Was denkt die türkische Jugend? Die Jugendstudie 2023 der Konrad-Adenauer-Stiftung Türkei gibt Aufschluss darüber
Die türkische Jugend ist unzufrieden und wünscht sich nachdrücklich eine Veränderung. Sie fühlt sich politisch nicht repräsentiert und blickt verunsichert auf die wirtschaftliche Zukunft des Landes. Eine im Juni 2023 veröffentlichte Studie, die unter Leitung von Prof. Dr. Ali Çağlar erstellt und durchgeführt wurde, gibt Aufschluss über die Einstellungen und Überzeugungen der Jugend bezüglich der türkischen Politik, Wirtschaftslage und Migration. Die Perspektive der türkischen Jugend zu verstehen, ist für politische Entscheidungsträger, Wissenschaftler und Journalisten von entscheidender Bedeutung, um die Herausforderungen, vor denen das Land steht, erfolgreich zu bewältigen. Vor zwei Jahren führte die Konrad-Adenauer-Stiftung Türkei eine umfangreiche Studie durch, um die sozialen und politischen Ansichten der türkischen Jugend zu ermitteln. Aufgrund der äußerst positiven Wahrnehmung der Jugendstudie 2021 entschloss sich die Konrad-Adenauer-Stiftung Türkei, für das Wahljahr 2023 eine aktuelle Umfrage in Auftrag zu geben.
Die diesjährige Studie basiert auf einer repräsentativen Stichprobe von 2.140 jungen Menschen im Alter von 18 bis 25 Jahren, die in 16 Provinzen vorrangig zu ihren politischen Einstellungen, ihrer wirtschaftlichen Lage sowie zu migrationspolitischen Themen befragt wurden. Die Daten der Studie wurden zwischen dem 05. Dezember 2022 und dem 20. Januar 2023 erhoben. Somit ist das Meinungsbild der türkischen Jugend noch vor dem Erdbeben Anfang Februar und der Wahl im Mai 2023 aufgenommen worden.
56% der Teilnehmer waren weiblich und 44% waren männlich. Die am stärksten vertretene Gruppe in der Untersuchung ist die Altersgruppe der 20 - 21-Jährigen mit 32,3%.
Mangelhafte Berufsaussichten: Es fehlt an Perspektiven
Die Türkei ist ein ausgesprochen junges Land. Der Altersdurchschnitt liegt bei 31,3 Jahren. Eine nachhaltige Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik ist somit von hoher Bedeutung für die Zukunft der Türkei.
Von den Befragten gaben 27,4% an, derzeit in einem Arbeitsverhältnis zu stehen. 58,4% dieser Gruppe arbeiten als Angestellte. Während 12,1% hochqualifizierten Berufen (Arzt, Anwalt, etc.) nachgehen, sind 13,5% beim türkischen Staat beschäftigt. Hier vertritt mit 70,3% die überwiegende Mehrheit die Auffassung, dass Qualität bei der Aufnahme in den türkischen Staatsdienst nicht das ausschlaggebende Kriterium ist.
88,5% der unbeschäftigten Teilnehmer sind Studenten. Allerdings liegt die Zufriedenheit türkischer Studenten mit ihrer Ausbildung lediglich bei 23,7%. Von den Befragten sind 60,4% nur mäßig mit der Qualität der erhaltenen Bildung zufrieden. 75,7% der Befragten sind mit der staatlichen Bildungspolitik grundsätzlich nicht einverstanden.
61,3% sehen sich zudem vor wirtschaftliche Herausforderungen gestellt, wenn es um die mit der universitären Ausbildung verbundenen Kosten geht. 55,4% der Studenten sagen, dass sie die in den letzten Jahren immens gestiegenen Lebensmittelkosten belasten. 84,4% haben ihre Konsumgewohnheiten aufgrund der wirtschaftlichen Situation bereits eingeschränkt. Unterbringungs- und Wohnungskosten sind hingegen das geringste Problem (37,7%). Nicht zuletzt, da viele türkische Studenten noch bei ihren Eltern leben.
