Seit Monaten besuchen europäische Spitzenpolitiker Mittelmeerstaaten, um Abkommen zur Eindämmung der illegalen Migration abzuschließen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reiste im März zunächst nach Kairo, um rund 7,4 Milliarden EUR an Hilfen für Ägypten, das mitten in einer Finanz- und Währungskrise steckt, zuzusagen. Die EU will mit der Finanzspritze die Lebensbedingungen im Land verbessern, so dass weniger Menschen auf Grund von Armut nach Europa fliehen. Zweites Ziel der Hilfen ist, sich die Kooperation Ägyptens zu sichern, um Bootsabfahrten Richtung Europa zu verhindern. Danach sagte von der Leyen dem ebenfalls krisengeschütteltem Libanon eine Milliarde Euro zu – auch hier geht es darum, die Not der Bevölkerung etwas zu lindern und eine Weiterreise insbesondere von syrischen Flüchtlingen per Boot nach Zypern zu verhindern. Hier ist die Zahl in den letzten Monaten sprunghaft angestiegen. Fast ein Viertel aller Menschen im Libanon sind Flüchtlinge. Nun besuchte die italienische Ministerpräsidentin, Giorgia Meloni, Libyen (sowohl die anerkannte Regierung in Tripolis als auch den ostlibyschen Machthaber Khalifa Haftar) und Tunesien, um die Kooperation mit beiden Ländern im Kampf gegen Armutsmigration zu stärken. Vor der Europawahl am 06.- 09. Juni wollen die Europäer Handlungsstärke zeigen – es beginnt die Hauptsaison für Bootsabfahrten aus Libyen und dem Rest von Nordafrika, weil das Mittelmeer im Sommer weniger stürmisch ist.
Tunesien hat in den letzten Monaten Wirtschaftsmigranten und Flüchtlinge nach Libyen und Algerien abgeschoben – einige von ihnen landeten in der nordnigrischen Stadt Agadez, einem Dreh- und Angelpunkt für Migration aus Sub-Sahara Afrika Richtung Küste, und nun auch wohl für diejenigen, die bereits von dort abgeschoben wurden. Nigers Militärregierung hatte Anfang Dezember die Landroute von Agadez nach Libyen und Algerien wieder geöffnet. Auf Druck der EU hatte das Sahelland diese 2015 unter dem Eindruck der Flüchtlingswelle in Europa offiziell geschlossen und dafür im Gegenzug Milliardenhilfen bekommen. Jegliche Hilfe für Migration wurde zum Unwillen der Menschen in Agadez verboten – in der Oase mitten in der Wüste ist der Transport von Menschen der wichtigste Wirtschaftszweig. Die Militärregierung machte die Route sicher auch deswegen wieder auf, um sich Sympathien unter der Bevölkerung in Agadez zu sichern.
Agadez als Umschlagplatz für Migranten
In den letzten Monaten ist das Migrationsgeschäft in Agadez deswegen wieder voll im Gang. Bei einem Seminar der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Stadt präsentierten Experten, Behörden und Vertreter der Vereinten Nationen und der nun wieder legalisierten Schmuggler (die sich offiziell „Transporteure“ nennen) Zahlen und Hintergründe. Seit Anfang Januar sind mehr als 160.000 Migranten Richtung Norden gezogen, davon etwa 40.000 nach Algerien und der Rest nach Libyen. Mehr als 60 Prozent der Grenzgänger kommen aus Niger. Die meisten von ihnen suchen in Libyen für einige Monate Arbeit auf Baustellen und in der Landwirtschaft; sie kommen in der Regel zurück. Deswegen war das von der EU angestoßene Verbot jeglicher Hilfe für Migranten aus Agadez auch so unbeliebt, weil es nicht nur Menschen aus westafrikanischen Nachbarländern traf, die nach Europa wollen, sondern auch Arbeitssuchende aus dem Niger, die ihr Glück in Libyen machen wollten. Diese wichen auf gefährlichere Routen durch die Wüste aus, um Patrouillen zu entgehen. Der Ölstaat Libyen hatte schon unter dem 2011 gestürzten Diktator Muammar Gaddafi Hunderttausende Arbeitskräfte aus Niger und anderen Sahelländern angezogen.
