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Die angebliche oder tatsächliche Bedrohung des ägyptischen Regimes durch die Muslimbrüder war über Jahre das Hauptargument, weswegen auch europäische Regierungen ein doch eher „robustes“ Vorgehen der ägyptischen Staatsführung gegen ihre vermeintlichen innenpolitischen Gegner in Kauf genommen haben.
Die Meinungen über die Fähigkeit islamischer Gruppierungen wie der Muslimbruderschaft, den jetzt auf den Weg gebrachten politischen Wandlungsprozess in Ägypten zu beeinflussen oder sogar entscheidend zu bestimmen, gehen sehr weit auseinander.
Klar ist, dass der Grad der möglichen Beeinflussung zukünftiger ägyptischer Politik wesentlich von verfassungsrechtlichen Entscheidungen und dabei vor allem vom wahrscheinlichen Modus der kommenden Parlamentswahlen in Ägypten abhängen wird.
Beeindruckende Wahlerfolge
In der Vergangenheit konnten Vertreter der ägyptischen Muslimbruderschaft angesichts einer vom ägyptischen Staat immer wieder verweigerten Parteigründung nur als sog. „unabhängige“ Kandidaten oder auf Wahllisten anderer Parteien an den Wahlen teilnehmen. Vor allem bei den ägyptischen Parlamentswahlen 2005 erzielten sie trotzdem eindrucksvolle Wahlerfolge. Bei diesen vorletzten Wahlen konnten sie die Zahl ihrer Abgeordneten trotz der üblichen umfangreichen Behinderungen durch die ägyptischen Behörden auf immerhin 88 gegenüber den vorigen Wahlen mehr als vervierfachen.
Dieses Ergebnis muss als deutliches Zeichen für die Attraktivität der Muslimbruderschaft beim ägyptischen Wähler gewertet werden und führte bei den letzten Parlamentswahlen im Herbst 2010 zu einer noch restriktiveren Behandlung von Parlamentskandidaten, die sich öffentlich zur ägyptischen Muslimbruderschaft bekannten.
Entsprechend schlecht war dann auch das Abschneiden, das aber nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass dies wesentlich der Manipulation der Rahmenbedingungen der letzten ägyptischen Parlamentswahl geschuldet war und eben nicht die „wahre“ Bedeutung dieser politischen Strömungen widergespiegelt hat.
Die nominelle Größe sowie der politische Einfluss dieser, offiziell zwar weiterhin verbotenen, phasenweise aber schon vom „alten“ Regime immer wieder geduldeten, Organisation bleibt also bis heute genauso unbestimmt wie ihre mögliche Attraktivität für den ägyptischen Wähler in zukünftig wirklich freien und geheimen Wahlen.
Parteipolitische Programmatik
Trotz aller gesellschaftlicher Präsenz der bisher immer noch vornehmlich im karitativen, sozialen Bereich aktiven Muslimbruderschaft blieb die ägyptische Muslimbruderschaft, was ihre politischen Vorstellungen anging, für viele lange eine „Blackbox“.
Anhaltspunkte für eine mögliche zukünftige parteipolitische Programmatik von der ägyptischen Muslimbruderschaft nahestehenden oder aus den Reihen der Muslimbruderschaft hervorgehenden politischen Gruppierungen finden sich sowohl mit Blick auf eine bereits Ende der 1990er Jahre aus der ägyptischen Muslimbruderschaft unter dem Namen „hizb al-wasat“ (Partei der Mitte) hervorgehenden Bewegung, als auch in der Auseinandersetzung mit Wahlaussagen einzelner, den Muslimbrüdern nahestehenden Kandidaten sowie in Pogrammentwürfen der Bruderschaft selbst.
Al-Wasat: Innenpolitische Liberalität?
Obwohl der „Partei der Mitte“ die offizielle Zulassung als politische Partei in Ägypten immer wieder mit dem Argument vorenthalten wurde, die ägyptische Verfassung lasse keine Parteien mit einem eindeutigen religiösen Bezug zu, bemühten sich viele der so genannten "Generation der Mitte" in der ägyptischen Muslimbruderschaft um ein attraktives, eher moderates inhaltliches Angebot für die ägyptischen Wähler.
