Das Jüdische Museum Berlin feiert 2021 sein zwanzigjähriges Bestehen. Seine Gründung im Jahr 2001 war das Ergebnis eines langen Gedenkprozesses in Deutschland. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte 1985 zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs erklärt: „Wir müssen den Jüngeren helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten.“ Diese Aussage führte zum Projekt eines Jüdischen Museums in Berlin.
Tatsächlich hatte es bereits früher ein Jüdisches Museum in Berlin gegeben: Am 24. Januar 1933 eröffnete in der Oranienburger Straße das erste Jüdische Museum Berlins, das von der Jüdischen Gemeinde betrieben wurde. Während des Novemberpogroms 1938 schloss die Gestapo das Museum und beschlagnahmte die Sammlung. Ende 1988 schrieb der Berliner Senat einen Wettbewerb für einen Erweiterungsbau des Berliner Stadtmuseums im barocken Kollegienhaus aus, in den auch die Jüdische Abteilung des Stadtmuseums einbezogen werden sollte. Im Juni 1989 wählte die Jury den Entwurf „Between the Lines“ von Daniel Libeskind aus. Ursprünglich war das Jüdische Museum als Abteilung des Berliner Stadtmuseums konzipiert, das sich im Besitz des Landes Berlin befindet. Als Michael Blumenthal zum Direktor ernannt wurde, änderte sich der Plan radikal: Blumenthal, der 1926 in Deutschland geboren wurde und im Alter von dreizehn Jahren zunächst nach Shanghai und danach in die USA emigrierte, kämpfte für die Unabhängigkeit der Einrichtung und setzte sie durch. Seit 2001 ist das Jüdische Museum Berlin eine Stiftung unter direkter Bundesaufsicht und alleiniger Nutzer des Gebäudekomplexes in der Lindenstraße.
Das Jüdische Museum Berlin ist eines der größten und bedeutendsten jüdischen Museen in Europa. Es ist eine politische Geste des deutschen Staates vor dem Hintergrund der Erinnerung an den Holocaust und ein Statement, dass sich die deutsche Gesellschaft mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandersetzen und Verantwortung übernehmen muss. Und doch ist das Jüdische Museum Berlin kein Holocaust-Museum.
Das Jüdische Museum Berlin verfolgt nach wie vor seine ursprüngliche Aufgabe, 1.700 Jahre jüdisches Leben in deutschen Landen zu sammeln, zu dokumentieren und zu zeigen, dieses Erbe zu bewahren und an die nächsten Generationen und ein vielfältiges Publikum weiterzugeben.
Neue museologische Elemente
Die erste, im Jahr 2001 eröffnete Dauerausstellung wurde von Ken Gorbey und Nigel Cox gestaltet, die zuvor das Museum of New Zealand Te Papa Tongarewa in Wellington (Neuseeland) kuratiert hatten. Sie führte einige neue museologische Elemente in die deutsche Museumslandschaft ein, wie etwa eine starke Besucherorientierung, viele Mitmachangebote und einen speziellen Pfad für Kinder innerhalb der Ausstellung. Außerdem waren überall Moderatoren anwesend, die die Besucher willkommen hießen und ihre Fragen beantworteten. Die Ausstellung war jedoch von der traditionellen Erzählform eines autoritären Erzählers geprägt, der weder sich selbst infrage stellte noch versuchte, die Besucher in einen Diskurs einzubeziehen.
Inhaltlich konzentrierte sich die Ausstellung stark auf die Emanzipation der Juden in Deutschland und zeigte, wie sie im 19. Jahrhundert zu assimilierten, bürgerlichen Deutschen mit säkularer Bildung wurden und später wesentlich zum wirtschaftlichen und kulturellen Leben in Deutschland beitrugen. Es war eine Geschichte der erfolgreichen Integration in die deutsche „Leitkultur“. In dem Maße, wie die Juden zu Deutschen wurden, reformierte und verschlankte sich auch das Synagogenleben. Infolgedessen wurde auch in der Ausstellung fast keine religiöse Praxis gezeigt. Der einzige Raum, der dem Judentum gewidmet war, befasste sich mit den Ereignissen des Lebenszyklus, koscheren Speisen und dem Schabbat.
Heute sind jüdische Erfahrungen anders, Deutschland ist anders, und das Publikum ist anders. Eine sich wandelnde Gesellschaft verlangt von den Museen immer neue Antworten und Programme, die diese Entwicklungen widerspiegeln. Im Jüdischen Museum Berlin geht es um jüdische Erfahrungen aus jüdischen Perspektiven. Die neue Dauerausstellung lädt die Besucher ein, Fragen zu stellen, zu interagieren, sich ihre eigene Meinung zu bilden und spielerisch zu lernen.
