تقارير البلدان
Die Nachwahlen vom 9. März in Siirt
Die Kandidatur Recep Tayyip Erdogans für die Wahl zur Grossen Türkischen Nationalversammlung am 03.11.2002 wurde vom Hohen Wahlrat verboten. Der Hohe Türkische Wahlrat ist nach türkischem Recht ein unabhängiges elfköpfiges Gremium, in dem sechs hohe Richter des Kassationsgerichtshofs und fünf Vertreter des Oberverwaltungsgerichts für die Dauer von sechs Jahren gewählt sind. Erdogans Kandidatur wurde abgelehnt, weil er vor drei Jahren nach Paragraph 312 des türkischen Strafgesetzbuches aufgrund von Volksverhetzung zu einer 10-monatigen Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Da der Eintrag im polizeilichen Führungszeugnis Erdogans noch nicht erloschen war – nach drei Jahren werden solche Einträge automatisch gelöscht -, versagte ihm der Wahlleiter die Kandidatur.
Für alle politischen Beobachter war damals klar, die neugebildete 58. Regierung um Ministerpräsident Abdullah Gül ist lediglich Übergangsregierung so lange, bis Tayyip Erdogan ins Parlament gewählt ist und damit Ministerpräsident werden kann. Obwohl die AKP-Strategen anfänglich keinen genauen Zeitplan hatten, kam ihnen der Zufall gelegen, als der Hohe Türkische Wahlrat die Wahl im Wahlkreis Siirt im äußersten Südosten des Landes für ungültig erklärte. Es wurden Unzulänglichkeiten bei der Auszählung der Wahlurnen festgestellt und eine Nachwahl angesetzt.
Mit 84,8% der abgegebenen Stimmen in Siirt konnte die AK-Partei in dieser Wahl sogar alle drei Mandate gewinnen, so dass sie nun mit 365 Mandaten noch drei mehr als vorher besitzt. Damit fehlen ihr lediglich noch zwei Mandate zur 2/3 Mehrheit. Erdogan, dessen Frau gebürtige Siirterin ist, was sicherlich für einen gewissen Heimvorteil sorgte, kam aber auch zugute, dass die in Siirt traditionell starke pro-kurdische HADEP-Partei zu einem Wahlboykott aufrief und ihre Kandidaten zurückzog. Die Volksdemokratische Partei (HADEP) ist mittlerweile vom türkischen Verfassungsgericht verboten worden. Dies ist das 26. Parteienverbot in der türkischen Parteiengeschichte.
Die neue türkische Regierung
Tayyip Erdogan war nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Gül mit der Regierungsbildung beauftragt worden. Mittlerweile hat er sein neues Kabinett vorgestellt. Nach der Reduzierung der Anzahl der Staatsminister und Minister von vormals 37 auf 25 durch die Gül-Regierung, hat Erdogan nochmals sein Kabinett um zwei Staatsminister auf 23 Ressorts reduziert. Abdullah Gül wurde Außenminister und stellvertretender Ministerpräsident, der vormalige Staatsminister Kürsat Tüzmen wurde anstelle von Imdat Sütlüoglu Umweltminister, Erkan Mumcu wurde vom Erziehungsminister zum Kultusminister ernannt und Hüseyin Çelik übernimmt ab sofort anstelle des Kultusministeriums das Erziehungsministerium. Ertugrul Yalçinbayir (bisher stellvertretender Ministerpräsident und Staatsminister), Imdat Sütlüoglu (vormals Umweltminister) und Yasar Yakis (vormals Außenminister) sind nicht mehr im Kabinett vertreten.
Die ersteren beiden sind sicherlich deshalb abberufen worden, weil sie bei der Parlamentsentscheidung vom 1. März über die Erlaubnis zur Stationierung amerikanischer Truppen in der Türkei gegen den Regierungsvorschlag gestimmt hatten. Zusätzlich hat die neue Regierung angekündigt, künftig die Ressorts für Tourismus und Kultur sowie Wald und Umwelt zusammenlegen zu wollen.
Eine Zwischenbilanz - Die ersten hundert Tage der AKP-Regierung
Sicherlich gehen viele türkische Tageszeitungen zu weit, wenn sie der Regierung Gül nach ihren ersten hundert Tagen ein schlechtes Zeugnis ausstellen. Bei der Bewertung von Erfolgen und Misserfolgen der neuen Regierung muss man beachten, dass sie in einer außenpolitisch äußerst schwierigen Situation Handlungsfähigkeit beweisen musste. Das ungelöste Zypern-Problem und der Irak-Krieg haben die neue Regierung vor schwierige Entscheidungen gestellt. Dies lässt sich u.a. an der knappen Abstimmungsniederlage im türkischen Parlament zeigen, als am 1. März über die Erlaubnis zur Stationierung amerikanischer Soldaten in der Türkei entschieden werden sollte. 71 AKP-Abgeordnete stimmten gegen ihre eigene Regierung, wobei in der Endabrechnung lediglich vier Stimmen für den Regierungsentwurf fehlten.