Sie hatten sich in ihrer Studienzeit - im Gegensatz zu älteren Mitgliedern der Muslimbruderschaft - aktiv am politischen Diskurs in Ägypten zu beteiligen versucht, blieben aber von der damaligen Führung der Bruderschaft zuerst noch unverstanden und konzentrierten ihre Aktivitäten deshalb vor allem auf ihre jeweiligen Berufsverbände.
Diese reservierte Haltung der damaligen Führung der Muslimbruderschaft war sicher dem Bestreben geschuldet, sich nicht in einen hoffnungslosen politischen Konflikt mit dem damaligen Regime zu begeben. Zu umfassend erschienen ihnen damals die Machtmittel des Staates, um als Organisation eine solche Provokation unbeschadet zu überstehen.
Das Verhältnis der landestypisch überalterten Führung der Muslimbruderschaft zu diesen ersten Versuchen (partei-)politischer Organisation blieb also lange Zeit ambivalent, auch wenn einzelne Mitglieder des damaligen Führungsgremiums der Muslimbruderschaft sie damals schon unterstützten.
Die Protagonisten dieser ersten parteipolitischen Ansätze verstanden sich als Vertreter eines "Islams der Mitte". Mit der Namensgebung orientieren sie sich an einigen zeitgenössischen muslimischen Intellektuellen, in deren Denken der Begriff der Mitte − als Leitmotiv für die Ablehnung jeglichen Extremismus in der Religion − konstitutiv war.
Dieses Bekenntnis zur Mitte könnte sich bei einer neuerlichen Gründungsbestrebung als durchaus attraktiver, weil liberaler, programmatischer Ausgangspunkt anbieten.
So plädierte man von Beginn an nicht nur für mehr Demokratie und Pluralismus, sondern auch für die rechtliche Gleichstellung von Muslimen und Christen sowie von Männern und Frauen. Bemerkenswert war insbesondere, dass diese Gruppierung sowohl Frauen als auch Kopten den Zugang zum Präsidentenamt in Ägypten ermöglichen wollte.
Ein wichtiges ideologisches Element ihrer Programmatik war dabei nicht der „Islam als Religion", sondern als Zivilisation, zu der auch die ägyptischen Christen gehörten.
Dass die von dieser Gruppierung geforderte Gleichberechtigung zwischen Muslimen und Christen nicht nur ein Lippenbekenntnis war, stellte sie unter anderem auch in ihrem letzten abgelehnten Zulassungsantrag unter Beweis, den damals auch drei bekannte christliche Persönlichkeiten des Landes offiziell unterstützten.
Ihre Haltung zur politischen Partizipation von Frauen - neben dem Status von Nicht-Muslimen oft Anlass zur Kritik an islamischen Parteien - muss als fortschrittlich beschrieben werden; denn ebenso wie den Christen, so propagierten sie, sollte auch den Frauen der Weg in alle Staatsämter, inklusive dem Präsidentenamt, grundsätzlich offenstehen.
Allerdings blieb auch in dieser liberalen Programmatik die Forderung nach Einführung der Shari'a ein zentraler Punkt des damaligen Entwurf eines Parteiprogramms.
Man berief sich dabei auf Artikel 2 der ägyptischen Verfassung, in dem der ägyptische Präsident Sadat modifizierend niedergelegt hatte, dass die Shari'a nunmehr als „Hauptquelle“ und nicht mehr als nur eine der Quellen der ägyptischen Gesetzgebung zu gelten habe.
Mit Blick auf die Sorgen der ägyptischen Kopten, die immer schon gefordert hatten, dass der ägyptische Staat ein „ziviler Staat“ aller seiner gleichberechtigten Bürger sein beziehungsweise werden müsse, betonten die damaligen, erfolglosen Parteigründer, dass nur solche Regelungen der Scharia verbindlich Geltung haben sollten, die die Entwicklung einer modernen Gesellschaft förderten. An der Formulierung dieser Regelungen sollten zudem „alle“ gesellschaftlichen Kräfte beteiligt werden. Dieses Zugeständnis einer kontrollierten Einbeziehung „aller“ demokratischen Kräfte bedeutete jedoch vermutlich (noch) nicht, dass diese „liberalen“ Muslimbrüder bereit waren, ein frei gewähltes ägyptisches Parlament als (alleinige) Quelle der nationalen Gesetzgebung anzuerkennen.
