Asset-Herausgeber

Interview: In allen Lebenslagen

von Gerda Hasselfeldt

DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt über ehrenamtliches Engagement und internationale Katastrophenhilfe

Asset-Herausgeber

Vielfach wird behauptet, unsere Gesellschaft werde immer egoistischer und der gesellschaftliche Zusammenhalt schwinde. Wie erleben Sie das beim Roten Kreuz?

Gerda Hasselfeldt: Ich erlebe es tatsächlich anders. Wir haben mittlerweile 435.000 ehrenamtlich Tätige. Im Vergleich zu den vergangenen Jahren ist die Zahl der freiwillig Engagierten nochmals gestiegen. Wir beobachten, dass oft nicht die langfristige Bindung an eine Organisation, sondern die spontane Hilfe im Mittelpunkt steht. Wir haben das bei der Flüchtlingsproblematik erlebt, erleben es aber auch im sozialen Wohlfahrtsbereich, wo die Menschen sagen, da kann ich helfen mit meinen Erfahrungen, mit meinen Kenntnissen, aber ich will mich nicht unbedingt dauerhaft binden. Aber das Engagement grundsätzlich, der Blick auf Hilfebedürftige, ist zweifellos in unserer Gesellschaft vorhanden.

Das Deutsche Rote Kreuz handelt nach den sieben Grundsätzen der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung. Welche Grundsätze sind dies und welche Bedeutung haben sie für Ihre Arbeit?

Gerda Hasselfeldt: Die sieben Grundsätze sind Menschlichkeit, Freiwilligkeit, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, Neutralität, Einheit und Universalität. Ich lege ganz besonderen Wert auf die Grundsätze der Neutralität, der Unparteilichkeit und der Unabhängigkeit, denn durch sie wird deutlich, dass wir allen Menschen helfen, die Hilfe brauchen, egal, woher sie kommen oder ob die Betroffenen selbstverschuldet in eine Notlage geraten sind. Wir helfen nach dem Maß der Not und nicht danach, woher der Betroffene kommt, welche Hautfarbe oder politische Gesinnung er hat.

Das DRK ist als anerkannter Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege auf sehr vielen verschiedenen Feldern aktiv. Wo liegen die Schwerpunkte?

Gerda Hasselfeldt: Meines Erachtens muss man beim Roten Kreuz immer das gesamte Spektrum sehen. Wenn man einen Teil herausgreifen würde, würde man dem gesamten Auftrag der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung, die weltweit tätig ist, nicht gerecht werden. Zu unseren Aufgaben gehört der Rettungsdienst genauso wie der Blutspendedienst oder die Hilfe in humanitären Fragen im In- und Ausland.

Wir begleiten die Menschen letztlich von der Kita bis zur Pflegeeinrichtung in allen Lebenslagen, in denen sie Hilfe brauchen – ob bei Unfällen, Katastrophen, Krisenfällen oder auch bei Fragen psychischer Belastungen. Das Feld ist ein so breites, wie ich es mir in Zeiten, in denen ich dieses Amt noch nicht innehatte, nicht habe vorstellen können. Diese breite Palette der Tätigkeiten im In- und Ausland, letztlich für Menschen in Not weltweit, ist schon einmalig.

Gibt es Bereiche, die in Zukunft stärker ausgebaut werden müssen, weil die Gesellschaft sich verändert?

Gerda Hasselfeldt: Die Arbeit des Roten Kreuzes verändert sich aufgrund der gesellschaftspolitischen Bedingungen. Durch den hohen Flüchtlingszustrom war in den vergangenen Jahren die Arbeit in der Migrations- und Integrationsarbeit stärker gefordert. Ein zweiter Schwerpunkt liegt im Bereich der Pflege. In den letzten Jahren sind aufgrund der demografischen Entwicklung unsere Aktivitäten im Pflegebereich größer geworden, aber auch unsere Angebote an Kindertagesstätten. Auch hier ist vonseiten der Gesellschaft ein größerer Bedarf erkennbar.

Wo kommen gesellschaftlicher Zusammenhalt und Gemeinwohl bei der Arbeit des Roten Kreuzes zum Ausdruck?

