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„Es ist offener Krieg zwischen Aserbaidschan und der Republik Armenien“

Thomas Schrapel im Interview zur Lage im Südkaukasus und was es zur Entschärfung des Konflikts braucht

Am 27. September eskalierten die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan in offenen Kämpfen, die seitdem anhalten. Die Gefahr eines Flächenbrands ist groß, schätzt Thomas Schrapel ein. Über die aktuelle Lage, die Hintergründe, den Einfluss weiterer Akteure der Region und warum es mehr braucht, als Aufforderungen zur Waffenruhe, spricht er im Interview mit kas.de. Thomas Schrapel leitet von Georgiens Hauptstadt Tiflis aus den Politischen Dialog Südkaukasus der Konrad-Adenauer-Stiftung und ist dort auch zuständig für Armenien und Aserbaidschan.

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Herr Schrapel, wie schätzen Sie die Lage in den beiden Ländern und in der Region derzeit ein?

Die Situation in der Region ist bedrohlich! Das muss leider sachlich und nüchtern so festgestellt werden. Es ist zwar nichts Neues, dass es wegen Berg Karabach immer mal wieder zu militärischen Auseinandersetzungen kommt. Das war zuletzt in größerem Maße im Mai 2016 und vor Kurzem im Juli 2020 der Fall. Aber die Gefechte seit 27. September haben leider eine andere „Qualität“. Die Aserbaidschaner greifen seither mit Bomben und Granaten Regionen an, die auf dem Territorium der Republik Armenien liegen. Es geht also nicht mehr nur um eine Eskalation im Streit um die Enklave Berg Karabach, sondern es ist offener Krieg zwischen Aserbaidschan und der Republik Armenien! Und noch nie in den letzten Jahren war das Risiko eines sich schnell ausbreitenden Flächenbrandes so groß wie in diesen Tagen. Das sind hier keine kleinen Scharmützel mehr.

Ich kann die aktuelle Situation in Aserbaidschan und Armenien übrigens derzeit nur von Georgien aus betrachten, werde aber regelmäßig von meinen Stiftungsmitarbeitern im Armenien-Büro in Yerevan über die Lage informiert. Für Aserbaidschan ist das so leider nicht der Fall, weil wir unser Verbindungsbüro in Baku 2015 schließen und unsere Aktivitäten weitestgehend einstellen mussten. Deshalb ist meine „Zeugenschaft“ für Aserbaidschan derzeit noch weiter eingeschränkt als die für Armenien.

Seit fast dreißig Jahren ringen beide Länder um die Berg-Karabach-Region. Wieso kam es jetzt zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen?

Warum gerade der jetzige Zeitpunkt als günstig erschien, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht sind das militärstrategische Überlegungen. Im Moment ist jedenfalls kein schwerwiegender Anlass zu identifizieren, der zumindest diesen Zeitpunkt besser erklären könnte. Die Verhandlungen der sogenannten „Minsk-Gruppe“ innerhalb der OSZE, die eine friedliche Beilegung des Konflikts zum Ziel haben, laufen schon seit einigen Jahren weitestgehend erfolglos. Es gab in der unmittelbaren Vergangenheit auch keinen massiven Anlass zu dieser exorbitanten Eskalation, wenn man mal davon absieht, dass die Friedensvermittlungen, wie bereits erwähnt, seit Jahren kaum vorankommen. Aber vielleicht werden wir bezüglich des Zeitpunkts der Eskalation später mehr erfahren.

Sie sprachen eingangs von einer hohen Gefahr für einen Flächenbrand in der Region. Wie schätzen Sie den Einfluss Russlands und der Türkei ein, die sich als Schutzmächte Armeniens bzw. Aserbaidschans betrachten?

Wenn ich auf die Formulierung Ihrer Frage sehe, dann sei angemerkt: nicht nur Russland sieht sich als Schutzmacht Armeniens. Auch Armenien sieht Russland als einzig mögliche Schutzmacht für sich selbst. Das ist ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit. Es gibt ein bilaterales Abkommen zwischen Armenien und Russland, auf dessen Basis beispielsweise ca. 5.000 russische Militärangehörige in Armenien stationiert sind. Diese sind für die Überwachung des Luftraums an der armenisch-türkischen Grenze zuständig.

