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Lichternacht und Idyllenskepsis

من Prof. Dr. Michael Braun

Bücher der KAS-Literaturpreisträger zu Weihnachten 2022

Weihnachten in einer ‚Zeitenwende‘, das christliche Geburtsfest als Zeitenwende: Wer erzählt, schenkt Zeit. Zeit zum Lesen zum Zuhören, zum Nach- und vielleicht auch Vorausdenken. So wie drei der Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung mit ihren Büchern zum Jahresende.

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Idyllen im Brennpunkt

„Zuschauen, wie etwas Schönes zerfetzt wird.“ Möchte man das wirklich? Mit der Gabe eines staunenden Realisten erzählt Martin Mosebach vom Verfall des Schönen in Alltagsminiaturen aus der besseren Gesellschaft. „Taube und Wildente“ – der neue Roman Mosebachs – führt in eine Chamière, eines jener strohbedachten Häuser in der Südprovence, vor der Cezanne-Kulisse der sommerlichen Mantagne Sainte-Victoire. Doch, Achtung, die ersten Besucher werden schon vor Skorpionen und Schlangen in dem verwahrlosten Garten gewarnt. Neun Personen sind es, denen der Erzähler heimleuchtet: in ihre trügerische Landidylle, ihre Ehelügen, Gewissenslasten und kleinen Illoyalitäten.

Im Zentrum von Mosebachs Roman steht das Ölgemälde des Frankfurter Akademiemalers Otto Scholderer, das ihm den – leicht veränderten – Titel gibt. „Taube und Wildente“ ist ein Jagdstilleben, das eine Diskussion entfacht, die stil- und themenbildend für den ganzen Roman ist. Epigonaler Kitsch oder geniale Naturphantasie, Ende oder Neuanfang der europäischen Malerei, Kunst, die weg kann – oder bleiben muss: die einen wollen das Bild behalten, die anderen wollen es verkaufen, um vom Erlös einen Dachschaden zu beheben. Am Ende des Romans geht etwas Schönes in Flammen auf, ein Weihnachtsbaum – und mit ihm das Gemälde. Eine Lektion über die Zerstörbarkeit des guten Lebens. Martin Mosebach holt die Dinge nah genug heran, rückt sie in den Brennpunkt, um den schönen Schein zu zerstören, die sie für uns aus der Distanz haben. Wie den zinnoberroten Punkt in der Mitte des Taubenschnabels, den eine Erzählfigur nachts auf dem Ölbild entdeckt.

 

Heimat im Exil

Hilde Domin, die dritte Preisträgerin der Stiftung (1995), hat zeitlebens von Flucht und Verfolgung, von Emigration und Exil geschrieben. 1932 hat sie Deutschland verlassen und ist über Italien und England nach Santo Domingo gelangt, auf demselben Schiff, mit dem auch Stefan Zweig aus Europa floh. Der Karibikinsel verdankt sie ihren Wahlnamen, unter dem sie mit ihrer Lyrik in den späten 1950er Jahren bekannt wurde. Nie hat Hilde Domin aufgehört, gegen Vorauskonformismus anzutreten (‚wenn man sich heute so bettet, wie man morgen liegen möchte‘) und für eine neue Brüderlichkeit zu plädieren („Abel steh auf“). Mit dem „Zentnergewicht“ ihrer jüdischen Herkunft warnte sie eindringlich vor der Wiederkehr des Antisemitismus. „Mut, Aufrichtigkeit, Klugheit“ sei, was man brauche gegen Terrorismus von rechts und links, schrieb sie dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer in einem langen Brief vom 27. Januar 1960, der 2021 in der italienischen Zeitschrift „studi germanici“ erstabgedruckt wurde.

Aus dem reichhaltigen Nachlass der Dichterin, der im Deutschen Literaturarchiv in Marbach liegt, ist nun ein Fundstück publiziert worden: eine Sammlung von acht „Antillengeschichten“, entstanden in den frühen 1940er Jahren und bislang noch nicht als Zyklus erschienen. Es sind kurze, schlicht geschriebene Erzählungen über Hilde Domins Erfahrungen im karibischen Exil, skurrile Stories über europäische Vernunft und Vorurteile, über Brücken und Barrieren bei der Begegnung der Kulturen, etwa in den Geschichten über das stumme Huhn Vitalias und den einohrigen Kater van Gogh. Die Erzählerin selbst tritt uns als aufgeklärte Odysseus-Figur entgegen, die nichts mehr ersehnt, als nach langer Irrfahrt heimzukehren.  

