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"Die gemeinsame Wurzel war der Hohe Meißner" – 100 Jahre Jugendbewegung
Ein Gespräch mit Prof. Bernhard Vogel über den Bund Neudeutschland
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Im Oktober 1913 versammelten sich zwei bis drei Tausend Jugendliche auf dem Hohen Meißner bei Kassel zum ersten „Freideutschen Jugendtag“. Es war die Geburtsstunde der deutschen Jugendbewegung. Aus ihr ging im Juli 1919 auch der Bund Neudeutschland hervor, eine vom Kölner Erzbischof Felix Kardinal von Hartmann kurz vor seinem Tod gegründete, katholische Jugendorganisation. Nach wenigen Monaten hatte der Bund bereits 10.000 Mitglieder in 100 Ortsgruppen. Nach einem Jahr belief sich die Mitgliederzahl auf 25.000. Zu ihnen gehörten im Lauf des 20. Jahrhunderts auch viele prominente christlich-demokratische Politiker wie Josef Rommerskirchen, Ernst Majonica, Hans Katzer, Alois Mertes, Adolf Süsterhenn und Rainer Barzel. 1923 erschien in einem Rundbrief die erste Fassung des so genannten Hirschberg-Programms, in dem der Bund sich zu einer eng mit der katholischen Kirche verbundenen Gemeinschaft bekannte und zu einer neuen Lebensgestaltung in Christus verpflichtete. Über die Ideen des Bundes sprachen wir mit dem Ehrenvorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung, Prof. Dr. Bernhard Vogel, der seit rund 70 Jahren Mitglied im Bund Neudeutschland ist.
Herr Prof. Vogel, was zeichnete den Bund Neudeutschland aus?
Der Bund Neudeutschland war eine Frucht der aufbrechenden Jugendbewegung. Die Erneuerung Deutschlands war die übergeordnete Idee. Die Jugendbewegung war jedoch zunächst nicht katholisch geprägt. Sie war eine äußerst heterogene Bewegung, die Anfang des 20. Jahrhunderts aufkam. Die gemeinsame Wurzel war das Treffen auf dem Hohen Meißner 1913 und der damit verbundene Aufbruch aus dem Wilhelminischen Deutschland. Gemeinsam waren Lager und Fahrt, die blaue Blume, die Sehnsucht nach einer anderen Lebensart. Gleichwohl trennte die Jugendbewegung, dass die einen Karl Marx und wir die Bibel gelesen hatten.
Die Gründung des katholisch geprägten Bund Neudeutschland durch den Kölner Erzbischof Felix von Hartmann im Jahr 1919 war im Rückblick der notwendige und erfolgreiche Versuch, die Entwicklung der Jugendbewegung nicht nur linken oder sonstigen bürgerlichen Gruppen zu überlassen, sondern auch kirchlich tätig zu werden. Der herausragende Repräsentant der katholischen Jugend bis zum Endes des Zweiten Weltkrieges war Prälat Ludwig Wolker, der aus München stammte und nach dem Krieg zum Rektor von Altenberg wurde. Er ist für das Verständnis der damaligen Zeit äußerst wichtig, weil er eine Führungspersönlichkeit der katholischen Jugendarbeit war.
Wie kamen Sie persönlich zum Bund Neudeutschland?