Bei all diesen überraschend moderaten Positionen muss aber auf unklare beziehungsweise problematische Aussagen in der damaligen Programmatik wie die „…alle Bereiche des täglichen Lebens regelnde Scharia…“ und auch die beabsichtigte Beschränkung der Religionsfreiheit auf Anhänger der Offenbarungsreligionen, also für Christen, Muslime und Juden, hingewiesen werden.
Für die aktuelle Situation von Interesse ist aber der Hinweis darauf, dass die verhinderten Parteigründer schon damals die Aufhebung des Ausnahmezustandes, die Freilassung „politischer Gefangener“, eine unabhängige Justiz, freie Wahlen auf allen Ebenen (auch bei den Berufsvereinigungen), effektive Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung sowie eine unabhängige Justiz gefordert haben, Forderungen also, die auch von anderen oppositionellen Kräften in Ägypten vorgebracht worden sind.
Al-Wasat: Außenpolitische Pragmatik?
Auch was die außenpolitischen Vorstellungen anging, überraschte die Gruppe mit moderaten Tönen. So nannte sie die Schaffung einer Weltordnung, die von Gerechtigkeit, Frieden und Kooperation gekennzeichnet ist, als ihr generelles außenpolitisches Credo. Zwar erklärte auch sie, Israel nicht anzuerkennen und jede weitere Normalisierung der Beziehungen zu Israel abzulehnen; diesem ideologischen Rigorismus stellten sie jedoch auch politischen Pragmatismus zur Seite. So erklärte sie, sogar explizit unterstützt vom damaligen Führer der Muslimbruderschaft, Mahdi Akif, dass die Muslimbrüder nicht beabsichtigen, die ägyptische Außenpolitik insgesamt in Frage zu stellen, sollten sie sich an einer zukünftigen Regierung beteiligen. Vielmehr würden auch sie alle von Ägypten abgeschlossenen internationalen Verträge respektieren und den sich daraus ergebenden Verpflichtungen nachkommen. Dies gelte – so der Muslimführer damals in Beantwortung einer Frage eines amerikanischen Journalisten - explizit auch für das Camp-David-Abkommen mit Israel.
Nun ist die Frage sicherlich berechtigt, inwieweit diese programmatischen Aussagen für die ägyptische Muslimbruderschaft auch heute - noch oder wieder - Bedeutung haben.
Aktuelle programmatische Indifferenz
Blick man auf die jüngsten politischen Äußerungen der aktuellen Führung der ägyptischen Muslimbrüder, so weichen diese von den damaligen Standpunkten der verhinderten „Wasat-Parteigründer“ oft nur unwesentlich ab, bleiben aber andererseits in vielen Bereichen im illiberalen „Ungefähren“
So betonten sowohl der, dem eher konservativen Flügel der Muslimbruderschaft zugerechnete, neue und bis zu seiner Wahl nahezu unbekannte Vorsitzende der Bruderschaft Mohammed Badie als auch sein Stellvertreter, Raschad al-Bajumi, dass die Muslimbruderschaft weder die politische Macht in Ägypten anstrebe, noch einen Kandidaten für die kommende Präsidentschaftswahl aufstellen, sondern nur dem ägyptischen Volke beim Aufbau einer neuen Ordnung dienen wolle. Beide verwiesen jedoch immer wieder auf die Existenz der Bruderschaft in jeder ägyptischen Stadt und jedem ägyptischen Dorf, und ihre daraus resultiernde Verwurzelung im ganzen Volk beziehungsweise Land.