Ziehen Sudan-Flüchtlinge vom Tschad nach Agadez?
Zweitgrößte Gruppe der Migranten in Niger sind mit etwa mit 12 Prozent Nigerianer, die es in der Regel tatsächlich nach Europa zieht. In Deutschland allein gibt es etwa 14.000 ausreisepflichtige Nigerianerinnen und Nigerianer. Auf dem Busbahnhof in Agadez warteten letzte Woche zwei Brüder aus Kano (im Norden Nigerias) auf eine Weiterfahrt. „Wir haben kein Geld mehr, wollen aber nach Libyen“, sagte einer der beiden. Auf Nachfrage bestätigte er jedoch, dass Italien das ultimative Ziel sei. Danach folgen auf der Liste der von Agadez Abfahrenden Flüchtlinge aus dem Tschad, Mali und dem Sudan – 800.000 Menschen haben das Bürgerkriegsland innerhalb von einem Jahr in Richtung Tschad verlassen.
Einige Flüchtlinge aus dem Sudan sind angeblich bereits nach Niger weitergezogen, weil die Zustände im Ost-Tschad katastrophal sind. Dort leben bereits 400.000 Sudanesen, die z.T. schon vor zwanzig Jahren geflohen sind. Rund 1.000 kommen täglich im Osten des Tschads hinzu. Europäische Sicherheitsbehörden beobachten seit längerem, ob auch Sudanesen verstärkt über die Mittelmeerroute kommen. Im Jahr 2023 zählte Frontex 6.931 sudanesische Flüchtlinge. Diese stellen zwar nur zwei Prozent aller in der EU ankommenden Menschen, aber es handelt sich um einen Anstieg um fast das siebenfache im Vergleich zum Jahr 2022 (lediglich ca. 1.000 Menschen aus dem Sudan). Bis Ende März 2024 zählte Frontex bereits 585 Flüchtlinge aus dem Sudan.[1]
Manche der Geflüchteten, die es geschafft haben, über Agadez nach Norden zu kommen, werden allerdings zurückgeschickt. Algerien schiebt Migranten mittlerweile verstärkt nach Niger ab – rund 10.000 in den ersten vier Monaten des Jahres 2024. Im vergangenen Jahr waren es noch lediglich knapp 14.000. Die UN-Migrationsagentur IOM holt die Abgeschobenen an der Grenze zu Niger ab und versucht, diese wieder in ihre Heimatländer zurückzubringen – sofern sie es denn wollen. Bei einem Besuch in Agadez waren zahlreiche Menschen in der Stadt zu sehen, wie z.B. eine Gruppe Frauen mit ihren Kindern aus Sierra Leone, von denen die meisten traumatische Erlebnisse wie Vergewaltigungen erleben mussten und nun nur nach Hause zurück möchten. Einige von ihnen planen aber auch die Weiterreise. „Mein Mann ist bereits in Libyen. Ich habe derzeit kein Geld, will aber versuchen, nach Libyen zu kommen“ sagte eine Frau aus Sierra Leone, die es bis nach Agadez geschafft hat, dort aber nach eigenen Angaben von mutmaßlichen Schmugglern ausgeraubt und vergewaltigt wurde.