Gerda Hasselfeldt: Gesellschaftlicher Zusammenhalt wird durch die Helferinnen und Helfer an der Basis in den Ortsvereinen gelebt. Zum Beispiel dann, wenn das Rote Kreuz bei Konzerten, in Fußballstadien und bei anderen öffentlichen Großveranstaltungen permanent mit einem Sanitätsdienst vertreten ist, der ehrenamtlich geleistet wird. Oder bei Unfällen, wenn Hauptamtliche und Ehrenamtliche Hilfebedürftigen zur Seite stehen. Ich finde, das ist nicht nur vom DRK, sondern auch von den Feuerwehren, vom Technischen Hilfswerk und anderen Hilfsorganisationen eine großartige Leistung.

Auch bei Naturkatastrophen, wo schnell und unbürokratisch geholfen wird, kommt dieser Zusammenhalt zum Ausdruck. Verschiedene Hilfsorganisationen arbeiten in solchen Fällen eng zusammen, denn eine Hilfsorganisation allein könnte das oft nicht leisten. In diesen Situationen wird gesellschaftlicher Zusammenhalt besonders deutlich.

Auf der anderen Seite finden bei Einsätzen der Feuerwehr, Polizei, aber auch bei Krankentransporten Angriffe auf Menschen statt, die helfen möchten. Ist das ein Thema beim Roten Kreuz?

Gerda Hasselfeldt: Das ist sehr wohl auch ein Thema bei uns. Leider! Helfer berichten immer wieder, dass Menschen, die an Unfallstellen kommen, zuerst einmal Fotos mit ihrem Smartphone machen, bevor sie überlegen, ob sie helfen können. Die Bildung von Rettungsgassen im Straßenverkehr ist ebenfalls ein Thema, denn jede Sekunde zählt, damit die Rettungskräfte zu den Verletzten durchkommen.

Wir begegnen dieser Herausforderung mit Maßnahmen zur Qualifizierung unserer Helferinnen und Helfer, auch mit Strategien der Deeskalation, insbesondere bei tätlichen Angriffen. Häufig kommen die Helfer auch zu Menschen, die alkoholisiert oder durch Drogenmissbrauch nicht voll zurechnungsfähig sind und dann erst recht zu Gewaltausbrüchen neigen. Wir schulen unsere Helferinnen und Helfer, damit sie solche Situationen bewältigen können.

Wie ist das Zusammenspiel zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen?

Gerda Hasselfeldt: Bei uns arbeiten derzeit etwa 175.000 Haupt- und 435.000 Ehrenamtliche – mit steigender Tendenz. Ich finde das sehr erfreulich, und es macht deutlich: Wir sind kein Volk von Egoisten, sondern eine Gesellschaft, die sehr wohl weiß, dass wir aufeinander angewiesen sind.

Die meisten Ehrenamtlichen sind in den sogenannten Gemeinschaften des DRK tätig; das sind die Bereitschaften, die Wasserwacht, die Bergwacht, das Jugendrotkreuz und die Sozial- und Wohlfahrtsarbeit. In anderen Bereichen wie beispielsweise den Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern und Kindertagesstätten überwiegen die hauptamtlichen Kräfte. Auch da haben wir aber zur Unterstützung ehrenamtliche Helfer. Auch im Rettungsdienst funktioniert das Zusammenspiel von hauptamtlich und ehrenamtlich Verantwortlichen gut. Beide brauchen einander. Die einen sind nicht der Ersatz für die anderen, sondern sie sind Ergänzung, und bei manchen – wie in der Berg- oder Wasserwacht und im Sanitätsdienst – gibt es vor Beginn der Tätigkeit anspruchsvolle Ausbildungen. Nicht jeder kann in der Bergwacht ehrenamtlich tätig sein, wenn er nicht die notwendigen Sportarten und Qualifikationen vorweisen kann.

Sie hatten bereits erwähnt, dass sich beim ehrenamtlichen Engagement etwas verändert hat. Inwiefern?

