Die Palästinensische Autonomiebehörde hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Sie verliert zunehmend an Vertrauen. Unter anderem, weil sie ihre Autorität im Bereich Sicherheit nicht durchsetzen kann. Mit Israel arbeitet die PA bei der Weitergabe von Geheim-dienstinformationen über die eigene Bevölkerung zusammen, während sie palästinensische Kritiker wie Aktivisten und Journalisten verhaftet. Erst im Juni war der bekannte Internetaktivist Nizar Banat während seiner Verhaftung verstorben. Sein Tod hatte Demonstrationen gegen die politische Führung ausgelöst, deren Kernforderungen wohl so schnell nicht abklingen werden. Doch nicht nur eine Reform des palästinensischen Sicherheits-apparats wird gefordert, sondern vielerorts auch ein Ende der Sicherheitskooperation mit Israel.
Die Sicherheitskooperation mit Israel
In einem Flüchtlingscamp in Jenin starben in der Nacht des 17. August 2021 vier junge Palästinenser durch die Kugeln israelischer Agenten. Die vier Palästinenser versuchten mehrere Verhaftungen von ihnen nahestehenden Personen zu verhindern. Daraufhin kam es zu Schusswechseln zwischen den israelischen Einsatzkräften und den Palästinensern.
Jenin ist eine Provinzhauptstadt im Norden des Westjordanlandes, die sich vollständig unter Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde befindet und zu der israelische Kräfte eigentlich keinen Zutritt haben. Aber vor allem in den vergangenen Monaten ist deutlich geworden, dass die Kooperation, die Israel in Abstimmung mit der PA Einsätze im gesamten West-jordanland erlaubt, zu einer inner-palästinensischen Zerreißprobe wird. So finden Operationen des israelischen Militärs nahezu täglich in einem der A-Gebiete statt und zwar mit dem Wissen der PA. Wenn die israelische Armee dort operiert, hat der palästinensische Sicherheitsapparat in vielen Fällen sogar die notwendigen Geheimdienstinformationen bereitgestellt.
Die Grundlage dafür ist jene Sicherheits-kooperation der Palästinensischen Autono-miebehörde mit Israel, die 1993 im Zuge des ersten Osloer Abkommens geschaffen wurde. Die Osloer Verträge sollten eigentlich das Ende der israelischen Besatzung in einem Stufenplan herbeiführen, gelten aber heute als größtenteils gescheitert. Die Abkommen von 1993 und 1995 haben das Westjordanland in drei Bereiche eingeteilt: Die A-Gebiete stehen unter voller Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde und umfassen die größten Städte wie Bethlehem, Jenin, Jericho, Ramallah, Tulkarem und Teile von Hebron. In den B-Gebieten teilen sich israelische und palästinensische Kräfte die Verantwortung, wobei Israel für die Sicherheitskontrolle zuständig ist und die PA für die Zivil-verwaltung. Die C-Gebiete machen ca. 60 Prozent des Westjordanlandes aus und stehen unter vollständiger israelischer Kontrolle.
Die Sicherheitskooperation beinhaltet, dass die Palästinensische Autonomiebehörde Informationen an Israel weitergibt, die relevant sind, um gegen Terrorvorhaben vorzugehen und um damit Israels Sicherheit zu gewährleisten. Diese Informationen werden von der israelischen Armee und von der Grenzpolizei dazu genutzt, Personen gezielt zu verhaften. Die von der größten palästinensischen Partei Fatah dominierte PA nutzt das System aber auch immer wieder, um Informationen über oppo-sitionelle Politiker, oftmals jene der Hamas, an Israel weiterzugeben, was häufig zu deren festnahmen durch israelische Sicherheits-kräfte führt. Die Sicherheitskooperation wird daher von vielen Palästinenserinnen und Palästinensern als nachteilig und gegen sie selbst gerichtet empfunden, sofern sie nicht im Sinne des von der PA kontrollierten Systems handeln.
