Asset-Herausgeber

von Matthias Zimmer

Eine Einordnung aus Sicht der CDU-Programmatik

Asset-Herausgeber

Das berühmte Diktum des Staatsund Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde lautet bekanntlich, dass der Staat nicht jene Ressourcen erzeugen kann, die die Grundlage seiner Existenz sind. Böckenförde meinte damit Gemeinschaftsgefühl, Pflichtbewusstsein, eine Ader für das Gemeinwohl, Solidarität. In der Tat: Diese Ressourcen beruhen auf individuellen Tugenden. Der Staat kann sie nicht erzeugen, aber dort, wo sie sich manifestieren, unterstützen. Und diese Tugenden manifestieren sich vor allem in freiwilligen Diensten und ehrenamtlicher Tätigkeit. Sie sind der Quellgrund zivilgesellschaftlicher Aktivität. Und eine starke Zivilgesellschaft ist Voraussetzung für eine stabile, robuste demokratische Ordnung.

Diktaturen mögen kein zivilgesellschaftliches Engagement. Es ist das Alleinstellungsmerkmal demokratisch verfasster Gesellschaften. Ehrenamt und Hilfsdienste haben eine weitere Dimension: Sie entlasten staatliche Strukturen. Das tun sie sicherlich auch monetär, wichtiger ist jedoch ihr subsidiärer Charakter. Subsidiarität ist aus Sicht der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) ein gesellschaftliches Ordnungsprinzip, das die Freiheit schützt.

Ein letzter Punkt kommt hinzu: In einer zunehmend digitalisierten und individualisierten Welt sind freiwillige Dienste und Ehrenamt auch ein Ausdruck gelebter Solidarität. Wir sind eine teilhabeorientierte Gesellschaft. Über Teilhabe entstehen neue Formen von Engagement und Gemeinschaft, auch im digitalen Bereich. Teilhabe und Engagement sind eine große Chance, der Vereinsamung entgegenzuwirken, weil man die Möglichkeit hat, sich auf diese Weise einzubringen, und bieten übrigens auch eine große Chance in der Herkulesaufgabe der Integration von Zuwanderern. Dort, wo sich freiwillige Dienste und ehrenamtliche Arbeit für Migranten und Zuwanderer öffnen, gelingt die Integration schneller und gründlicher.

 

Vollbeschäftigung fördert Engagement

 

Allerdings leben das Ehrenamt und die freiwilligen Dienste von bestimmten Voraussetzungen. Eine erste Voraussetzung ist eine intakte Arbeits- und Sozialstruktur. Als der österreichisch-amerikanische Soziologe Paul Felix Lazarsfeld in den 1930er-Jahren seine Studie Die Arbeitslosen in Marienthal – einen Klassiker der empirischen Soziologie – anfertigte,1 machte er eine verblüffende Entdeckung: In dem österreichischen Ort Marienthal hatte es nach der Schließung einer großen Fabrik eine hohe Zahl von Arbeitslosen gegeben. Lazarsfeld fand heraus, dass die Wirkungen der Langzeitarbeitslosigkeit nicht nur individuelle Schicksale betrafen, sondern tief in den sozialen Zusammenhalt einschnitten. Stück für Stück zersetzte sich der soziale Zusammenhalt; es kam auch zur Auflösung von Vereinsstrukturen.

Lazarsfelds Befund ist in vielen anderen Studien bestätigt worden. Dort, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist, sinkt die Bereitschaft für freiwillige Dienste oder ehrenamtliches Engagement. Umgekehrt bedeutet dies: Eine gute Beschäftigungslage ist auch eine gute Voraussetzung für alle Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements. Mehr noch: Viele Untersuchungen zeigen, dass diese Bereitschaft in der Altersgruppe der Vierzig- bis Sechzigjährigen, die einen Beruf ausüben und mitten im Leben stehen, besonders hoch ist. Vollbeschäftigung fördert also ehrenamtliches Engagement und freiwillige Dienste, hohe Arbeitslosigkeit führt zu einer Abnahme der Bereitschaft, sich zu engagieren.

Eine zweite Voraussetzung ist staatliche Hilfe. Dies betrifft im elementarsten Sinn den Schutz von Diensten und Ehrenamt. Erst kürzlich hat der Spiegel eine Titelgeschichte über die zunehmende Verrohung der Gesellschaft publiziert.2 Zunehmend werden Polizisten und Feuerwehrleute, Ärzte, Krankenschwestern und andere Helfer bedroht, angegriffen, in ihrer Arbeit behindert. Es ist richtig, ein solches Verhalten unter verschärfte Strafandrohung zu stellen, weil es asoziales Verhalten zeigt, das dem Dienen und dem Ehrenamt diametral entgegensteht und im Namen eines hemmungslosen Egoismus Grenzen auslotet.