Wirtschaftliche Aussichten: So kann es nicht weitergehen
Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass 86,2% der türkischen Jugend die ökonomische Gesamtsituation als schlecht bewertet. 32,2% sehen in der wirtschaftlichen Lage die größte Herausforderung für die nahe Zukunft. Dementsprechend stimmen 83,8% grundsätzlich nicht mit den ordnungspolitischen Bemühungen des türkischen Staates überein. 75% sind gegen die Mindestlohnpolitik der Regierung und 66,9% stehen der Privatisierungspolitik ablehnend gegenüber. 80,6% bewerten die gegenwärtige Wirtschaftspolitik als erfolglos. Dies spiegelt sich auch darin, dass 88,7% die Einkommensverteilung in der Türkei als ungerecht empfinden. Nachdem die AK Partei 2002 die Regierungsgeschäfte übernommen hatte, konnte das wirtschaftliche Wachstum zunächst breit umverteilt werden. Zwischen 2003 und 2013 stieg das durchschnittliche Jahreseinkommen von 4.700$ auf 12.500$. 2023 liegt es nur noch bei etwa 10.600$.
Angesichts dieser Stagnation ist es verständlich, dass immerhin 63% der Befragten bereit sind, die Türkei zu verlassen, sofern es die Möglichkeit dazu gebe. 2021 waren es sogar 72,9%. Die beliebtesten Zielländer sind Deutschland (14,5%), die USA (13,8%) und das Vereinigte Königreich (9,8%). Knapp die Hälfte wählt das Ausland, um die eigenen Lebensbedingungen zu verbessern. Ein Fünftel gibt jedoch an, dass ein Leben im Ausland größere Freiheitsentfaltung ermögliche. Damit korrespondiert, dass 81,2% der Befragten Praktiken widersprechen, die den Rechtsstaat unterminieren.
Politische Überzeugung: Niemand spricht für uns
In Bezug auf die politische Gesamtsituation artikuliert die türkische Jugend zusätzlich eine Vielzahl an Bereichen, in denen sie mit der Regierung nicht übereinstimmt. Sowohl die Art wie die Regierungsgeschäfte geführt werden (70,4%), sowie die Achtung von Menschenrechten (73,3%) und die Umwelt- und Klimapolitik (56,6%) finden seitens der Jugend kaum Zustimmung. Insgesamt finden 69,9%, dass die Türkei gegenwärtig sehr schlecht regiert wird. 74,3% sind der Auffassung, dass das parlamentarische System die passendere politische Ordnung für die türkische Republik ist.
Diese Ausgangslage führt aber nur bedingt dazu, dass die türkische Jugend sich mit der Opposition identifiziert. 51,4% sagen, dass keine der politischen Parteien ihre Interessen vertritt. Dennoch geben 79,6% an, dass sie wählen gehen werden. Von denen, die nicht beabsichtigen wählen zu gehen, glauben 31,4%, dass ihre Stimme keinen Unterschied macht und 65,5% geben mangelndes Vertrauen in die bestehenden Parteien als Grund an. Dennoch geben 85,5% an, dem politischen Tagesgeschehen zu folgen; vor allem über die Kanäle der Sozialen Medien.
Wertebasierte Überzeugungen sind bei der türkischen Jugend am ehesten mit der Person des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk verbunden, dem sich 37,6% verbunden fühlen. 2021 lag die Zustimmungsrate zu Atatürk noch bei 20.5%. Hier kann nur vermutet werden, dass im 100. Jahr der Republik und angesichts verbreiteter Instabilität die Besinnung auf den Gründungsvater stabilisierend wirkt. 17,1% verstehen sich weiterhin als apolitisch. Dementsprechend ist die große Mehrheit politisch inaktiv und nur 5,2% der Befragten sind Mitglieder einer politischen Partei.
Der Politiker, der am meisten Zustimmung erfährt, ist der Bürgermeister Ankaras, Mansur Yavaş.
53% der Befragten hätten den CHP-Politiker Yavaş als Präsidentschaftskandidaten befürwortet.
Insgesamt geht der Trend bei der türkischen Jugend eher zur CHP. 33,8% befürworten die Partei des Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlus. Hingegen nur 7,1% würden für die AK Partei wählen. 33,6% zogen es indes vor, die Frage nicht zu beantworten. Hinsichtlich der Unterstützung von politischen Bündnissen erfährt laut Umfrage das Oppositionsbündnis der Nationalallianz 46,7%, die Volksallianz nur 10,3%. 20,4% waren noch unentschieden, während 22,5% beide Allianzen ablehnen.