Wenn die israelische Armee ihre Verhaftun-gen in den A-Gebieten des Westjordan-landes durchführt, zumeist mitten in der Nacht, ziehen sich die palästinensischen Sicherheitskräfte zurück. In den meisten Fällen betritt das israelische Militär in Vollausrüstung und mit schwerem Geschütz die A-Gebiete. Solche Razzien sind daher frühzeitig erkennbar und dienen dazu deutlich zu machen, wer die eigentliche Macht und Kontrolle besitzt. Innerhalb des israelischen Militärs gibt es aber auch eine Sondereinheit für verdeckte Einsätze.[1] In der Regel werden dabei auf Kommandoebene Informationen zwischen den israelischen und palästinensischen Kräften ausge-tauscht, die lokalen Behörden bleiben aber im Unklaren. Die Einheit besteht aus israelischen Soldatinnen und Soldaten, die fließend Arabisch sprechen und darauf trainiert sind, sich als Palästinenserinnen oder als Palästinenser auszugeben. Sie kennen das Westjordanland und die lokalen Gegebenheiten gut und können so unter Tarnung Menschen ausfindig machen und bei Verhaftungen je nach Lage direkt zugreifen. Auf Hebräisch werden sie Mista’arvim genannt. Die Bezeichnung ist eine Entlehnung des arabischen Worts Musta’ribin und beschrieb ursprünglich Juden, die in den vergangenen Jahr-hunderten offen neben Muslimen im Nahen Osten gelebt und daher deren Kultur und Sprache geteilt haben.
Auch im Fall der vier jungen Männer aus Jenin waren Mista‘arvim beteiligt.[2] Bei dem Einsatz in der Nacht hatten lokale Palästinenser die aufgedeckten israelischen Agenten angegriffen, um Verhaftungen zu verhindern. Die palästinensische Polizei war nicht vor Ort. Bei Einsätzen der israelischen Armee können die Palästinenserinnen und Palästinenser generell nicht auf den Schutz ihrer Sicherheitskräfte hoffen. Wegen Vorfällen wie diesem wird die Sicherheits-kooperation von vielen als Verrat der Palästinensischen Autonomiebehörde an der eigenen Bevölkerung gesehen. Durch ihre Kooperation mit Israel hält diese in den Augen der Kritiker den Status quo der Besatzung aufrecht.
Der Einfluss von Clanstrukturen auf das Gewaltmonopol
Der palästinensische Sicherheitsapparat verliert sein Ansehen aber nicht nur wegen seiner Zusammenarbeit mit Israel. Rivalisierende Großfamilien tragen ihre Konflikte offen außerhalb des palästinen-sischen Rechtssystems aus und untergraben damit die Autorität der PA. Die Familienclans haben eine lange Tradition, besonders in Gebieten wie Gaza, Hebron und Nablus, die von den Vertreibungen 1948 nicht direkt betroffen waren. Sie leben nach ihren eigenen Rechtssystemen und erkennen die staatliche Gewalt oft nicht an. Morde werden mit Blut vergolten, es sei denn, die Angelegenheiten können zwischen den Ältesten der Familien vermittelt werden. Dabei spielen Geldzahlungen und die Ehre der jeweiligen Familie eine große Rolle. Staatliche Ermittlungen lassen Clanfamilien nicht immer zu.
In Hebron wurde Ende Juli mit Basil al-Jabari ein Mitglied einer der einflussreichsten Familien der Stadt erschossen. Die Tat wird als Racheakt der mit den al-Jabaris rivalisierenden Awiwi-Familie gewertet. Als Reaktion auf den Mord zündeten Ange-hörige der al-Jabaris Geschäfte, Autos und Eigentum der Awiwis an und randalierten auf den Straßen. Dabei fielen besonders die schweren Waffen ins Auge, die Anhänger beider Familien bei sich trugen. Sie nutzen Gewehre und Langfeuerwaffen wie M16 und Kalaschnikows.
Die Bewaffnung einzelner Gruppen scheinen sowohl die PA als auch Israel stillschweigend zu akzeptieren. Letzteres geht offenbar davon aus, dass sie keine Gefahr für israelische Staatsbürger darstellen. Denn die Waffen, die sich im Privatbesitz einiger Großfamilien befinden, werden fast nie gegen israelische Ziele eingesetzt, denn sie dienen hauptsächlich der internen Rivalität in den patriarchalischen Strukturen einiger Großfamilien, die in vielen Fällen über eigene gut funktionierende Kontakte nach Israel verfügen – oftmals eine Notwendigkeit um wirtschaftlichen Erfolg zu generieren. Sollten diese Waffen, deren Aufenthaltsorte nicht allzu geheim sind, zu einer Gefahr für die israelische Sicherheit werden, würden diese von den israelischen Sicherheits-behörden eingezogen werden. In Sicherheitskreisen heißt es, dass die Waffen entweder über kriminelle Banden vom israelischen Schwarzmarkt ins Westjordan-land gelangen oder aus Jordanien und Ägypten geschmuggelt werden. Zunehmend werden die Waffen aber auch selbst gebaut. Spielzeuggewehre, die eigentlich mit Plastikmunition schießen, werden professio-nell umgebaut, sodass sie scharfe Munition abfeuern.