Jedoch hat sich Erdogan bei der ungelösten Zypern-Frage äußerst ungeschickt verhalten. Gleich nach dem Wahlsieg vom 03.11.2002 hat er die Position vertreten, dass die Türkei natürlich an einer einvernehmlichen Lösung in Zypern interessiert sei, an dessen Ende 2004 die Aufnahme Gesamtzyperns in die EU stehen soll. Des weiteren regte er jedoch einen Lösungsvorschlag an, der sich am "belgischen Modell" orientieren sollte. In der türkischen Öffentlichkeit wurde dies als Fauxpas eines Politikers gewertet, der die Empfindlichkeiten der türkisch-zypriotischen Seite missachtend sich ohne ausgeprägtes außenpolitisches Profil auf sehr dünnes Eis gewagt hatte. Erdogan hat diese Äußerung gleich im Anschluss zurückgenommen und durch diesen Vorstoß wurde deutlich, dass die AKP erst noch ihre Positionen in der Außenpolitik finden musste. Nachdem alle Vermittlungsversuche der UN nun gescheitert sind, kann man nur hoffen, dass beide Seiten bis spätestens Ende 2004 doch noch eine Lösung finden und nicht nur ein Teil Zyperns EU-Mitglied wird.
Daneben hat die Regierung seit Dezember 2002 insgesamt 54 Verfassungs- und Gesetzesänderungen im türkischen Parlament beschlossen, wie z.B. die Neureglung der Arbeitserlaubnis für Ausländer in der Türkei. Aufgrund der politischen Großwetterlage sind diese Gesetzesänderungen zwar in der türkischen Öffentlichkeit untergegangen, die Neureglung der Arbeitserlaubnis für Ausländer ist aber trotzdem als historische Entscheidung zu bewerten. Ein Ausländer, der seit acht Jahren in der Türkei lebt und arbeitet, bekommt nun die Möglichkeit einer unbefristeten Arbeitserlaubnis. Bisher mussten Ausländer, auch wenn sie seit über 30 Jahren in der Türkei lebten, mindestens alle zwei Jahre eine Verlängerung ihrer Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis beantragen und die Arbeitserlaubnis war nur an einen Arbeitgeber gebunden.
Die türkische Haltung im Irak-Krieg
Auch wenn die türkische Regierung im Irak-Konflikt eine schwierige Position zu vertreten hat und zwischen unterschiedlichsten Interessen lavieren muss, hat sie durch das Scheitern der ersten Abstimmung für eine Genehmigung zur Stationierung amerikanischer Truppen in der Türkei in den Augen vieler politischen Beobachter eine erste schwere innenpolitische Niederlage hinnehmen müssen. Nach außen hin konnte das Abstimmungsergebnis, wie durch die sozialdemokratische Oppositionspartei CHP, noch als Sieg der Demokratie gewertet werden, zudem auch ein Großteil der türkischen Bevölkerung nach wie vor gegen den Irak-Krieg ist.
Die negativen Auswirkungen des 1. Golfkriegs auf die Türkei und die türkische Wirtschaft ist immer noch allgegenwärtig, man beziffert den Schaden dieses Krieges für die Türkei von offizieller Seite auf 100 Mrd.$. Ein Auseinanderfallen des Iraks in mehrere unabhängige Teilstaaten mit einem kurdischen Staat im Norden ist der Alptraum der Türkei, weil dadurch die Unabhängigkeitsbestrebungen der in der Türkei lebenden Kurden wieder angestachelt werden könnte, so die Angst. Diese ist durchaus begründet, zumal nach der Inhaftierung Öcalans der langjährige PKK-Terror zu einem Ende gekommen und eine merkliche Verbesserung der Zustände im Südosten der Türkei zu verzeichnen ist. Dies begründet auch den Wunsch der Türkei nach Einmarsch türkischer Truppen in den Nordirak, wo schon seit Jahren kleinere Truppenkontingente präsent sind.
Die Türkei macht aber immer wieder deutlich, dass ein Einmarsch türkischer Truppen nur zur Wahrung der eigenen Interessen und humanitären Zielen diene. Die Türkei möchte Teile des Nordiraks nicht dauerhaft besetzen und habe auch nicht die Absicht der Annexion von Teilen des Nordiraks. Durch ihre militärische Präsenz im Nordirak möchte sie nach dem Krieg die Entwaffnung der kurdischen Kämpfer überwachen, Flüchtlingsströme schon weit vor der türkischen Grenze aufhalten und auch Garant für die Interessen der Turkmenen in einer Nachkriegsordnung sein. Der neuerliche Einmarsch von 1000 türkischen Soldaten in den Nordirak wurde vom türkischen Generalstab übrigens dementiert.
Die Türkei hat sich ihre Entscheidung zumindest schwer gemacht und aller Welt gezeigt, dass sie nicht durch milliardenschwere Finanzhilfen der Amerikaner käuflich ist und hat wahrscheinlich durch ihr Verhalten den Kriegsbeginn verzögert. Zumindest hat die türkische Haltung in dieser Frage die Kriegsstrategie der Amerikaner teilweise ad absurdum geführt, da nun vom Norden her kein Einmarsch mehr möglich ist.