Interessant ist, dass sich unter den Abgeschobenen auch Menschen befinden, die vorher nach eigenen Angaben in Tunesien waren, von wo aus sie vergeblich versucht hatten, per Boot nach Italien zu kommen. Tunesien fährt unter Präsident Kais Saied einen harten Kurs gegenüber Migranten aus Sub-Sahara Afrika. Sicherheitskräfte haben nach Angaben von Menschenrechtsgruppen wiederholt Migranten nach Libyen und Algerien abgeschoben, von wo aus sie dann Richtung Niger und Agadez weiter transportiert wurden. Angeblich hat die italienische Ministerpräsidentin bei ihrem Besuch in Libyen vereinbart, dass Flüchtlinge nach Niger abgeschoben werden können. Unter dem Strich gehen aber deutlich mehr Menschen nach Norden, als nach Süden wieder zurückgeschickt werden. Ob die in Libyen angekommenen Menschen dann aber tatsächlich weiter nach Europa ziehen, wird sich erst in einigen Monaten zeigen, weil der Migrationsprozess in Etappen verläuft. In Agadez arbeiten Nigerianer oder andere Migranten häufig erst einige Monate, bis sie die knapp 200 Euro für die Fahrt nach Sabha in Süd-Libyen zusammenbekommen. Danach müssen sie sich wieder als Tagelöhner verdingen, um die Weiterfahrt zur libyschen Hauptstadt zu finanzieren. Dort suchen sie dann wieder Arbeit, um genügend Geld für die Bootsüberfahrt nach Italien zu bekommen, die häufig nicht im ersten Versuch gelingt. Dann geht die Jobsuche von vorne los.
Europa hat wenig Einflussmöglichkeiten in Niger
Jeden Dienstag bricht von Agadez eine Kolonne von Fahrzeugen nach Sabha auf. Im Schnitt gibt es zwischen 70 und 130 Kleinlaster, auf denen jeweils etwa 30-40 Menschen Platz finden. In den letzten Wochen sind die Zahlen etwas gesunken – angeblich kommen weniger Saisonarbeiter wegen der nahenden Regenzeit, in der viele Bauern in Niger es vorziehen, ihre Felder zu bearbeiten, anstatt in Libyen Arbeit zu suchen. Insgesamt sind die Zahlen aber noch auf einem hohen Niveau, wie Schätzungen der Vereinten Nationen zeigen. Ein Anschlag auf einen Militärposten in Nord-Niger durch eine mit Bazoum verbündete Miliz sorgte Anfang Mai dafür, dass der wöchentliche Konvoi ausfiel – sehr zum Missfallen der Menschen in Agadez, wo Tausende von Menschen, von Fahrern bis hin zu Vermietern von Wagen und Lebensmittelhändlern, vom Transport der Migranten leben. Nur ein Beispiel: Die bereits erwähnte Gruppe von Frauen aus Sierra Leone mit ihren Kindern – insgesamt etwa 80 Menschen – haben ein Anwesen für umgerechnet 91 Euro pro Monat angemietet. Das ist ein gutes Geschäft für Vermieter: Das Durchschnittseinkommen in Niger beträgt pro Monat etwa 45 Euro.
Die Konvois werden von der nigrischen Armee eskortiert – offiziell zum Schutz der Fahrzeuge. Doch es gibt es auch Anschuldigungen, dass Soldaten von Fahrern und Migranten zusätzlich zu den offiziellen Gebühren und Steuern von 23 Euro nochmals knapp 10 Euro extra verlangen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Soldaten und Polizisten an den Konvois und Grenzübertritten mitverdienen.
Während die EU die Kooperationen mit Küstenstaaten ausbaut, schwindet der westliche Einfluss in Niger und der Sahelregion. Nachdem sich Mali ab Anfang 2022 Söldner der Wagner-Gruppe in Land geholt hatte, wurde Niger zum wichtigsten Partner Europas für die Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit und Entwicklung sowie bei der Bekämpfung von Armutsmigration in der Sahelregion – bis zu einem Militärputsch im Juli 2023. Seit dem Putsch hat sich Niger aber stark an Russland angenähert – überall in der Hautstadt Niamey und selbst teilweise in Agadez sind russische Fahnen zu sehen. Das Afrika-Korps, das aus der ehemaligen Wagner-Söldner-Truppe hervorgegangen ist, ist nach Mali und Burkina Faso jetzt auch in Niger tätig. Die Beziehungen mit Europa sind demgegenüber eher durchwachsen. Nigers Militärs nutzen die weit verbreitete anti-französische Haltung, um Zuspruch in der Bevölkerung zu bekommen. Aus Solidarität mit Frankreich, der ehemaligen Kolonialmacht, haben die EU-Länder lange gezögert, mit der neuen Führung ins Gespräch zu kommen. Die EU reagierte auf den nicht-demokratischen Machtwechsel in Niger außerdem deutlich schärfer als bei den Putschen in den Nachbarländern Burkina Faso und Mali, was sicher auch damit zusammenhängt, dass die neue Führung den gestürzten Präsidenten Mohamed Bazoum seit dem Putsch gefangen hält und diesem Staatsverrat vorwirft. Die Entwicklungszusammenarbeit mit der EU wurde mit Ausnahme der humanitären Hilfe weitgehend suspendiert. Deutschland hat immer noch keinen akkreditierten Botschafter in Niamey. Die Akkreditierung wurde auf deutscher Seite in die Wege geleitet, war aber Stand Anfang Mai noch nicht finalisiert.