Die Großfamilien sind dadurch zum Teil besser mit Waffen ausgestattet als die palästinensische Polizei. Letztere nutzt meist Handpistolen, die sie im Rahmen der Sicherheitskooperation von Israel zur Verfügung gestellt bekommt. Zudem ist der palästinensische Sicherheitsapparat in viele verschiedene Behörden unterteilt, deren Aufgabenbereiche oft nicht festgelegt sind, wodurch es zu unklaren Zuständigkeits-bereichen kommt. Auch der Personal-überschuss, den man in allen Organi-sationen der PA findet, steht einer effektiven Kontrolle im Weg – häufig sind Mitglieder von Großfamilien auch im Sicherheits-apparat tätig. Die PA verfügt somit nicht über das alleinige Gewaltmonopol in ihren formal zuständigen Gebieten des Westjordanlandes (in Ost-Jerusalem hat es Israel inne, im Gaza-Streifen liegt es seit 2007 bei der Hamas). Stattdessen liegt die lokale Macht über sicherheitsrelevante Entscheidungen in eher traditionell geprägten Regionen wie Hebron oder Nablus bei den relevanten Groß-familien.
Die Familienclans nutzen diese Schwäche und eigene israelische Kontakte, um somit selbstständige autonome Strukturen innerhalb des Westjordanlandes aufzu-bauen und zu erhalten. Farid al-Jabari, einer der führenden Köpfe der gleichnamigen Familie, pflegt offene Beziehungen mit israelischen Siedlerinnen und Siedlern, die in Hebron leben und als besonders radikal gelten. Normalerweise würde ein Palästinenser, der offensichtlich mit Israel in Besatzungsfragen kooperiert, in der Gesellschaft als Verräter angesehen werden. Die al-Jabaris haben aber eine gefestigte Machtbasis in Hebron. Clans wie sie sind mehr als nur Familien, sie bestehen oft aus 10.000 bis 20.000 Mitgliedern und haben ein soziales Netz für ihre Angehörigen geschaffen. Sie erfüllen insbesondere an prekären und traditionell geprägten Orten wie Hebron eine wichtige Funktion: Sie sorgen anstelle der PA für die gesellschaftliche Ordnung und deren Einhaltung. Die Familien haben sich dabei ihre eigenen Einflussbereiche und Wirtschaftszweige, teils im Disput, aufgeteilt. Teile der lokalen PA sind demgegenüber häufig machtlos oder nur informell involviert. Die Clanstrukturen haben ein Machtpotential entwickelt, mit dem die PA aufgrund ihrer eingeschränkten Ressourcen kaum Schritt halten kann.
Die palästinensische Gesellschaft zwischen Abhängigkeit und Revolte
Der offensichtliche Mangel an Autorität des palästinensischen Sicherheitsapparats trifft auf die zunehmende Unzufriedenheit inner-halb der Bevölkerung. Es herrscht ein allgemeines Gefühl von umfangreicher Korruption in allen Bereichen. In den Palästinensischen Gebieten haben seit mehr als 15 Jahren keine nationalen Wahlen mehr stattgefunden. Die Wahlen, die für Mai 2021 angesetzt waren, wurden von der PA abgesagt; offiziell, weil Israel die Teilnahme von Palästinenserinnen und Palästinensern in Ost-Jerusalem verhindert. In Wirklichkeit haben aber weder die aktuelle palästinen-sische Führung noch Israel Interesse an Wahlen. Die Regierungspartei Fatah, zu der Präsident Mahmoud Abbas gehört, befürchtet, bei Wahlen abgestraft zu werden und letztlich Stimmen an die im Gaza-Streifen herrschende Hamas zu verlieren. Israel wiederum würde die Weiterführung der Sicherheitskooperation riskieren, wenn es zu einem Regierungswechsel käme. Für Israel ist der Zugang zu allen Gebieten des Westjordanlandes besonders wichtig, um die Bewohnerinnen und Bewohner der über 130 Siedlungen zu schützen. Diese sind international als völkerrechtswidrig einge-stuft worden, der Siedlungsbau setzt sich aber gleichwohl meist ungehindert fort.