Jedoch hat Ministerpräsident Gül Führungsqualitäten vermissen lassen, als er keinen Fraktionszwang für diese Abstimmung anordnete und zuließ, dass sogar drei Minister des Kabinetts gegen den eigenen Regierungsvorschlag stimmten. Beobachter sind sich darin einig, dass bei einem Ministerpräsidenten Erdogan, der bei wichtigen Fragen seine Führungskompetenz durchzusetzen weiß, ein solches Abstimmungsergebnis nicht zustande gekommen wäre.
Das türkische Parlament hat zwar am 20. März 2003 einen neuen abgespeckten Entwurf beschlossen, dieser erlaubt den Amerikanern aber lediglich Überflugrechte für den türkischen Luftraum. Die Stationierung amerikanischer Soldaten in der Türkei sowie die Benutzung türkischer Luftwaffenbasen ist bisher aber nicht gestattet. Diese Entscheidung in letzter Sekunde war aber verspätet. Obwohl die Türkei damit auf das Boot der „Koalition der Willigen“ aufzuspringen gedachte, blieben bisher die erhofften amerikanischen Finanzhilfen aus. Die USA dankte der Türkei für das Entgegenkommen, über das Hilfspaket wird aber nicht mehr diskutiert.
Trotzdem waren seit Wochen amerikanische Truppenbewegungen vom Mittelmeerhafen Iskenderun an die irakische Grenze zu beobachten. Mittlerweile kehren die ersten amerikanischen Soldaten jedoch wieder ans Mittelmeer zurück, um auf dem Seeweg durch das Rote Meer und den Suezkanal nach Kuwait verschifft werden zu können. Die Regierung berief sich hierbei auf eine Erlaubnis, die vom türkischem Parlament an die Amerikaner gegeben worden ist hinsichtlich der Erneuerung von Häfen und Flughäfen in der Türkei; zusätzlich soll es noch eine Geheimabsprache zwischen Türken und Amerikanern zu diesem Thema geben. Letztlich hat sich aber die oppositionelle CHP schon zu Wort gemeldet und angekündigt, dass sie gegen das Verhalten der AKP beim Verfassungsgericht Klage einreichen will.
Wie in Deutschland scheint nun auch in der Türkei die Regierung zukünftigen Gerichtsverfahren gegenüber zu stehen, weil der Angriff der Amerikaner auf den Irak nicht durch ein völkerrechtlich gültiges UNO-Mandat gedeckt ist.
Zukunftsaussichten der neuen Regierung
In jedem Fall steht der charismatische Erdogan für einen anderen Führungsstil als Abdullah Gül. Erdogan wird weniger auf Lavieren und Ausgleich unterschiedlicher Interessen, denn auf Fraktionszwang und seinen Willen abstellen. Während Abdullah Gül als potentielle Führungspersönlichkeit eingeschätzt wird, gilt Erdogan als natürliche Führungspersönlichkeit, der pragmatisch und entschieden seinen Willen durchzusetzen vermag. Aus diesem Grund sind auch viele enge Mitarbeiter Erdogans aus seiner Zeit als Oberbürgermeister in Istanbul nun seine engsten Berater und in wichtigen administrativen Positionen im Parlament und in den Ministerien.
Erdogan hat in seiner Regierungserklärung deutlich gemacht, dass seine Regierung als Fortsetzung der Gül-Regierung zu sehen ist und jetzt die „zweite Raketenphase gezündet sei“. Entscheidend wird sein, wie lange der Irak-Krieg dauert und welche Auswirkungen dieser auf die türkische Wirtschaft haben wird. Gerade in wirtschaftspolitischen Fragen konnte die Regierung Gül keine entscheidenden Verbesserungen erreichen. Beschlossen wurde lediglich ein neues Kündigungsrecht, welches türkische Arbeitnehmer weit mehr als bisher schützen soll. Dieses sollte eigentlich am 15. März 2003 in Kraft treten. Nachdem aber viele türkische Firmen in den letzten Wochen Zehntausende von Mitarbeitern aus Angst vor diesem verschärften Kündigungsrecht entlassen hatten, wurde die Inkraftsetzung dieses Gesetzes auf Ende Juni 2003 verlegt. Entscheidend wird für die Regierung sein, ob die von Erdogan angekündigten milliardenschweren Finanzzuweisungen auch in den nächsten Wochen und Monaten die Türkei erreichen.
Im Abstimmungsverhalten der AKP-Abgeordneten vom 1. März zeigt sich aber auch, dass es mehrere unterschiedliche Strömungen im AKP-Lager gibt; die Anwendung eines Fraktionszwanges wohl schwere Risse innerhalb der Partei zur Folge gehabt hätte, welche ohne weiteres zu Parteiaustritten oder/aber sogar der Neugründung einer Partei hätte führen können. Für einige türkische Journalisten ist diese Parteispaltung übrigens schon vollzogen. Aber das scheint übertrieben. Die Zukunftsaussichten der AKP-Regierung werden sich erst nach Ende des Irak-Kriegs genauer abschätzen lassen.
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