Dies wurde von politischen Beobachtern als ein deutliches Zeichen neuen Selbstbewusstseins gewertet und als verklausulierter politischer Machtanspruch interpretiert.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Bruderschaft schon seit geraumer Zeit eine Strategie verfolgt, die sich erklärtermaßen nicht an kurzen Fristen (Legislaturperioden) orientiert, sondern die islamische „Unterwanderung“ aller politischen Institutionen zum Ziel hat. Diese Strategie muss, den erzielten Erfolgen in vergangenen Wahlen zu den ägyptischen Berufsverbänden zufolge, als weitgehend erfolgreich angesehen werden.
Für sie bedeutet die jedem regelmäßigen Besucher Ägyptens augenfällige „Islamisierung“ des Alltags der Erfüllung ihrer organisatorischen Zielsetzung, die sich über kurz oder lang auch in politischen Erfolgen niederschlagen werden.
Dass dieser Prozess durch eine „Demokratisierung“ des politischen Systems noch befördert würde, liegt auf der Hand.
Deshalb erscheint es nicht vollständig abwegig, zu unterstellen, dass die von der Bruderschaft aktuell gezeigte durchaus beeindruckende Zurückhaltung, politisches Kalkül ist, um die aufgebrachten ägyptischen Bürger den demokratischen Wandel herbeizwingen zu lassen, der dann von den Brüdern mittel- bis langfristig zur mehrheitlichen demokratischen und damit legitimen politischen Machtübernahme im Land genutzt werden könnte.
Der stellvertretende Vorsitzende der Muslimbruderschaft Raschad al-Bajumi drückte dies kürzlich folgendermaßen aus: "Wir wollen nicht, dass diese Revolution als Revolution der Muslimbrüder dargestellt wird, als islamische Revolution. Dies ist ein Volksaufstand aller Ägypter."
Ihr Verhalten während der Proteste am Tahrir-Platz, wo es zur Überraschung vieler so gut wie keine islamischen Parolen zu sehen und zu hören gab, sollte aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die politische Zukunft Ägyptens langfristig eben nicht von den polyglotten Jugendlichen im Zentrum Kairos, sondern in einem neuen, frei gewählten ägyptischen Parlament entschieden werden wird.
Aktuelle Wahlchancen
Wenn also dem in Zukunft frei gewählten ägyptischen Parlament tatsächlich größere legislative Befugnisse zugewiesen werden, entscheidet die Zusammensetzung dieses Parlaments und der von ihr getragenen Regierung über den Inhalt der zukünftigen Gesetze beziehungsweise die Richtung der Politik. Nicht zuletzt deshalb kommt den Wahlchancen der Muslimbruderschaft - oder konkreter - den Wahlchancen von mit der Muslimbruderschaft verbundenen Kandidaten eine entscheidende Bedeutung zu.
Vielen erscheint die Muslimbruderschaft heute – im Gegensatz zu den Hinweisen zur Verankerung der Bruderschaft in Stadt und Land, was ihre politische Relevanz angeht - eher als ein urbanes Phänomen, weil die Bruderschaft ihrer Ansicht nach vor allem über großen Rückhalt in der (städtischen) Mittelschicht, also in den Berufsgruppen der Ärzte, Ingenieure und Anwälte verfügt. Aus diesem Grunde erscheint ein von vielen befürchteter, überwältigender Wahlerfolg in freien Wahlen nicht sichergestellt, zumal viele Dorfbewohner Analphabeten sind und sich eher für die sozialen als die politischen Ambitionen der Bruderschaft interessieren.
Programmatische Aussagen der Muslimbruderschaft aus dem Jahre 2008 konnten die vielen „Grauzonen“ der von Ihnen vertretenen Meinungen nicht ausräumen und haben sie in den Augen interessierter ägyptischer Intellektueller nicht unbedingt attraktiver bzw. wählbarer gemacht. Entsprechend hatte die Muslimbruderschaft entschieden ihren Programm-“entwurf“ noch einmal zu überarbeiten.
Viele Experten schätzen ihre Wahlchancen auch deshalb – neuerdings - wieder geringer ein, weil sie zum einen glauben, dass die bisherige Attraktivität bzw. Exklusivität der Muslimbruderschaft als oppositioneller Kraft jetzt durch neue, demokratische parteipolitische Alternativen relativiert werden könnte und zum anderen Clanstrukturen bei Kampfkandidaturen muslimischer Vertreter einen eindeutigen Wahlerfolg eines solchen durch Zersplitterung der religiösen Wählerlagers verhindern könnten.