 

Lichternacht

Patrick Roth ist der vielleicht (um einen Begriff von Max Weber aufzugreifen) ‚religiös musikalischste‘ Erzähler unter den Preisträgern der Stiftung. Neben dem Film und der Tiefenpsychologie ist es vor allem die Bibel, die den Plot seiner Romane und Prosastücke inspiriert – und noch mehr als das: Patrick Roth erzählt uns das ja alles in einer aus archaischen und postmodernen Elementen gebauten Sprache, die auf faszinierende Weise in Geheimnisse des Glaubens und existentielle Grenzerlebnisse hineinleuchtet.

So die Weihnachtsgeschichte „Lichternacht“. Sie spielt im Jahr 2002, am Heiligabend, in Santa Monica, wo der weinrote Sonnenuntergang besser als Navigator dient als der Stern über Bethlehem. Eine kalifornische Trauung steht an, alle warten auf die Braut. Zur Überbrückung erzählt der Bräutigam Joe eine Geschichte. Es ist seine eigene. Vor genau 25 Jahren hatte er, Manager eines 24-hours-Diner, einen Unfall im Schneesturm auf der New Yorker Whitestone-Brücke, als er heimfuhr zu seiner Freundin, der er einen Heiratsantrag machen wollte. Bei dem Unfall erleidet Joe einen Infarkt, er sieht sich selbst zu einem weihnachtlich erleuchteten Mauthäuschen gehen. Die Geschichte hinterlässt uns mehrfache Deutungen: ein Trauma im Traum, eine Seelengeschichte, ein rite de passage oder einfach nur eine gut ausgehende Neugeburts- und Weihnachtsgeschichte, die mit dem Motto aus Matthäus 1,24 aufgemacht wird: „Da nun Joseph vom Schlaf erwachte, tat er, wie ihm aufgetragen der Engel des Herrn, und nahm seine Frau an.“

 

Und 2023?

Aus den Literaturkalendern des neuen Jahres ragt der des Zürich-Hamburger Raabe + Vitali in der Reihe „edition momente“ heraus. Elisabeth Raabe hat jedes der 53 Wochenblätter nach dem Motto „Momente des Miteinander“ empathisch gestaltet, eine Fotografie, ein Zitat, eine treffende Bildlegende. Anfang Mai ist es Sarah Kirsch, das Foto (von Helga Paris) zeigt sie, vor einer Backsteinmauer an einem Gartentisch mit Weingläsern in Mecklenburg sitzend, neben ihr Christa Wolf, die die Dichterfreundin anlächelt. Die stützt das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und schaut mit sanftem Tigerblick eigentlich ganz woanders hin, vielleicht auf ein anderes Land als den Betonstaat der DDR, der seine Dichterinnen drangsalierte, zensierte – und unterschätzte. „Und wenn ich gewaltiger Tiger heule / Verstehn sie: ich meine es müßte hier / Noch andere Tiger geben“, schrieb sie 1967 in ihrem Gedicht „Trauriger Tag“. Gab es aber nicht. 1977 verließ Sarah Kirsch die DDR, kam im Westen zum Ruhm und erhielt 1993 den ersten Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. Am 5. Mai 2023 ist ihr zehnter Todestag.

 

 

Hilde Domin: Antillengeschichten. Hamburg: Goya-Verlag.

Martin Mosebach: Taube und Wildente. Roman. München: dtv.

Patrick Roth: Lichternacht. Weihnachtsgeschichte. Frankfurt a.M. und Leipzig: Insel Verlag.

Momente des Miteinander. Der Literaturkalender 2023. Texte und Bilder aus der Weltliteratur. Zürich, Hamburg: Raabe + Vitali.

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٢٣ يناير ٢٠٠٣
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