Im Grunde bin ich durch eine Reihe von Zufällen dazu gekommen. Ich lebte damals noch in Gießen. Dort gab es nur ganz wenige Katholiken. Im Religionsunterricht waren wir fünf Schüler, den Religionsunterricht hielt der Pfarrer der einzigen Pfarrgemeinde, die es damals gab. Nach Kriegsende, bedingt durch die vielen Zerstörungen, war jeglicher Kontakt zur Pfarrei abgerissen. In der Schule aber gab es einen Klassenkameraden, der mich auf die katholische Jugend und die Kirche ansprach. Dann erschien eines Tages der Geistliche für die Jungengemeinschaft, Regens Kuch aus Hadamar. Er drückte mir ein Hirschberg-Programm in die Hand und sagte, ich müsse eine Gruppe an der Pfarrei in Gießen gründen. Diese Gruppe entstand dann tatsächlich, wobei das Hirschberg-Programm ausschlaggebend für mich war. 1949 ging ich dann nach München. Dort war die Situation völlig anders, weil der Bund dort stärker verankert war. Ein herausragendes Erlebnis war der 30. Geburtstag des Bundes Neudeutschland im selben Jahr, der mit einem großen Zeltlager in Fulda begangen wurde. Ein Jahr später sind wir von München mit einem Sonderzug nach Rom gefahren. Das war ein ungewöhnliches Ereignis, da ich zum ersten Mal in meinem Leben über die deutsch-schweizerische Grenze kam. Das war vorher nicht möglich. Für alle blieb diese Fahrt nach Rom in lebhafter Erinnerung, und man fragte sich noch viel später: Warst Du auch dort damals?
Die Münchener Zeit bedeutete aber auch einen Bruch. Denn in Gießen spielte sich alles in der Diaspora-Pfarrei ab. In München hat sich alles im Bund Neudeutschland abgespielt, denn es gab dort eine Tradition des Bundes, und die haben wir fortzusetzen versucht, indem wir ein Heim für Gruppenstunden aus einem bombenbeschädigten Haus wieder aufgebaut haben. Der Bund hatte jedoch kaum Verbindung zur Pfarrei. Deshalb hatte ich in München so gut wie keinen Kontakt mehr zur Pfarrei.
In Bad Brückenau entstand bereits 1948 eine revidierte Fassung des Hirschberg-Programms. Waren Sie damals zugegen?
Bad Brückenau ist heute ein Bad an der fränkisch-thüringischen Grenze. Dort traf sich damals jedes Jahr der erst entstehende Männerring des Bundes. 1948 war ich nicht dabei, nein. Ich war noch viel zu jung, um dem Männerring anzugehören. Aber durch mein intensives Engagement in München war ich ab etwa 1950 eingeladen. In Bad Brückenau wurden, wie bis in die Gegenwart hinein üblich, intensiv Programm¬reformen beraten. Deswegen gibt es auch so viele verschiedene Fassungen des Hirschberg-Programms, wenn sich auch an seiner Kernaussage: „Neue Lebensgestaltung in Christus“ nichts geändert hat. Nach 1945 gab es eine heftige kontroverse Diskussion, weil eine erhebliche Zahl von Bischöfen nur die Pfarrjugend, aber nicht einzelne Jugendorganisationen wieder entstehen lassen wollten.
Unser härtester Gegner war der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber. Er war strikt dagegen, den Bund wieder zuzulassen. Die Gründung des Bundes war vom ersten Tag an vor allem im Westen und Norden Deutschlands sehr stark durch den Jesuitenorden unterstützt worden, insbesondere von Pater Ludwig Esch in Köln und Pater Manuwald aus Mainz. Ihre Christuskreise hatten einen starken spirituellen Einfluss auf uns. Auch lag unsere Verwurzelung in erster Linie in den Schulen. Unsere Geistlichen waren in der Regel Religionslehrer, keine Pfarrer.
Wie war das Verhältnis zu anderen katholisch geprägten Jugendorganisationen?
Ein kooperatives Verhältnis zu damals jungen und mit der Jugendbewegung groß gewordenen Gruppierungen bestand kaum. Von den meisten wollten wir nichts wissen. Eher konservativ geprägte Bewegungen wie die Marianische Congregation wurden von uns heftig bekämpft. Viele von uns gingen während ihrer Studienzeit zu katholischen Studentenverbindungen wie dem CV, dem UV oder dem KV. Bruno Heck zum Beispiel. Für uns erschien das wie ein Verrat an der Sache. Unser Anspruch in dieser Zeit war, die katholischen Gymnasiasten für den Bund Neudeutschland zu gewinnen.
Wer prägte den jungen Bernhard Vogel zu dieser Zeit?