Dies kann sich aber als Trugschluss erweisen, we nn es diesen demokratischen Alternativen nicht gelingt bis zu den in sechs Monaten anberaumten Parlamentswahlen Statur zu gewinnen und dem ägyptischen Wähler mit attraktiven inhaltlichen und personellen Angeboten gegenüberzutreten. Ebenso bleibt momentan ungewiss, ob die Bruderschaft insgesamt in ihrer bekannten ideologischen Erstarrung verharren wird oder ob noch ein neuer bzw. weiterer parteipolitischer „Wurmfortsatz“ der Bewegung auf den Weg gebracht wird. Der aktuellen konservativen Führung der ägyptischen Muslimbruderschaft mag die „Al-Wasat“ Strömung, sollte sie schließlich doch noch eine Zulassung als politische Partei erlangen, vielleicht doch eine zu liberale Bewegung sein um sie (allein) für die Muslimbruderschaft politisch agieren zu lassen.
Sollten schließlich sowohl die „moderate“ Variante „Al-Wasat“ als auch eine zusätzliche, von der aktuellen Führung der Muslimbruderschaft „autorisierte“ neue politische Partei eine Zulassung erhalten, dann stehen sich möglicherweise sogar zwei aus der Bruderschaft hervorgegangene Parteien gegenüber, die beide in Zukunft um die Unterstützung der „religiösen Wähler“, aber eben nicht nur dieser, konkurrieren würden. Neben der Frage nach möglichen Wahlerfolgen ist von solchen Gruppierungen aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft aber auch die Frage einer möglichen Regierungsbeteiligung zu klären.
Taktisches Verhalten
Nach ihren bisherigen Äußerungen zum Verzicht auf eine Präsidentschaftskandidatur und der Zurückhaltung gegenüber einer Regierungsbeteiligung muss damit gerechnet werden, dass die Muslimbruderschaft weder in die aktuelle Übergangsregierung noch in eine, vom Parlament unterstützte neue ägyptische Regierung eintreten werden.
Bedenkt man die Probleme, denen sich eine solche „demokratisch“ legitimierte Regierung, in wenigen Monaten gegenübersehen wird, könnte es das Kalkül der Muslimbrüder sein, sich ganz bewusst der politischen Verantwortung zu entziehen und die „bürgerliche“ Regierung aus der Opposition zu kritisieren. Für eine langfristige politische Machtübernahme könnte es für die Muslimbrüder deshalb von Nutzen sein, dem ägyptischen Wähler das Scheitern einer säkularen, bürgerlichen Regierung (unter einem „militärischen“ Präsidenten) vor Augen zu führen, um dann sozusagen „alternativlos“ die politische Macht zu übernehmen.
Bei all dem Gesagten muss Vieles spekulativ bleiben. Auch wenn die Bruderschaft aktuell als homogenste politische Kraft in Ägypten gilt, muss die Frage, ob sie deshalb gleich als Favorit einer freien Wahl in Ägypten anzusehen sind, genauso offen bleiben, wie die alles entscheidenden Frage, ob sie sich, nachdem sie einmal an die Macht gekommen sind, diese würde bereitwillig wieder abnehmen lassen.
Fazit
Vieles bleibt momentan also noch im Ungewissen. Noch ist nicht klar, ob der jüngsten Entscheidung der Muslimbruderschaft, nun tatsächlich eine eigene politische Partei zu gründen, überhaupt stattgegeben wird. Ebenso ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, ob diese Partei überhaupt bereit wäre, mit anderen, säkularen Kräften in einem Bündnis mit säkularen politischen Kräften zusammenzuarbeiten bereit sein wird.
Im Jemen, wo die islamische Reformbewegung ein Oppositionsbündnis mit der Sozialistischen Partei einging, tun sie dies, genauso wie in Jordanien, wo die Islamische Aktionsfront, die Partei der Muslimbrüder, an Wahlen teilnimmt und sich allerdings jeder Gewalt enthält. Sie tun dies aber in der Opposition, was eben nicht automatisch bedeutet, dass sie dies auch in einer (Koalitions-)Regierung zu tun beabsichtigen.