 

Rücksichtslosigkeit und Verrohung der Gesellschaft

 

Rettungseinsätze werden ohne Rücksicht gefilmt, auch wenn die Rechte der Opfer dadurch mit Füßen getreten werden oder die Arbeit der Rettungskräfte erschwert wird; Einsatzkräfte werden behindert, bedroht und geschlagen. Der Staat muss klarmachen: Wer so etwas tut, stellt sich außerhalb der Rechtsordnung und außerhalb jeglicher Gemeinschaft. Man mag darüber streiten, ob ein solches Verhalten nicht auf einen falsch verstandenen Liberalismus setzt und Durchsetzungswillen, Erfolg und Egoismus höher bewertet als Mitmenschlichkeit, Zusammenhalt und gegenseitige Hilfe. Damit wird das Gegenteil von Dienen und Ehrenamt markiert: die Herrschaft der „Ichlinge“.

Eine weitere Dimension staatlicher Hilfe ist die finanzielle Förderung. Vor allem im Bereich des Ehrenamts ist sie entscheidend, denn sie entspricht dem Gebot der Subsidiarität und bedeutet ja nicht nur ein Kompetenzanmaßungsverbot, sondern auch ein Hilfestellungsgebot. Der Staat ist also verpflichtet, subsidiäre Strukturen zu unterstützen. Dies erfolgt durch die Finanzierung von Infrastruktur (etwa bei den Freiwilligen Feuerwehren) bis hin zu Vergünstigungen für ehrenamtliche Tätigkeit, etwa durch eine Ehrenamtscard mit verbilligtem Zugang zu öffentlichen Leistungen. Wichtig ist jedoch auch: Das Ehrenamt darf nicht missbraucht werden, um staatliche Strukturen zu ersetzen.

Auch die Wirtschaft kann einen Beitrag zur Stärkung des Ehrenamtes leisten. Hier sind noch viele Gestaltungsspielräume offen. In ehrenamtlichen Strukturen wird Führung und Organisation gelernt und umgesetzt. Im Zuge des Ehrenamts erworbene Erfahrungen können auch für die berufliche Welt wichtig sein, obwohl sie dort kaum abgefragt werden. Warum können Führungserfahrungen aus dem ehrenamtlichen Bereich nicht stärker ins Berufsleben übertragen werden? Warum kann bei Einstellungen oder Beförderungen nicht auch eine Rolle spielen, ob sich ein Bewerber ehrenamtlich engagiert? Ich habe viele Jahre an einer kanadischen Universität gelehrt. Dort flossen in die Gehaltsfestsetzung nicht nur Lehre und Forschung, sondern auch „community service“ mit ein – warum sollte das nicht auch für deutsche Arbeitgeber ein sinnvolles Kriterium sein?

Bürgerschaftliches Engagement kennt viele Formen: Themenanwaltschaft, organisierte Selbsthilfe, Dienstleistung, als Form der Gemeinschaftsbildung, als Mitgestaltung der Politik vor allem auf kommunaler Ebene und in den Parteien. Die Formen des Engagements sind dabei in den letzten Jahrzehnten flüssiger und vielfältiger geworden.

Die Enquetekommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ des Deutschen Bundestages hat dies schon 2002 festgestellt und als Folgeprojekt die sogenannten Freiwilligensurveys auf den Weg gebracht, die Höhe, Formen und Bereiche des freiwilligen Engagements in Deutschland einschätzen. Allerdings vollziehen sich die Formen dieses Engagements eben nicht mehr in herkömmlichen Institutionen wie Vereinen oder Parteien. Das merkt man vor Ort, wenn – trotz hervorragender Jugendarbeit – Vereine über Nachwuchsmangel klagen. Das merken auch die Parteien. Die Mitgliederzahl der großen Volksparteien hat sich in den letzten drei Jahrzehnten mehr als halbiert.

 

„Fridays for Future“

 

Aus Umfragen wissen wir, dass gerade in der jungen Generation die Bereitschaft, sich mit gesellschaftlichen und politischen Fragen auseinanderzusetzen, in den letzten zwanzig Jahren wieder deutlich ansteigt.3 Jugendlichen ist es wieder wichtiger, sich sozial zu engagieren, sich für Fragen des Umweltschutzes einzusetzen. Das erleben wir aktuell bei den Demonstrationen „Fridays for Future“. Wie geschärft das gesellschaftliche Problembewusstsein ist, haben viele Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag erfahren, als es um die Frage der sogenannten Uploadfilter ging: Die Zahl der Zuschriften gerade von Jugendlichen in dieser Frage war ausgesprochen hoch.