Gerda Hasselfeldt: Die Zahl der ehrenamtlich Tätigen geht – mit regionalen Unterschieden – nach oben. Insgesamt glaube ich aber, dass wir in unseren Bemühungen, mehr Ehrenamtliche zu gewinnen, nicht nachlassen dürfen. Die Gesellschaft wird älter, und mittlerweile sind in der aktiven Berufswelt mehr Frauen tätig, als das vor zwanzig Jahren der Fall war. Früher haben sich die Frauen leichter neben Beruf und Familie ehrenamtlich engagieren können. Das ist heute in dem Maße nicht mehr möglich.

Andererseits haben wir durch die demografische Entwicklung mehr rüstige Senioren als früher. Ich glaube, dass die Senioren ein großes Potenzial sind, nicht nur für die Arbeit im Deutschen Roten Kreuz, sondern insgesamt für das ehrenamtliche Engagement in unserer Gesellschaft. Die Menschen, die berufliche Erfahrung haben und noch rüstig sind, können durch ihr Engagement nicht nur der Gesellschaft etwas geben, sie können umgekehrt auch Dankbarkeit und Sinngebung erfahren. Durch ihr Engagement sind sie in die Gemeinschaft eingebunden. Ich glaube, das ist für einen persönlich ein hoher Mehrwert. Diesen Mehrwert den Menschen zugänglich zu machen, ihn wertzuschätzen und den Menschen zu zeigen, das ist etwas für dich, das ist eine wichtige Aufgabe.

Welche Rolle spielen beim Roten Kreuz die Ortsverbände?

Gerda Hasselfeldt: Bei uns spielen die Orts- und Kreisverbände eine große Rolle, weil wir föderal organisiert sind. Die Kreisverbände bieten ihre Dienstleistungen, zum Beispiel eigene Pflegeeinrichtungen, Kitas, ambulante Pflegedienste oder Essen auf Rädern, selbstständig nach unseren Grundsätzen an. Sie sind selbst verantwortlich dafür, obwohl sie vonseiten der Landesverbände und von unserer Seite aus fachlich unterstützt werden.

Sie sind nicht Befehlsempfänger, sondern tragen letztlich ganz wesentlich zum breiten Erfolg des Deutschen Roten Kreuzes und unserer lokalen Verankerung bei – mit der Konsequenz, dass nicht in jedem Kreisverband dasselbe angeboten wird. In dem einen Kreisverband überwiegen die Einrichtungen im Pflegebereich, in einem anderen der Rettungsdienst.

Wie wichtig ist Ihnen die Nachwuchsförderung?

Gerda Hasselfeldt: Das Jugendrotkreuz ist für mich persönlich besonders wichtig. Letztlich ist das die Zukunft des Deutschen Roten Kreuzes. Alles, was dort investiert wird, ist meines Erachtens bestens angelegt. Die Kinder und Jugendlichen werden beim Jugendrotkreuz nicht nur an den Sanitätsdienst herangeführt; sie werden auch im Sinne unserer Grundsätze dazu motiviert, zu helfen und nicht nur sich selbst, sondern immer auch die Gemeinschaft zu sehen. Ich bin wirklich stolz auf das Jugendrotkreuz mit seinen 135.000 Mitgliedern und die Arbeit, die dort geleistet wird.

In Berlin ist kürzlich in einem Stadtviertel für einen längeren Zeitraum der Strom ausgefallen. Ist Deutschland beim Zivil- und Katastrophenschutz gut aufgestellt?

Gerda Hasselfeldt: Ich glaube, dass in dieser Frage zweifellos Nachholbedarf besteht. Wir sehen uns heute anderen Gefährdungen gegenüber als noch vor einigen Jahren. Der Stromausfall ist ein Beispiel. Wir müssen aber mit Cyber-Angriffen auf unsere gesamte Infrastruktur rechnen, auch auf Gesundheitseinrichtungen, mit möglicherweise längerfristigen Störungen. Für diese Situationen sind wir nicht vollständig gerüstet. Das gilt auch für Extremwetterlagen, die im Zuge des Klimawandels zunehmen werden.