Auf der anderen Seite betrachtete sich die Türkei auch schon seit Langem als natürlicher Bündnispartner des turksprachigen „Bruderlandes“ Aserbaidschan. Und auch Aserbaidschan sieht sich da nicht in einer passiven Rolle, sondern betrachtet den großen Nachbarn im Süden als natürlichen Bündnispartner. Neu ist, dass an den aktuellen Kriegshandlungen die Türkei unverblümt mit massiver personeller und materieller Unterstützung beteiligt ist. Das heißt, die Türkei richtet sich 2020 offen gegen Armenien, was nach der Geschichte der beiden Länder im 20. Jahrhundert ein sehr ernstzunehmender Fakt ist. Die Türkei hat über niemand Geringeren als deren Präsidenten eine ganz klare proaserbaidschanische und mithin antiarmenische Positionierung eingenommen.

Lassen Sie mich zu dieser Frage noch anmerken, dass der Blick auf diese beiden „Verbündeten“ der eigentlichen Kriegsparteien zwar auf der Hand liegt. Übrigens sollte nicht vergessen werden, dass auch der Iran davor steht, eine größere Rolle zu spielen, was die Gefahr eines Flächenbrandes nicht geringer macht. Iran wäre ein potentieller Verbündeter Armeniens und traditioneller Gegner Aserbaidschans. Nach Schließung des georgischen Luftraums für militärische Versorgungsflüge von Russland nach Armenien gehen diese Flüge jetzt über den Iran.

Aber nach meiner Erfahrung richtet sich der westeuropäische Blick manchmal zu sehr auf diese Großmächte, was den Eindruck erweckt, es würde reichen, auch diesen Konflikt nur als Teil eines „big game“ regionaler Großmächte zu betrachten. Dabei wird der Eindruck erweckt, dass die vermeintlich „Kleinen“, in diesem Fall Aserbaidschan und Armenien, nur Bauernopfer der großen Geopolitik seien. Das wäre so nicht richtig. Es wäre für das Verständnis dieses Konfliktes sehr wichtig, wenn man versuchen würde, nicht nur die Interessen der Großmächte als einzig bestimmende Faktoren zu betrachten und mithin nur bei denen die Lösungsmöglichkeiten sehen würde.

Wie können sich Deutschland und die EU für eine Waffenruhe und eine friedliche Annäherung der Konfliktparteien einsetzen?

Wichtig wäre es zu versuchen, die Perspektiven der Konfliktparteien mit in den Blick zu nehmen. Ich fürchte, ein einfaches „Wir fordern die Konfliktparteien auf, die Waffen ruhen zu lassen…“ reicht nicht aus. Nicht, dass es falsch wäre. Aber es muss mehr geschehen. Um nur mal die Sicht der Armenier darzustellen, die ich aus den bereits genannten Gründen vielleicht etwas besser einschätzen kann. Nach deren Erfahrungen im Osmanischen Reich spätestens seit Ende des 19., aber insbesondere denen im 20. Jahrhundert, geht es für Armenier bei solchen Konflikten wie den um Karabach nicht nur um ein paar Quadratkilometer mehr oder weniger. Armenier haben zwangsläufig das Gefühl, es gehe um ihre prinzipielle Existenz. So etwas müssen Dritte ernstnehmen. Und Aserbaidschaner fokussieren in diesem Kontext sehr oft auf die Erfahrungen mit massenhafter Vertreibung in den 1990er Jahren. Diese Perspektiven der vermeintlich „Kleinen“ können eine ganz eigene Dynamik entfalten – jenseits des „big game“ der Geopolitik. Armenier brauchen keine russische Propaganda, um aktiv zu werden, wenn es um das Schicksal von 145.000 armenischen Karabachern geht. Und ich nehme an, dass auch Aserbaidschaner nicht erst türkische Einflüsterungen benötigen, um bei diesem Thema zu reagieren.

Herr Schrapel, Danke für das Gespräch.

Das Interview führte Stefan Stahlberg von der Online-Redaktion.

 

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Stephan Malerius

Stephan Malerius

Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus

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تقارير البلدان
٥ أبريل ٢٠١٦
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