Italien, das besonders wegen wachsender Wirtschaftsmigration besorgt ist, hat erste Schritte unternommen, um seine bilateralen Kooperationen wieder aufzunehmen, einschließlich eines Trainings von Spezialtruppen, das bereits unter Bazoum begonnen hat. Italien hat auch immer noch – wie Deutschland und die Vereinigten Staaten – ein kleines Truppenkontingent in Niamey stationiert. Der Rest der EU ist zurückhaltender. Die Zukunft des deutschen Kontingents ist unklar. Ursprünglich diente der Standort Niamey der Versorgung und dann Abwicklung des deutschen Kontingents in Gao in Nord-Mali im Rahmen der zum Ende vergangenen Jahres eingestellten UN-Blauhelmmission MINUSMA. Da Niger die militärische Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten mit ihrer Drohnenbasis in Agadez beendet hat, ist es schwer vorstellbar, dass die Bundeswehr im Land bleibt. Es wird nach dem Abzug der Amerikaner in Agadez nicht lange dauern, bis die ersten Russen dort einziehen – sie haben sich bereits in Niamey in einer Kaserne am Flughafen direkt neben der US-Armee niedergelassen.
Im Rahmen der bilateralen Zusammenarbeit will Deutschland weiterhin ein militärisches Krankenhaus in Niamey finanzieren, in der Entwicklungszusammenarbeit werden bislang aber nur bereits bestehende Projekte weitergeführt. In Niger kritisieren viele Menschen, dass sich die EU und Deutschland bei den Putschen in Mali, Burkina Faso und dem Tschad nicht so streng verhalten haben. Im Tschad beteiligte sich die EU über einen UN-Fonds mit 3,8 Millionen EUR an den umstrittenen Präsidentschaftswahlen, die Militärmachthaber Mahamat Déby nach amtlichen Angaben gewann.[2] Sein größter Konkurrent, Ministerpräsident Succès Masra, hat sich dagegen selbst zum Wahlsieger erklärt und ist vor das Verfassungsgericht gezogen, um das Votum anzufechten – seine Erfolgsaussichten sind jedoch sehr gering. Es gab bei den Wahlen ohnehin wenig Transparenz, da die von der EU trainierten Wahlbeobachter nicht von der Wahlbehörde zugelassen wurden. Im Falle Tschads befürworteten EU-Mitglieder wie Frankreich und Ungarn eine finanzielle Unterstützung der Wahlen trotz demokratischer Defizite auch mit der Befürchtung, dass das fragile Sahelland wie schon Mali oder Niger destabilisiert und von Russland umgarnt werden könnte. Etwas mehr Realpolitik wäre auch in Niger angebracht. Nigers Entscheidung, die Libyen-Landroute zu öffnen, kam, nachdem Moskau mit Niamey ein Abkommen zur Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit abgeschlossen hatte. Die neuen Machthaber fühlten sich durch die Kooperation mit Moskau genügend gestärkt, um sich von Europa abzuwenden.
[1] Siehe die Frontex-Datenbank. Migratory Map (europa.eu)
[2] Die EU bestätigte die Summe von 3.8 Millionen Euro in einem Tweet am 6.5.2024.
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