Es gibt also ein gesellschaftliches Problembewusstsein, das sich auch in der Bereitschaft zu gesellschaftlichem Engagement konkretisiert, oftmals anlassbezogen, vielleicht auch spontan und urwüchsig, jedenfalls aber abseits der herkömmlichen institutionellen Strukturen. Hier ist Klugheit gefragt, Plattformen in den Parteien zur Verfügung zu stellen, um diese Energien zu kanalisieren und für die politische Arbeit nutzbar zu machen. Jedenfalls wird man argumentativ bei den „Fridays for Future“-Demonstrationen nicht weit kommen, wenn man sich lediglich auf die Einhaltung der Schulpflicht zurückzieht und damit den Fall für erledigt hält. Hier erwarten junge Menschen deutlich mehr von den etablierten Parteien. Und was können wir von den jungen Menschen erwarten? Vielleicht den Enthusiasmus, die Welt zu verändern. Das ist zumindest ein guter Antrieb für Politik.

Ein Punkt in der Landschaft des Ehrenamts bereitet allerdings Sorge: die ungleiche geografische Verteilung ehrenamtlichen Engagements in der Bundesrepublik. Vereinfacht formuliert: Je wohlhabender eine Region, desto höher ist der Anteil der ehrenamtlich Engagierten. Dem liegt kein Stadt-Land-Gefälle zugrunde, weil zu den Regionen mit einem niedrigen Anteil Engagierter auch die Städte Berlin und Bremen gehören. Dieses „Raumordnungsdilemma“4 scheint ein Nachhall der Forschungen von Paul Felix Lazarsfeld zu sein. Auf jeden Fall sollte die Regierungskommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“, die unter dem Vorsitz des Bundesministers des Innern, für Bau und Heimat ihre Arbeit aufgenommen hat, sich dieser Problematik widmen. Wenn es richtig ist, dass wirtschaftliche Prosperität und die Bereitschaft zu zivilgesellschaftlichem Engagement wie zwei kommunizierende Röhren funktionieren, würde die besondere Förderung von Engagement in strukturschwachen Regionen auch einen Baustein für die wirtschaftliche Gesundung liefern können.

 

Lästige Hürden beseitigen

 

Die Förderung des Ehrenamts und des bürgerschaftlichen Engagements ist eine Daueraufgabe. Wir haben mit zwei großen Gesetzen 2007 und 2013 die Rahmenbedingungen verbessert. Daran wollen wir anknüpfen und durch einen Abbau bürokratischer Hemmnisse wie etwa Nachweispflichten und einer Vereinfachung von Antragsverfahren im Zuwendungsrecht lästige Hürden beseitigen. Bei der Gesetzesfolgenabschätzung sollen künftig auch die Auswirkungen auf das Ehrenamt und das bürgerschaftliche Engagement betrachtet werden. Wir wollen Beratungsangebote für Ehrenamtler ausbauen, etwa durch eine Ehrenamtsstiftung oder eine bundesweite Ehrenamts-Hotline. In den Blick zu nehmen ist auch der Sanierungsstau in der Infrastruktur, bei Sportanlagen, Schwimmbädern und gemeinnützigen Begegnungsorten. All dies wird jedoch nichts nützen ohne eine Stärkung der Anerkennungskultur, in der sich die Wertschätzung für bürgerschaftliches Engagement und ehrenamtliche Dienste ausdrückt. Wir können vielleicht nicht, gemäß dem Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde, die Quellen jener normativen Selbstbindung reproduzieren, von denen der moderne Staat lebt. Aber wir können – und sollten – es zumindest versuchen.

 

1 Paul Felix Lazarsfeld et al.: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, Erstveröffentlichung 1933.

2 „Tierisch wütend: Warum so viele Menschen im Alltag die Nerven verlieren und ausrasten“, in: Der Spiegel 12/2019, 16.03.2019.

3 Thomas Gensicke: „Jugend: Partizipation und Engagement im Wandel“, in: Rolf Frankenberger / Siegfried Frech (Hrsg.): Soziale Milieus. Lebenswelten in Deutschland, Schwalbach/Ts. 2017, S. 203–216.

4 Begriff bei Anna Butzin und Stefan Gärtner: „Bürgerschaftliches Engagement, Koproduktion und das Leitbild gleichwertiger Lebensbedingungen“, in: Raumforschung und Raumordnung, Nr. 6/2017, S. 513–526.

 

Matthias Zimmer, geboren 1961 in Marburg, 2017 bis Januar 2018 Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Deutschen Bundestag, seit 2018 Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Ausschuss für Arbeit und Soziales.

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