Pluralität und Vielfalt
Die neue Dauerausstellung führt die Besucher auf 3.300 Quadratmetern durch fünf chronologische Kapitel und acht Themenräume, in denen die jüdische Kultur mithilfe von Texten, Tonaufnahmen, Bildern und Objekten erforscht werden kann. Seit der Eröffnung 2001 sind die Sammlungen exponentiell gewachsen, und mehr als siebzig Prozent der rund 1.000 ausgestellten Objekte gehören zur Sammlung des Museums.
Die Ausstellung beginnt mit der Thora, dem jüdischen Gesetz, das im Zentrum des Judentums und der jüdischen Identität steht, unabhängig davon, ob Juden es genau befolgen, ob sie es eingehend studieren oder nur am Rande einige Geschichten kennen. Wir zeigen nicht nur eine jüdische Perspektive, sondern jüdische Perspektiven, denn es gibt nicht nur einen Blickwinkel. In dem Raum über Gebot und Gebet stellen wir Juden vor, die heute in Deutschland leben. Da gibt es unter anderem einen Rabbiner, eine russischsprachige Frau oder einen israelischen Philosophen, der in Berlin lebt, die alle über die Halacha – das jüdische Gesetz – sprechen und welche Bedeutung sie in ihrem Leben heute hat.
Ein wesentliches Ziel der Ausstellung liegt darin, Pluralität und Vielfalt innerhalb der jüdischen Kultur und insbesondere im deutsch-jüdischen Kontext aufzuzeigen. Gewürdigt wird eine heterogene jüdische Kultur mit widersprüchlichen jüdischen Auffassungen, die nebeneinander existieren. Die Ausstellung zeigt auch die verschlungenen Geschichten von deutschen Juden und Nicht-Juden im Laufe der Zeit, da sich jüdisches Leben nie isoliert betrachten lässt. Sie behandelt den Holocaust und andere Perioden jüdischer Verfolgung. Der Holocaust nimmt in der Ausstellung breiten Raum ein, ist aber weder der Fluchtpunkt, auf den die deutschjüdische Geschichte zuläuft, noch ihr Endpunkt. Die Ausstellung wirft ebenfalls einen Blick auf die Jahrzehnte nach 1945, in denen Juden das Trauma der Vernichtung, die Hoffnungen, die mit der Gründung des Staates Israel verbunden waren, oder die Entscheidung, nach Deutschland einzuwandern und neue jüdische Gemeinden zu gründen, verarbeiten mussten.
Darüber hinaus wurde eine bedeutende Anzahl zeitgenössischer Kunstwerke in die neue Ausstellung aufgenommen, zum Beispiel von Anselm Kiefer, Yael Bartana und Frédéric Brenner. Wir wollen auch eine breite Palette von Medien einsetzen, um Geschichten zu erzählen: jüdische Ritualgegenstände, Archive und Dokumente, Musik, Audio- und Videomaterial, Kunstwerke aus verschiedenen Epochen, Populärkultur und Familienerbstücke.
Orte des Unbehagens
Das Jüdische Museum Berlin spricht über Geschichte – seit dem Mittelalter leben Juden auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands –, aber es erzählt auch Geschichten, etwa über die Beziehung zwischen Juden und der Moderne, als Juden in der Lage waren, sich in die deutsche Gesellschaft, ihre militärischen, politischen und kulturellen Kreise zu integrieren, und dennoch immer unter Verdacht standen, nicht ganz zum deutschen Volk zu gehören. Wir sprechen auch Orte des Unbehagens an, wie den Umgang mit der Musik Richard Wagners oder das Spannungsverhältnis zwischen dem zeitgenössischen Feiern jüdischen Lebens in Deutschland und dem aktiven Erinnern an die Shoah.
Wir stellen auch Fragen, etwa: „Was bedeutet es im 21. Jahrhundert, jüdisch zu sein, wenn ein Elternteil nicht jüdisch ist, wenn ein Elternteil konvertiert ist, wenn ein Elternteil israelischer, russischer oder marokkanischer Jude ist?“ Es ist nicht die gleiche Identität wie in den 1920er-Jahren, und doch ist es auch eine deutsch-jüdische Identität. Als Schlusspunkt der Ausstellung reflektiert die Videoinstallation Mesubin – „Die Versammelten“ – von Yael Reuveny und Clemens Walter diese neue Realität. Sie inszeniert ein virtuelles Gespräch zwischen Juden unterschiedlicher Herkunft über Glauben, Liebe, Tod und darüber, was es bedeutet, heute jüdisch zu sein. Am Ende verschmilzt diese Vielstimmigkeit zu einem Chor.