Der in München lehrende Religionsphilosoph und Theologe Romano Guardini hat nicht nur für den Bund, sondern auch für mich persönlich eine Rolle gespielt. Direkt nach dem Krieg prägten mich in zunehmendem Maße Bücher. Das erste Buch, an dessen Lektüre ich mich erinnere, war „Der SS-Staat“ von Eugen Kogon. Eine wichtige Lektüre zu Beginn meines Studiums war Karl Dietrich Brachers Band „Die Auflösung der Weimarer Republik“. Das waren zwei für mich sehr entscheidende Bücher. Geprägt hat mich jedoch auch der Hunger. Wir hatten kaum ein Dach über dem Kopf, und wir waren abhängig von den Alliierten. Unsere Lehrer mussten zunächst entnazifiziert werden. Sie durften vorerst nicht in der Schule unterrichten, wir mussten zu den Lehrern nach Hause. Natürlich haben wir nach und nach begriffen, dass nicht alle von ihnen Nazigegner waren.
War Europa damals schon ein Thema für den Bund Neudeutschland?
Meiner Erinnerung nach war sowohl die übrige Welt als auch Europa zunächst kein vorrangiges Thema. Anfang der 1950er Jahre fing es an. Es kam zu ersten Begegnungen mit französischen Jugendlichen. Zuvor konnte kaum jemand seine Zone verlassen. Man lebte in seiner Zone, und es war z. B. viel schwieriger, von Mainz nach Wiesbaden zu kommen, als von Bad Hersfeld nach Eisenach.
Wie stand es um die Nähe zu politischen Parteien?
Eine besondere Nähe zu einer politischen Partei und deren Organisation hat es für mich relativ lange nicht gegeben. Obwohl ich in München ND-Gruppenführer war. Meine aktivste Zeit war im Hochschulring, der damals eine große Rolle spielte, weil aus Abiturienten in großer Zahl Studenten wurden. Doch auch da waren die Parteien weit weg. Man wählte CDU oder CSU, aber nicht als Ergebnis eines Klärungsprozesses, sondern aus reiner Selbstverständlichkeit heraus. Erschüttert hat uns der Fall Peter Nellen, ein Vorzeigemitglied des Bundes, der erste ND-Bundestagsabgeordnete aus Münster. Münster hatte für den Bund Neudeutschland eine besondere Bedeutung. Nellen trat aus der CDU/CSU-Fraktion wegen der Wiederbewaffnung Deutschlands aus und wechselte zur SPD. Seilschaften hingegen hat es eigentlich nicht gegeben, weil der Bund für große Netzwerke nicht bedeutend genug war. Ich erinnere mich zum Beispiel noch genau, wie ich Klaus Töpfer gewann. Er war damals Professor in Hannover, und ich suchte dringend nach einem Staatssekretär, der etwas von Umwelt verstand. Man nannte mir den Namen Klaus Töpfer. Ich bat ihn, nach Mainz in die Staatskanzlei zu kommen. Erst dort erfuhr ich von ihm, dass er ebenfalls zum Bund Neudeutschland gehörte. Freilich hat das meine Sympathie für ihn noch gesteigert. Aber seine Mitgliedschaft war nicht ausschlaggebend für das Amt, das ich ihm übertrug.
Was bleibt?
Die Jugendbewegung ist Geschichte. Sie, meine Herren Gesprächspartner, haben keine Krawatte mehr an und sind dennoch keine Revolutionäre. Einstmals war das revolutionär. Sie können es tragisch nennen, dass die alte Jugendbewegung der Vergangenheit angehört, für mich ist es das nicht. Die Impulse von 1919 haben ein Jahrhundert mitgeprägt. Heute sind andere, neue Ideen gefragt. Wir müssen nicht nur unser Land, wir müssen Europa vor Augen haben, wir müssen international ausgerichtet sein. In der katholischen Kirche ist vieles von dem, was in der Jugendbewegung begann, durch das 2. Vatikanische Konzil Allgemeingut geworden.
Das Gespräch führten Christopher Beckmann und Jürgen Nielsen-Sikora am 17. Juli 2013.