Im Vergleich zur Jugendstudie 2021 hat damit die Unterstützung der CHP um knapp 10% zugenommen (2021: 23,9%), während die AK Partei von 10% weitere drei Prozentpunkte verloren hat und laut den Ergebnissen der Umfrage nur auf 7,1% der Stimmen kommt. Seinerzeit gaben jedoch noch 44% an, unentschieden zu sein oder lieber keine Auskunft geben zu wollen.
Migration: „Genug ist genug“
Die zunehmend ablehnende bis fremdenfeindliche Stimmung in der Türkei spiegelt sich auch in der Haltung der türkischen Jugend zu den etwa 4 Millionen syrischen und afghanischen Flüchtlingen im Land. Die türkische Opposition hat bereits seit einigen Jahren das Potential einer Politisierung erkannt und versucht mit überzogenen Abschiebeversprechen Stimmen für sich zu gewinnen.
91,8% der Befragten sind nicht mit der Migrationspolitik der Regierung einverstanden und fordern einen Richtungswechsel. 91,4% empfinden ein Unbehagen angesichts er großen Anzahl an Flüchtlingen im Land. Hinsichtlich der Grundversorgung meinen immerhin 62,7%, dass den Flüchtlingen geholfen werden soll. 26,8% sind dagegen der Meinung, die Türkei sollte gar keine Hilfe leisten. Nicht zuletzt weil, wie 87,1% meinen, die Flüchtlinge nicht in der Lage sein werden, sich an die türkische Kultur anzupassen. Mittelfristig befürchten 90,1%, dass die Flüchtlinge die demographische Struktur der Türkei verändern. 80,8% sehen in der Migration eine Gefahr. Daher sollten die Flüchtlinge sobald wie möglich in ihre Heimatländer zurückkehren, wie 67% finden.
Da 78,8% stark bezweifeln, dass Flüchtlinge einen Beitrag zur türkischen Wirtschaft leisten, lehnen es 89,6% ab, dass aus Flüchtlingen türkische Staatsbürger werden. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass mit einer Investition i.d.H. von umgerechnet 400.000$ Ausländer die türkische Staatsbürgerschaft erhalten können. Vor allem russische Staatsbürger haben seit dem Ukraine-Krieg den türkischen Immobilienmarkt für sich entdeckt. Folglich sind die Immobilien- und Mietpreise in Teilen der Türkei gestiegen. Vor diesem Hintergrund sprechen sich 81,1% der Befragten gegen den Verkauf von Grundstücken und Immobilien an Ausländer aus.
Ausblick: Vorsichtiger Optimismus
Insgesamt zeigen die Ergebnisse der Jugendstudie 2023 eine verunsicherte Jugend, die mit der instabilen Situation korrespondiert. Nur 17,3% beschreiben sich als glücklich, 30,1% sind unglücklich, während die Mehrheit mit 52,5% mittelmäßig zufrieden ist. Das meist genannte Lebensziel besteht darin, ein gutes Leben zu führen (46,7%). Während 39,4% die Zukunft der Türkei optimistisch sehen, sind 27,2% pessimistisch. Damit hat sich die Situation zu 2021 jedoch insgesamt leicht zum positiven gewandt: Stimmten 2021 62,8% einer pessimistischen Prognose zu, waren 35,2 völlig hoffnungslos und nur 27,6% der Befragten leicht optimistisch, ist dieses Jahr somit ein Trendwechsel zu verzeichnen.
Dennoch ist es bemerkenswert, dass das Wahlverhalten der Jugend von den Ergebnissen am 14. Mai abweicht. Denn in der Türkei war es bisher üblich, dass sich bei politischen Präferenzen Familientraditionen behaupten.
Für weitere Ergebnisse, detailliertere Informationen zu den Daten und Medienanfragen zum Projekt, wenden Sie sich bitte direkt an das Auslandsbüro Türkei der Konrad-Adenauer-Stiftung.