Sicher ist, dass ein Wahlerfolg der Muslimbrüder wesentlich von den die Wahl bestimmenden Rahmenbedingungen abhängen wird. Dazu werden die ins Auge gefassten Verfassungsänderungen Entscheidendes beitragen. Grundsätzliche Änderungen des bisherigen ägyptischen Wahlrechts erscheinen zwar geboten, werden aber wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit bis zum nächsten Wahltermin kaum vollzogen werden.
Ebenso unbeantwortet muss deshalb momentan auch die Frage bleiben, ob eine, von den Muslimbrüdern mitgetragene ägyptische Regierung sich eher von den bisherigen westlichen Partnern abwendet, um im Schatten einer Hinwendung zur Islamischen Weltgemeinschaft einen islamischen Staat zu errichten, in dem die Scharia eben doch in sämtliche Bereichen des Lebens Geltung haben soll.
Vielleicht haben sich die ägyptischen Muslimbrüder in den vergangenen dreißig Jahren ja doch verändert. Vielleicht hat die harte Repression, der sie in diesen Jahrzehnten immer wieder ausgesetzt waren, diese Bewegung pluralisiert und eine wachsende Gruppe so genannter „moderater“ Islamisten hervorgebracht, die pragmatischer und auch demokratischer denkt als frühere Generationen. Vielleicht haben sie in den Kerkern der ägyptischen Sicherheitskräfte die Vorzüge der Menschenrechte kennengelernt, weil sie selbst am eigenen Leibe erlebt haben, was es bedeutet, wenn diese verletzt werden.
Wie viele werden bereit sein, ihnen den „benefit of the doubt“ zu gewähren? Die Erfahrungen mit dem Verhalten der Hamas-Regierung stimmen viele pessimistisch.
Sie hatte ihre Strategie zur politischen Machtübernahme ebenfalls auf einer Agenda „demokratischer“ Reformen und sozialer Fürsorge aufgebaut, bei vom Ausland sichergestellten freien Wahlen eine (relative) Mehrheit erzielt und schließlich im Wege eines „Putsches“ die alleinige politische Macht an sich gerissen. Ähnliches könnte sich natürlich auch in Ägypten vollziehen.
Sicher scheint, dass auch sogenannte „moderate“ Islamisten nicht zu Vorreitern eines neuen Liberalismus geworden sind. In vielen gesellschaftlichen Fragen erscheinen sie weiterhin konservativ bis reaktionär, insbesondere, was die Rolle von Frauen angeht.
Die Trennung der Geschlechter in der Öffentlichkeit bleibt für die Mehrheit von ihnen ein wichtiges Thema, genauso wie sie immer dann Probleme mit der Meinungsfreiheit haben, wenn Schriftsteller, Intellektuelle oder Künstler sich in kritischer Form mit dem islamischen Erbe auseinandersetzen. Viele Fragen werden in den kommenden Monaten beantwortet werden und die Antworten werden Einfluss nehmen auf die Entwicklung der gesamten Region.
Nicht nur der Westen ist jetzt aufgefordert, sich mit den Muslimbrüdern bzw. „moderaten“ Islamisten, ihren politischen Hoffnungen und Zielsetzungen intensiver auseinanderzusetzen; auch die Muslimbrüder selbst müssen jetzt zu politischen Fragen konkreter Stellung beziehen. Dies könnte beide Lager vor erhebliche Zerreißproben stellen.
Eine demokratische Zukunft Ägyptens und der ganzen Region ohne „den“ Islam wird es nicht geben; Wie islamisch diese Zukunft werden wird, entscheiden die politischen Angebote der entsprechenden Protagonisten und die Rezeption dieser Konzepte bei der Mehrheit der wahlberechtigten Bürger.
Dass diese Mehrheit von der Jugend bestimmt wird, lässt all jene hoffen, die daran glauben, dass eine Versöhnung von Islam und Modernität möglich erscheint.