Währenddessen bleibt die palästinensische Bevölkerung frustriert zurück. Mehr als 25 Jahre nach Abschluss der Osloer Verträge ist ein souveräner palästinensischer Staat in weite Ferne gerückt, die eigentlich temporären Vereinbarungen im Sicherheits-bereich haben sich verfestigt. Doch warum wird die Sicherheitskooperation von palästinensischer Seite aufrechterhalten? Einerseits dient die Kooperation dem Machterhalt der palästinensischen Elite, der palästinensische Sicherheitsapparat ist aber auch einer der größten öffentlichen Arbeitgeber und verfügt damit über Rückhalt in vielen Teilen der palästinensischen Bevölkerung. 44 Prozent der Angestellten im Öffentlichen Dienst arbeiten im Sicherheits-sektor.[3] Ein Viertel der PA-Ausgaben gehen dorthin, den größten Anteil machen dabei die Personalkosten (ca. 85 Prozent) aus.[4] Der Sicherheitsapparat ist also ein wichtiger Beschäftigungssektor und eine wichtige Einkommensquelle für viele Palästinen-serinnen und Palästinenser. Indirekt profitieren von den dadurch vorhandenen Konsumausgaben auch andere Wirtschafts-zweige wie der Einzelhandel oder die Gastronomie. Daneben ist die Kooperation grundsätzlich ein politischer Spielball für die palästinensische Regierung, um Druck auf Israel auszuüben. Präsident Abbas hat daher schon häufig in der Vergangenheit gedroht, die Sicherheitskooperation aufzukündigen. So kam es im letzten Jahr zwar zu einer mehrmonatigen Aussetzung der Kooperation, diese wurde aber nach der Wahlniederlage von Donald Trump in den USA wieder fortgeführt. Die meisten Drohungen verliefen bislang meist ins Leere.
Darüber hinaus haben viele Palästinen-serinnen und Palästinenser Angst davor, öffentlich Kritik an der Autonomiebehörde zu äußern. Der Fall des bekannten Internetaktivisten und PA-Oppositionellen Nizar Banat, der bei seiner Festnahme durch den palästinensischen Geheimdienst im Juni tödlich verletzt worden ist, ist Aktivistinnen und Aktivisten allgegenwärtig. Als Reaktion auf den tödlichen Vorfall, den viele als geplanten Mord durch die PA interpretieren, waren im Westjordanland zahlreiche Palästinenserinnen und Palästinenser auf die Straßen gezogen, um zu demonstrieren. Dabei kam es zu Rücktrittsforderungen gegenüber Präsident Abbas sowie zu Rufen nach mehr Transparenz und Reformen im Sicherheitsapparat. Die palästinensische Polizei und zivil gekleidete Unterstützer der Fatah und der PA lösten die Demon-strationen teils mit Gewalt auf. Es gab Berichte über sexuelle Belästigung von Demonstrantinnen sowie über Behinde-rungen von Journalistinnen und Journalisten bei ihrer Berichterstattung.
Die Bedrohung geht für viele Palästinen-serinnen und Palästinenser daher nicht mehr nur von der israelischen Besatzung aus, sondern auch von ihren eigenen politischen Vertretern und deren Machtapparat. Während die Polizei nicht vor Ort ist, wenn Palästinenserinnen und Palästinenser von israelischen Kräften verhaftet oder getötet werden, geht sie mit aller Härte gegen die eigene Bevölkerung vor. Weil viele Palästinenserinnen und Palästinenser für den personell aufge-blähten Regierungsapparat arbeiten, sind ihre Möglichkeiten, offen gegen das System von Präsident Abbas und seiner PA-Regierung vorzugehen, jedoch begrenzt. Die Autonomiebehörde hat damit eine Atmosphäre der Angst, Repression und Abhängigkeit geschaffen.
Je mehr die Frustration und Enttäuschung innerhalb der palästinensischen Bevöl-kerung wächst, desto schwerer lässt sich der Machtverfall der PA verstecken. Das haben vor allem die Demonstrationen nach dem Tod von Nizar Banat gezeigt. Die Forderungen nach Wahlen und einem Regierungswechsel sind unüberhörbar. Präsident Abbas hat seine Glaubwürdigkeit nicht nur wegen der Sicherheitskooperation mit Israel verspielt. Der Vertrauensverlust in die PA-Sicherheitsstrukturen könnte Kräften wie der Hamas Auftrieb geben, die sich für eine Abschaffung des Oslo-Systems einsetzt.
Quellen
[1]https://www.aljazeera.com/news/2018/4/10/mustaribeen-israels-agents-who-pose-as-palestinians
[2]https://www.bbc.com/news/world-middle-east-58228621
[3]https://www.iss.europa.eu/sites/default/files/EUISSFiles/Alert_12_Israel_and_Palestine.pdf
[4]https://www.kas.de/en/web/palaestinensische-gebiete/sicherheit
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