zu finden, auf die etablierten Strukturen der CDU ausgewirkt hat, unterstreicht die indirekten Wirkungen von Protestbewegungen: Protest mobilisiert Politik und Gesellschaft weniger aufgrund eigener Ziele als durch die Reaktionen der Etablierten. In den 1970er-Jahren standen Politiker an der Spitze der CDU, die den Radikalismus der linken 68er vehement ablehnten, aber Verständnis für den Unmut der Studierenden hatten und für die Rückkehr zur Macht in Bonn strukturelle Modernisierungen der CDU für unabdingbar hielten. Hierfür gaben die 68er im RCDS Stichworte und Ideen. Es bleibt ihr Verdienst, 1968 die essenzielle Frage gestellt zu haben, wie eine Demokratie mit radikalen Herausforderungen produktiv umgehen kann. Diese Frage ist heute aktueller denn je.
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Philipp Gassert, geboren 1965 in Wertheim am Main, Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim. Sein jüngstes Buch „Bewegte Gesellschaft: Protest in Deutschland seit 1945“ (Verlag Kohlhammer) erscheint in diesem Jahr.