2012 wurde ein Gebäude eröffnet, das auf 6.000 Quadratmetern unser Archiv, die Bibliothek, die Bildungsabteilung und die Akademie beherbergt, einen Ort des Dialogs, der Debatte und des Austauschs, einen Ort für eine breite Palette von Konferenzen, Workshops, Vorträgen und Bildungsprogrammen. Wir sehen die Akademie als einen Raum für Begegnungen und Kooperationen mit anderen Institutionen, Gruppen und Kulturen.
Überraschende Perspektiven
Last, but not least haben wir im gleichen Gebäude unsere neueste Einrichtung eröffnet: ANOHA, die Kinderwelt; eine riesige Arche Noah mit 150 Tieren aus recycelten Materialien, die Kindern und Familien eine eindringliche Erfahrung über Unterschiede und Identität, über unsere Verantwortung für Natur und Umwelt, über Beziehungen und Solidarität bietet. ANOHA ist das jüngste Beispiel dafür, wie eine jüdische Sichtweise genutzt wird, um universelle Themen anzusprechen und globale Fragen mit den Augen einer Minderheit zu betrachten.
Bis heute haben etwa dreizehn Millionen Besucher aus der ganzen Welt das Museum besucht. Dies ist sowohl ein bemerkenswerter Erfolg als auch eine Herausforderung: Wie kann das Museum, das ein internationaler Touristenmagnet ist, auch die lokale und nationale Bevölkerung ansprechen? Mit der neuen Dauerausstellung, dem Kindermuseum, der Akademie und den Bildungsprogrammen ist das Museum zu einem Leuchtturm in Europa für mutige Museologie und Angebote geworden, die ein breites und vielfältiges Besucherspektrum ansprechen.
Es gibt viele jüdische Museen in Deutschland (Frankfurt am Main, München, Augsburg und bald Köln), das Jüdische Museum Berlin ist jedoch das einzige, das die 1.700-jährige jüdische Geschichte in Deutschland erzählt. In den letzten zehn Jahren wurden weitere bedeutende jüdische Museen mit nationaler Ausrichtung eröffnet: das Museum der Geschichte der Polnischen Juden POLIN in Warschau, das Museo Nazionale dell’Ebraismo Italiano e della Shoah (MEIS) in Ferrara, das Jüdische Museum in Moskau und bald das Jüdische Museum in Lissabon. Wir freuen uns, dass sich andere jüdische Museen in europäischen Hauptstädten von unseren Erfahrungen inspirieren lassen und dass wir mit vielen von ihnen eine enge Zusammenarbeit pflegen. Dass das Jüdische Museum Berlin zwanzig Jahre lang prominent dazu beigetragen hat, wie – im In- und Ausland – jüdische Kultur in Deutschland und wie in diesem Zusammenhang auch Deutschland als Ganzes wahrgenommen wird, ist eine Erfolgsgeschichte.
Unser Ziel ist es, das Jüdische Museum Berlin zu einem Ort zu machen, an dem jeder, ob Jude oder nicht, mehr über die reiche Vielfalt der jüdischen Kultur in Vergangenheit und Gegenwart erfahren kann. In Berlin befindet sich die jüdische Kultur derzeit in einem Umbruch, mit einer Mischung aus Neuankömmlingen und einer neuen Generation. Wir wollen das Museum zu einem Ort der Begegnung und des Austauschs zwischen diesen verschiedenen Perspektiven machen. Das ist unser Ziel: Besucher, die mit vorgefassten Erwartungen kommen, zu überraschen und sie zu ermutigen, diese Erwartungen zu hinterfragen, zu Entdeckungen anzuregen, zeitgenössische Kunst ins Gespräch zu bringen und den Besuchern zumindest ein „Take-away“ mitzugeben, das ihnen hilft, das, was sie zu wissen glaubten, neu zu bewerten oder etwas Neues zu lernen über Juden in Deutschland.
Hetty Berg, geboren 1961 in Den Haag (Niederlande), Kuratorin, Theaterwissenschaftlerin und Kulturhistorikerin, mehr als dreißig Jahre lang am Jüdischen Historischen Museum in Amsterdam in unterschiedlichen Funktionen tätig, seit 2020 Direktorin des Jüdischen Museums Berlin.
Bei dem Beitrag handelt es sich um den zweiten Teil der insgesamt dreiteiligen Serie „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, die in der Mai/Juni-Ausgabe 2021, Nr. 568, der Zeitschrift Die Politische Meinung eröffnet wurde.
Teil 1:
Jürgen Rüttgers: Eine neue Erinnerungskultur. 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, Die Politische Meinung, Nr. 568, Mai/Juni 2021, S. 111-116, www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/eine-neue-erinnerungskultur.
Teil 3:
Interview mit Charlotte Knobloch: "Gemeinsamkeit ist wichtig." Über 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, die junge jüdische Generation und den Kampf gegen Antisemitismus, Die Politische Meinung, Nr. 571, November/Dezember 2021, S. 107-113, www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/gemeinsamkeit-ist-wichtig.