In der Flüchtlingssituation des Jahres 2015 haben wir einen Vorgeschmack davon bekommen, wie schwierig es ist, kurzfristig Hunderttausende Menschen unterbringen und versorgen zu müssen. Aufgrund dieser Erfahrungen kamen die Hilfsorganisationen unter Federführung des DRK zu dem Ergebnis, dass ein Programm zum nationalen Krisenmanagement erarbeitet werden muss, um den Staat für solche Fälle fit zu machen. Dieses Konzept liegt vor. Es wurde bereits mit Fachpolitikern diskutiert. Ich stehe derzeit in Verhandlungen mit dem Bundesinnenministerium über die finanzielle Unterlegung einer sogenannten Bundesvorhaltung – da geht es beispielsweise um Materiallager für Zelte, Feldbetten, Decken, Hygieneartikel und Wasseraufbereitungsanlagen, also um all das, was man für solche Notfälle braucht.

Nach dem Grundsatz der Universalität ist das DRK auch in der internationalen Katastrophenhilfe engagiert. In welchen Ländern sind Sie zurzeit im Einsatz?

Gerda Hasselfeldt: Wir sind in rund fünfzig Ländern aktiv, in einigen bereits sehr lange, wie in Syrien. Seit mehreren Jahren sind wir auch im Jemen und in Bangladesch tätig. Wir helfen außerdem bei plötzlich auftretenden Naturkatastrophen wie jetzt nach den Wirbelstürmen im März und im April in Mosambik.

Unsere Erfahrung zeigt, dass die Spendenbereitschaft bei Naturkatastrophen im Ausland besonders groß ist, wenn die Medien ausführlich darüber berichten. Wir brauchen aber auch finanzielle Unterstützung, wenn das Medieninteresse abflaut. Das können wir aus eigenen Mitteln nicht leisten. Hierfür benötigen wir Spenden und Mittel der öffentlichen Hand.

Die Auslandshilfe des Deutschen Roten Kreuzes gilt als eine der leistungsfähigsten weltweit?

Gerda Hasselfeldt: Es ist in der Tat so, dass wir international als eine der leistungsfähigsten nationalen Gesellschaften innerhalb der Rotkreuz-Bewegung gelten. Wir brauchen für unsere Einsätze im Ausland zum einen die Menschen, die bereit sind, in Krisengebiete zu gehen. Das ist bei uns nach wie vor der Fall. Wir brauchen aber auch die entsprechenden finanziellen Mittel.

Wir arbeiten immer mit den nationalen Hilfsgesellschaften des Roten Kreuzes oder des Roten Halbmondes vor Ort zusammen. Ein Beispiel: Wir haben in Bangladesch im größten Flüchtlingslager der Welt lange Zeit ein Feldhospital personell unterstützt, das organisatorisch unter der Leitung des Finnischen Roten Kreuzes stand. Das zeigt, dass die internationale Zusammenarbeit in solchen Fällen gut funktioniert und jede nationale Rotkreuz-Organisation ihre spezifischen Ressourcen und ihr besonderes Know-how einbringen kann.

In diesem Jahr feiern wir den 70. Jahrestag des Grundgesetzes. Durch die gesamte Geschichte der Bundesrepublik hat uns der DRK-Suchdienst begleitet. Wird immer noch nach Vermissten aus dem Zweiten Weltkrieg gesucht?

Gerda Hasselfeldt: In der Tat, ja. Wir haben immer noch jährlich etwa 9.000 neue Anfragen an den DRK-Suchdienst in Bezug auf Vermisste und Gefallene infolge des Zweiten Weltkrieges. Das ist eine Größenordnung, die mich persönlich auch selbst erstaunt hat. Es sind überwiegend Angehörige von Menschen, die im Zweiten Weltkrieg vermisst, in Gefangenschaft geraten oder ums Leben gekommen sind, die zum Beispiel wissen wollen, was mit ihrem Vater oder Großvater geschehen ist. Durch die Öffnung russischer Archive gibt es dazu auch immer wieder neue Erkenntnisse. Im vorletzten Jahr ist es uns sogar gelungen, zwei Geschwister, die während des Kriegs im Kindesalter getrennt wurden, wieder zusammenzuführen. Das ist ein menschlich und emotional sehr ergreifendes Erlebnis.

Gerda Hasselfeldt, geboren 1950 in Straubing, Bundesministerin a. D., 2005 bis 2011 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, März 2011 bis September 2017 Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, seit Dezember 2017 ehrenamtliche Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK).

Das Gespräch führte Ralf Thomas Baus am 4. April 2019.


comment-portlet